Neues aus Sachsen: Rügepflicht auch bei De-Facto Vergaben? (VK Sachsen, Beschluss v. 04.04.2011 – 1/SVK/002-11)
Ein Gastbeitrag von RA Mark Münch, LL.M.
Die 1. Vergabekammer des Freistaates Sachsen (VK) hat mit Beschluss vom 04.04.2011 (1/SVK/002-11) eine interessante Entscheidung zur De-Facto Vergabe vorgelegt. Das OLG München hatte schon klargestellt, dass die Fristen aus § 101 b GWB nicht der Hemmung zugänglich sind, da es sich um formelle Ausschlussfristen handelt.
Die VK hat nun entschieden, dass die Ausschlussfrist des § 101 b GWB, hier Bekanntgabe des Vertragsschlusses im Amtsblatt der Europäischen Union, nur dann zu laufen beginnt, wenn der Auftraggeber auch formell richtig und vollständig den Vertragsschluss bekannt gemacht hat. Zudem entschied sie, dass unter gewissen Umständen entgegen der neuen Regelung des § 107 Abs. 3 Satz 2 GWB auch bei De-Facto Vergaben eine Rügepflicht besteht.
Der Fall
Schauplatz der Entscheidung ist wieder einmal der Sozialbereich, hier tobt ein harter Kampf um die Verteilung der begrenzten öffentlichen Mittel. Gegenstand der Entscheidung sind Integrationsfachdienste. Diese beraten und unterstützen behinderte und schwerbehinderte Menschen bei der (Wieder)Eingliederung ins Arbeitsleben und im täglichen Arbeitsleben. Auch nicht-behinderte Menschen in oder nach einer akuten Krise werden von den Integrationsfachdiensten betreut.
Der Auftraggeber hatte diese Leistungen zum wiederholten Male ohne ein vorheriges Vergabeverfahren vergeben und war durch die VK bereits dazu verpflichtet worden, zukünftige Integrationsleistungen auszuschreiben. War der Antragssteller des vorliegenden Verfahrens doch schon einmal leer ausgegangen.
Dennoch hat der Auftraggeber erneut – diesmal eine Interimsvergabe mit begrenzter Laufzeit – ohne vorherige Ausschreibung vergeben. Um sicher zu gehen hat er dabei die Zuschlagsentscheidung im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht, in der Hoffnung, diesmal alles richtig gemacht zu haben.
Exkurs: De-Facto Vergabe und § 101 b GWB
Die De-Facto Vergabe ist in dem neuen § 101 b des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) erstmals gesetzlich geregelt. Danach sind öffentliche Aufträge, die der öffentliche Auftraggeber unmittelbar an ein Unternehmen erteilt, ohne andere Unternehmen am Vergabeverfahren zu beteiligen und ohne dass dies aufgrund Gesetzes gestattet ist, – schwebend – unwirksam.
Der Schwebzustand entfällt, wenn das nicht-berücksichtigte Unternehmen innerhalb von 30 Tagen nach positiver Kenntnis der De-Facto Vergabe kein Nachprüfungsverfahren einleitet oder seit dem Vertragsschluss mehr als sechs Monate ins Land gegangen sind.
Der Schwebezustand kann aber auch entfallen, wenn der vergebende öffentliche Auftraggeber seinen Vertragsschluss im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht hat. 30 Tage danach wird der Vertrag ebenfalls wirksam, ohne dass es einer Kenntnisnahme der nicht-berücksichtigen Wettbewerber bedarf.
Die Entscheidung der VK Sachsen
Im vorliegenden Fall wurde das Nachprüfungsverfahren erst nach Ablauf von beinahe drei Monaten nach der Vergabebekanntmachung im Amtsblatt der EU eingeleitet.
Die VK hielt den Nachprüfungsantrag dennoch für zulässig! Grund: Die Bekanntmachung war nach Ansicht der Kammer fehlerhaft. Es war in der Rubrik „Zuständige Stelle für Nachprüfungsverfahren“ nicht die zuständige 1. Vergabekammer des Freistaates Sachsen, sondern das Sozialgericht in Leipzig eingetragen.
Das Sozialgericht in Leipzig ist aber nicht für Vergabenachprüfungsverfahren zuständig. Diese Aufgabe fällt allein den Vergabekammern zu. Dies dürfte spätestens seit Erlass des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der GKV (GKV-OrgWG) klargestellt sein (Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 58 Jahrgang 2008, 2426). Ein Rechtsmittel an das Sozialgericht wäre demnach ins Leere gegangen, selbst wenn es fristgerecht eingelegt worden wäre.
Die VK wertete die fehlerhafte Bekanntmachung in dem Amtsblatt der Europäischen Union so, als sei gar keine Bekanntmachung erfolgt. Die 30-Tagesfrist habe mit der Bekanntmachung demnach gar nicht zu laufen begonnen. Das „späte“ Rechtsmittel war somit zulässig gewesen.
