Keine „Fiktion“ der Kenntnis (OLG Dresden, Beschluss vom 23.04.2009 – WVerg 11/08)
Es ist eine Frage, deren Antwort über Erfolg oder Misserfolg eines Nachprüfungsverfahren entscheidet: Hat der Bieter den Vergaberechtsverstoß rechtzeitig gerügt?
Nach dem Wortlaut des § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB scheint die Antwort einfach: Danach muss der Bieter einen Verstoß gegen Vergabevorschriften “unverzüglich” nach Kenntniserlangung rügen. Dem Gesetz kann jedoch nicht entnommen werden, wann genau beim Bieter Kenntnis vorliegt. Hier bleibt es bei der vagen Definition, wonach es auf die Tatsachen- und laienhafte Rechtskenntnis des Bieters ankomme. Statt notwendiger Klarheit ruft diese Definition jedoch nur eine Vielzahl von mehr oder weniger praxisgerechten Entscheidungen hervor. Aus der Fülle der Entscheidungen ist der Beschluss des OLG Dresden vom 23.04.2009 positiv hervorzuheben.
Das OLG Dresden (Beschluss vom 23.04.2009 – WVerg 11/08) musste klären, ob eine „Fiktion“ besteht, wonach mit bloßer Kenntnis der Ausschreibungsunterlagen zugleich Kenntnis aller darin enthaltener möglicher Vergaberechtsverstöße vorliegt (so zumindest 1. VK Sachsen, Beschluss vom 25.09.2008 – 1/SVK/045-08).
Der erkennende Senat erteilt dieser Rechtsauffassung eine klare Absage. Zwar beginne die Rügeobliegenheit eines Bieters grundsätzlich mit der ersten Kenntnisnahme der Verdingungsunterlagen durch einen fachkundigen Mitarbeiter. Dieser Grundsatz gelte aber nur dann, wenn die Kenntnis der Verdingungsunterlagen ohne weiteres den Rückschluss auf einen Vergabefehler nahe legt. Bedarf es aufgrund der Komplexität des Verfahrens der Einholung externen Rechtsrats, hat der Bieter erst dann Kenntnis vom Vergaberechtsverstoß, wenn er auf diesen hingewiesen wurde.
Für die Praxis gilt: Die pauschale Behauptung, allein mit Kenntnis der Verdingungsunterlagen läge auch eine Kenntnis etwaiger Vergaberechtsverstöße vor, ist nicht länger geeignet, einen Nachprüfungsantrag zurückzuweisen. Andererseits verschiebt die Einholung von Rechtsrat den Zeitpunkt der Kenntniserlangung nicht automatisch nach hinten. Vielmehr muss es sich – wie im Fall des OLG Dresden – um ein komplexes Verfahren handeln, dass die Einholung externen Rechtsrats erforderlich macht.
Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier.