„Ich kann nicht erkennen, warum die Vergabe öffentlicher Aufträge außerhalb der Wirtschaftskrise nicht auch schneller und einfacher gehen soll.“ – Interview mit Dr. Georg Nüßlein, MdB, wirtschafts- und energiepolitischer Sprecher der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag und Berichterstatter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Vergaberecht

nuessleinDas Jahr 2010 und mit ihm die vergaberechtlichen Erleichterungen des KP II neigen sich – zumindest bisher – dem Ende entgegen, für 2011 steht die umstrittene Einführung eines effektiven Rechtschutzes im Unterschwellenbereich und die Umsetzung der EG-Richtlinie für Vergaben in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit an. Vergabeblog sprach darüber mit Dr. Georg Nüßlein, MdB, über die letzte Reform, ein einheitliches Vergabegesetzbuch und die Berücksichtigung des Mittelstands und schaute dabei auch über den vergaberechtlichen Tellerrand. Das Interview führte Marco Junk.

Herr Dr. Nüßlein, das Jahr neigt sich dem Ende, und mit ihm die vergaberechtlichen Erleichterungen des Konjunkturpaktes II. Einige Bundesländer haben diese bereits verlängert, und auch der Bund denkt laut darüber nach. Was denken Sie?

Man sollte sich noch einmal in Erinnerung rufen, was die Motivation für diese Erleichterungen waren: Beschleunigung und Vereinfachung. Ich kann nicht erkennen, warum die Vergabe öffentlicher Aufträge außerhalb der Wirtschaftskrise nicht auch schneller und einfacher gehen soll.

Das Vergaberecht ist zersplittert in GWB, VGV, VOL, VOB, VOF und SektVO. Aktuell steht die Umsetzung der EG-Richtlinie für Vergaben in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit an, weshalb abermals die Frage aufgeworfen wird, das sog. Kaskadenprinzip und mit ihm die Verdingungsauschüsse abzuschaffen. Zu Recht?

Die letzte Reform des Vergaberechts fand aus guten Gründen im bestehenden System statt. Daran sollten wir festhalten. Ich kann nicht erkennen, warum man wegen einer EU-Richtlinie hiervon abweichen sollte. Überhaupt: Unsere Freunde bei der EU sollten sich besser um die Dinge kümmern, die wirklich wichtig sind, statt immer mehr Regelungen zu erlassen, die nur zu mehr Bürokratie führen. Ich glaube, die Euro-Baustelle ist groß genug…

Und das viel beschworene „einheitliche Vergabegesetzbuch“?

Vereinheitlichungstendenzen führen am Schluss immer dazu, dass bestehende und bewährte Strukturen aufgelöst werden. Das führt vor allem zu Rechtsunsicherheiten. Nur um der Vereinheitlichung willen stehe ich einem solchen Unterfangen daher sehr skeptisch gegenüber. Aus diesem Grund habe ich mich seinerzeit auch gegen das Umweltgesetzbuch gewehrt. Den praktischen Nutzen einer bloßen Vereinheitlichung kann ich nicht erkennen.

Aber auch auf nationaler Ebene gibt es erneut Reformanstrengungen. So soll ausweislich des Koalitionsvertrags erstmals ein wirksamer Rechtschutz im Unterschwellenbereich geschaffen werden. Brauchen wir den denn?

Offen gestanden bin ich kein Freund davon. Deshalb habe ich auch im Rahmen der letzten Reform des Vergaberechts meinen Beitrag geleistet, einen solchen Rechtschutz zu verhindern. Nur: Durch die Rechtsprechung, insbesondere auch die Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 13.01.2010, wurde eine Lage geschaffen, die es den Bietern ermöglicht, sich gegen rechtswidrige Vergabeentscheidungen gerichtlich zur Wehr setzen zu können. Wir sollten dieser Rechtsprechung zur Seite springen, um endlich eine Klarstellung zu bewirken. Das wird Thema der nächsten Monate sein.

Diskutiert werden dazu ja im Wesentlichen vier Varianten, von einem rein verwaltungsinternen Verfahren bis hin zu einer 1:1-Umsetzung des Rechtschutzes im Oberschwellenbereich. Was ist Ihre Empfehlung an das federführende BMWi?

Im Grunde läuft es doch auf die Frage hinaus, ob man die Trennung zwischen Ober- und Unterschwellenbereich beseitigen will oder nicht. Dabei gilt es meiner Ansicht nach vor allem, unnötige Bürokratie zu vermeiden, weshalb ich auch gegen eine 1:1-Umsetzung des Rechtschutzes aus dem Oberschwellenbereich bin. Was wir brauchen, ist eine schlanke Lösung. Mir geht es in erster Linie darum, überhaupt ein Verfahren zu etablieren, das endlich Rechtsicherheit schafft und dass man so nicht länger auf die Rechtsprechung angewiesen ist. Den Referentenentwurf des BMWi erwarten wir für Februar. Darauf werden wir aufbauen.

Braucht es mehr Transparenz bei der Auftragsvergabe im Unterschwellenbereich, z.B. eine Vorabinformation bei beschränkten Ausschreibungen und freihändigen Vergaben?

Wenn der Rechtschutz unterhalb der Schwellenwerte kommt, dann müssen wir hierüber nicht mehr reden.

Themenwechsel: Das öffentliche Auftragsvolumen in Bund, Ländern und Gemeinden beläuft sich auf rund 260 Mrd. Euro jährlich. Sollte die öffentliche Hand diese Marktmacht nutzen, um damit auch politisch steuernd einzuwirken?

Sie sprechen die sog. „vergabefremden Aspekte“ an. Hier schlagen in der Tat zwei Herzen in meiner Brust. Der öffentliche Auftraggeber unterliegt nicht nur den Haushaltszwängen, sondern auch der politischen Kontrolle. Gleichwohl mag ein allzu ausufernder Gebrauch dieser vergabefremden Aspekte aber dazu führen, dass der Haushalt am Ende nicht mehr funktioniert. Ich denke, wir müssen darauf achten, das Vergaberecht nicht zu überfrachten, aber es ist sicher nicht falsch, ein paar dieser Aspekte zu berücksichtigen. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur an die damalige, unhaltbare Situation der Entlohnung des Fahrdienstes des Deutschen Bundstages erinnern. Warum soll der öffentliche Auftraggeber nicht ebenso wie ein Privater mit seinem Einkauf bestimmte Forderungen verbinden können, zumal er sich regelmäßig dafür rechtfertigen muss, wenn eine Vergabe schiefgeht?

Der neue § 97 III GWB sieht eine gegenüber der alten Norm verstärkte Berücksichtigung mittelständischer Interessen bei der öffentlichen Auftragsvergabe vor. Auch wenn eine belastbare Untersuchung nicht vorliegt, dem Vernehmen nach hat sich dadurch in der Praxis nicht viel geändert.

Wir werden uns gegen keine Formulierung wehren, die diesen Punkt noch straffer fasst, solange dadurch keine neuen Rechtsunsicherheiten geschaffen werden. Einige der Aspekte, die gegen die Reform des § 97 IV GWB ins Feld geführt worden sind, waren jedenfalls an den Haaren herbeigezogen. Diese überzogenen Befürchtungen sind nicht eingetroffen.

eVergabe: Die Technik ist längst den Kinderschuhen entwachsen, gleichwohl bleibt der flächendeckende Erfolg aus. Sollte man eine Verpflichtung zur elektronischen Ausschreibung und Angebotsabgabe einführen?

Dazu habe ich eine klare Meinung: Öffentliche Ausschreibungen können auf elektronischem Wege abgewickelt werden. Sie müssen es aber nicht.

Ein Blick in die Zukunft: Was ist aus Ihrer Sicht der dringliche Reformbedarf am Vergaberecht?

Nach der aktuellen Reform muss vor allem wieder eine ganze Weile Ruhe sein. Es kann nicht in jeder Legislaturperiode zwei Reformen geben. Auch nicht eine. Sonst füllt das Vergaberecht am Ende nicht nur dicke Bücher, sondern ganze Bibliotheken. Wir machen ohnehin viel zu viele Gesetze im Deutschen Bundestag.

Zum Schluss ein Blick über den Tellerrand. Der Vergabeblog ist ein reines Onlinemedium. Sie sind ja auch Beauftragter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für IT-, Kommunikations- und Postpolitik. Was bewegt Sie aktuell jenseits des Vergaberechts?

Der Verlauf des Breitbandausbaus in Deutschland bereitet mir Sorgen. Ein schneller Internetanschluss bietet die Chance, die Lage derer zu verbessern, die weniger gut an unsere großen Infrastrukturen wie Straßenverkehr und Bahn angeschlossen sind. Schaue ich mir die aktuelle Entwicklung beim Breitbandausbau an, so wird aber das bestehende Stadt-Land-Gefälle noch mehr zementiert. Statt – unbestritten – teurer, aber dafür leistungsfähiger Glasfaseranbindungen werden kostengünstige Funklösungen installiert. Diese stellen jedoch hinsichtlich der Bandbreite der übertragbaren Daten nur eine Minimallösung und damit Übergangslösung dar. Damit vergeben wir uns die Chance, diese Gemeinden ans Hochgeschwindigkeitsinternet anzuschließen. Wäre heute die Wiedervereinigung, wir würden die DDR nicht ans Telefonnetz anschließen, sondern über mobile Lösungen. Natürlich rentiert sich ein flächendeckender Glasfaserausbau für die Telekommunikationsunternehmen nicht. Ebenso hätte damals die Erschließung der Haushalte mit Wasser und Strom auf diesem Weg nicht funktioniert. Infrastrukturanbindung ausschließlich im Wettbewerb funktioniert nun einmal nicht komplett.

Vielen Dank für das Interview!

Dr. Georg Nüßlein, geboren am 10. April 1969, ist seit 2002 direkt gewählter Abgeordneter des Deutschen Bundestages für den Wahlkreis Neu-Ulm. 1993 schloss Nüßlein sein Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Augsburg ab, wo er 1998 zum Thema Konzernrecht zum Doktor der Rechtswissenschaften promoviert wurde. Nüßlein ist seit 2008 wirtschafts- und energiepolitischer Sprecher der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag und seit 2009 Beauftragter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für IT-, Kommunikations- und Postpolitik. Seit 2010 ist er Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zum nachhaltigen Wirtschaften in der Sozialen Marktwirtschaft“. Der schwäbische Abgeordnete ist ordentliches Mitglied im Ausschuss für Umwelt und Reaktorsicherheit sowie im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Hier ist er u.a. Berichterstatter seiner Fraktion für die Themen Vergaberecht, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, Energiepolitik, Regionalpolitik und Telekommunikationspolitik.