IT-Auftragsvergaben in Hessen: Vom Vergaberecht zum Politikum im Landtag – Interview mit Prof. Dr. Heiko Höfler

Höfler In Hessen wurden seit 2008 fünf IT-Großaufträge des Landes oberhalb des EU-Schwellenwerts nicht öffentlich ausgeschrieben. Inzwischen ist die Sache über die vergaberechtliche Bewertung hinaus zum Politikum geworden, da personelle Verquickungen zur Hessen-CDU ins Auge fallen – ein gefundenes Fressen für die Opposition. Bisheriger Höhepunkt: Eine Anhörung im Hessischen Landtag, eine weitere folgt. Vergabeblog sprach mit Prof. Dr. Heiko Höfler, Orrick Hölters & Elsing, Frankfurt a.M., zum Stand der Dinge.

Vergabeblog: Schaut man sich die fünf streitigen Vergaben in Hessen an, so kann man den Eindruck gewinnen, IT-Großaufträge seien immer so speziell, dass man sich eine öffentliche Ausschreibung gleich sparen kann. Wie sieht das vergaberechtlich genau aus, welche Ausnahmetatbestände kämen vorliegend in Betracht?

Prof. Dr. Heiko Höfler: Weder die Tatsache, dass es sich um IT-Beraterverträge handelt, noch der Umstand, dass zumindest einer der in Rede stehenden Aufträge mit rund 18 Mio. Euro ein bemerkenswert hohes Auftragsvolumen hat, rechtfertigen ohne weiteres eine vergaberechtliche Ausnahmequalifikation dieser Auftragsvergaben. Viele Praxisbeispiele, wie zum Beispiel die in München jüngst durchgeführten Vergabeverfahren für die Beauftragung von IT-Beratern im Großprojekt „MIT KonkreT“ zeigen, dass selbst besonders komplexe technische Aufgabenstellungen durch qualifizierte Spezialisten begleitet werden können, die sich zuvor mit ihren Angeboten wettbewerblich in einem Vergabeverfahren durchsetzen mussten.

Ausnahmetatbestände, die ein Absehen von einer Ausschreibung rechtfertigen können, wären zum Beispiel eine Fallgestaltung, in der ein Auftrag wegen seiner technischen Besonderheiten nur von einem bestimmten Unternehmen durchgeführt werden kann. Auch wenn die Beratung den Charakter einer F & E-Leistung hat, kann eine Ausnahme von der Ausschreibungspflicht greifen. Dasselbe kann im Umfeld militärischer Projekte oder von Sicherheitstechnologie gelten.

Vergabeblog: Aktuell hat ja das OLG Karlsruhe entschieden (Beschluss vom 21.07.2010 – 15 Verg 6/10, Beitrag im Vergabeblog hier), dass ein Verhandlungsverfahren ohne öffentliche Bekanntmachung nur dann zulässig ist, wenn europaweit nur ein einziges Unternehmen technisch imstande ist bzw. sein könnte, den Auftrag auszuführen. Also extrem dünnes Eis, oder?

Prof. Dr. Heiko Höfler: Das ist ein sehr enges Verständnis von der oben erwähnten Ausnahmeregelung in § 3 Abs. 4 lit c) VOL/A EG. Aber: der EuGH wird nicht müde zu betonen, dass Bestimmungen über Ausnahmen vom Anwendungsbereich des Vergaberechts sehr restriktiv interpretiert werden müssen. Wenn das OLG diese Vorgabe befolgt, ist dagegen europarechtlich nichts einzuwenden. Gerade die hessischen Fälle zeigen, wie groß die Versuchung ist, die Ausnahmeregeln allzu großzügig zu handhaben.

Vergabeblog: In einem der Fälle, „Digitalfunk BOS Hessen”, wurde ein Auftrag in Höhe von 120.000 EUR an die Valora Consulting vergeben, um anschließend ohne öffentliche Ausschreibung an dieses Unternehmen einen Folgeauftrag in Höhe von 480.000 EUR zu vergeben. Die Begründung des Landes laut Presseberichten: Der Auftrag könne „nur von einem bestimmten Bieter ausgeführt werden, und zwar aus technischen Gründen“. Ist das nicht die Zementierung eines Hoflieferantensystems?

Prof. Dr. Heiko Höfler: Vergleichbare Aufträge sind in anderen Bundesländern nach Medienberichten an qualifizierte andere Anbieter vergeben worden. Wenn das zutrifft, überzeugt die Begründung der Landesregierung nicht und die Direktvergabe war eindeutig rechtswidrig.

Vergabeblog: In einem sechsten Fall wurde eine öffentliche Ausschreibung des Landes in Höhe von über 18 Millionen EUR aufgehoben, und anschließend durch ein beschleunigtes, nicht offenes Verfahren ersetzt. Den Zuschlag erhielt die Götzfried AG. Wie begründet dies die hessische Landesregierung und wie werten Sie dies vergaberechtlich?

Prof. Dr. Heiko Höfler: Die Gründe für die Aufhebung sind mir nicht bekannt. Auffallend ist indes, dass das beauftragte Unternehmen nicht selbst IT-Beratung anbietet, sondern Personalvermittlung. Auffallend ist ferner, dass die Terminierung in dem zweiten Vergabeverfahren außergewöhnlich kurz war, so dass die Vermutung nahe liegt, dass in dem der Beauftragung voran gegangenen Vergabeverfahren faktisch kein oder nur ein sehr geringer Wettbewerbsdruck zustande gekommen ist. Eine Rechtfertigung dieser Vorgehensweise durch den Beschleunigungserlass – so die Landesregierung – ist abwegig, wenn man sich die lange Laufzeit des Rahmenvertrags ansieht, der hier auf bis zu vier Jahre ausgedehnt werden kann, denn der Beschleunigungserlass zielte unter dem Eindruck der Finanzkrise darauf ab, möglichst schnell viel Auftragsvolumen zu vergeben. Dies ist bei dem hier erteilten Auftrag ersichtlich nicht der Fall.

Vergabeblog: Im Kommunalrecht, also auf unterster staatlicher Ebene, gilt bei Entscheidungen der Gemeinderats der Grundsatz der „Vermeidung des bösen Scheins“ einer evtl. befangenen Kommunalverwaltung. m.a.W.: Auf die tatsächliche Befangenheit kommt es gar nicht an. Wie werten Sie die Tatsache, dass Herr Dr. Christian Wagner, der Fraktionsvorsitzende der hessischen CDU, im Aufsichtsrat der Götzfried AG sitzt. Schließlich ist es ein Auftrag des Landes, und dieses ist CDU regiert.

Prof. Dr. Heiko Höfler: Vergaberechtlich ist dieser Sachverhalt als unkritisch zu bewerten, weil weder eine Wettbewerbsverzerrung noch ein Interessenkonflikt vorliegt. Ich gebe Ihnen aber Recht, wenn Sie andeuten wollen, dass dann, wenn personelle Verflechtungen dieser Art bestehen, seitens des Auftraggebers besonders großer Wert auf eine gut dokumentierte wettbewerbliche, transparente und diskriminierungsfreie Vergabe gelegt werden sollte. Dies sollte im Übrigen schon deshalb im Interesse des Auftraggebers liegen, weil er sich hier im politischen Raum bewegt.

Vergabeblog: Welche Konsequenzen können diese Fälle für die Protagonisten auf Seite der beteiligten Unternehmen und auf Seite der beteiligten Auftraggeber im schlimmsten Fall haben?

Prof. Dr. Heiko Höfler: Auftragsvergaben, die unter Missachtung bestehender Ausschreibungspflichten erfolgt sind, können grundsätzlich auch nachträglich noch von interessierten Unternehmen im Wege von Nachprüfungsverfahren oder Beschwerden zur EU-Kommission beanstandet werden.

Der Umstand, dass zu den von Ihnen angesprochenen Beauftragungen keine Nachprüfungsverfahren durchgeführt worden sind, wird von der Landesregierung als Beleg für die Rechtmäßigkeit ihres Handelns herangezogen. Das überzeugt mich nicht. Man wird mangels europaweiter Bekanntmachung der Auftragsvergaben davon ausgehen dürfen, dass potenzielle Wettbewerber von den erteilten Aufträgen bestenfalls erst nach den Abschlüssen dieser Verträge Kenntnis erlangt haben. In der Regel ist die Motivation eines Unternehmens, gegen eine bereits erfolgte Auftragsvergabe vorzugehen, nicht besonders ausgeprägt. Auch wenn dies formal möglich wäre, vermittelt ein bereits vollzogener Vertragsabschluss zunächst den Eindruck vollendeter Tatsachen. In den vorliegenden Fällen spricht Vieles dafür, dass es dem Hessischen Innenministerium nicht unrecht ist, wenn sich ein derartiger Eindruck aufdrängt. Dennoch besteht hier weiterhin die nicht zu unterschätzende Gefahr einer Intervention durch die EU-Kommission aus vergaberechtlichen oder beihilfenrechtlichen Gründen. Beides kann dazu führen, dass die Verträge gekündigt bzw. nicht weiter erfüllt werden dürfen.

Vielen Dank für das Interview!

Prof. Dr. Heiko Höfler ist Partner von Orrick Hölters & Elsing in Frankfurt am Main. Er ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht und Recht der Public Private Partnerships an der Bauhaus-Universität, Weimar, und Autor zahlreicher Fachpublikationen zum Vergaberecht.