Ausnahmeweise: Rügepflicht auch bei De-Facto Vergaben
Bemerkenswert ist die Entscheidung auch aus einem anderen Grund: So hat die VK entgegen der neuen Regelung des § 107 Abs. 3 Satz 2 GWB angenommen, dass unter gewissen Umständen auch bei De-Facto Vergaben eine Rügepflicht gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber besteht. So führt sie hierzu aus:
„Bei De-facto Vergaben, bei denen also der öffentliche Auftraggeber kein Vergabeverfahren durchführt, entfällt die Rügepflicht zwangsläufig. Führt der Auftraggeber kein Vergabeverfahren durch und ist der Unternehmer über diesen Umstand seit langem fortlaufend unterrichtet, ist es dem Antragssteller ohne weiteres möglich und zumutbar, dies gegenüber der Vergabestelle geltend zu machen. In diesem Fällen besteht auch ein Vertrauensverhältnis zwischen Vergabestelle und Unternehmen. In diesem Ausnahmefall besteht auch bei einer „de-facto Vergabe“ eine Rügepflicht.“
Dass die VK ein Vertrauensverhältnis zwischen der Vergabestelle und dem Interessenten abstellt, weil die Vergabestelle wegen notorischer Vergabeverstöße bekannt ist, ist schwer nach zu vollziehen. Bessere Leitlinien bietet hier das von der Vergabekammer zitierte OLG Naumburg (Beschluss vom 02.03.2006, 1 Verg 1/06):
„In den von der Rechtsprechung entschiedenen Fällen der ausnahmsweise Entbehrlichkeit einer Rüge im konkreten Einzelfall ging es jeweils um Konstellationen, in denen ein wirksamer Vertragsschluss unmittelbar bevorstand, so dass die Forderung nach einer vorherigen Rüge de facto auf eine Versagung von effektivem Rechtsschutz hinausgelaufen wäre, und in denen zudem eine vorherige Rüge angesichts des entschlossenen Vorverhaltens der Vergabestelle als in der Sache zumindest nutzlose Förmelei hätte empfunden werden können.“
Das OLG Naumburg führt das Argument des effektiven Rechtsschutzes ins Feld. Ob das OLG auch nach neuem Recht so entschieden hätte, wissen wir nicht.
Und trotzdem: Interimsvergabe hier zulässig
Trotzdem der Antragsteller rechtzeitig gerügt hatte, ist er hier unterlegen: Nach § 101 b GWB sind öffentliche Aufträge, die der öffentliche Auftraggeber unmittelbar an ein Unternehmen erteilt, ohne andere Unternehmen am Vergabeverfahren zu beteiligen, nur dann unwirksam, wenn das Gesetz die Durchführung eines Vergabeverfahrens ohne Beteiligung anderer Unternehmer nicht vorsieht. Die VK hat hier jedoch eine zulässige Interimsvergabe im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb gesehen.
Eine Interimsvergabe durch ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb kann nur unter sehr engen Voraussetzungen für Leistungen der Daseinsvorsorge möglich sein. Wird doch von dem vergaberechtlichen Vorrang des offenen Verfahrens abgewichen.
Die Interimsvergabe war hier als Fall der zwingenden Dringlichkeit nach § 3 EG Abs. 4 lit. d EG VOL/A ausnahmsweise zulässig, weil das Vorhalten von Integrationsleistungen die Durchführung einer gesetzlichen Aufgabe seitens des öffentlichen Auftraggebers ist, die stets und ohne Unterbrechungen vorhanden sein muss. Zudem war dem öffentlichen Auftraggeber die Durchführung einer Ausschreibung im offenen Verfahren bis zum Ablauf des Vertrages des bisherigen Auftragnehmers nicht möglich.
Praxistipp
Die Bekanntmachung eines Vertragsschlusses im Amtsblatt der Europäischen Union ist sowohl von Auftraggeber als auch von Auftragnehmerseite sorgfältig zu prüfen. Gerade bei einer De-Facto Vergabe ergeben sich für einen nicht-berücksichtigen Unternehmer aufgrund der vorliegenden Entscheidung auch Möglichkeiten, ein Nachprüfungsverfahren anzustrengen, wenn seit der Veröffentlichung der Zuschlagsentscheidung bereits mehr als 30 Tage vergangen sind. Dennoch sollten Auftragnehmer in jedem Fall bei Kenntnisnahme einer De-Facto Vergabe schnell handeln, um Nachteile zu vermeiden und sicherheitshalber vor Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens zusätzlich eine Rüge aussprechen.
Ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb für eine Interimsvergabe durchzuführen ist mit hohen Risiken seitens des Auftraggebers verbunden. Er sollte hierzu sehr gute Gründe haben und diese auch sorgfältig in einem Vergabevermerk dokumentieren. Diese Dokumentation sollte unbedingt auch eine klare Begründung für die Dauer des Interimsbetriebes enthalten. Grundsätzlich sollte der Interimsbetrieb nicht länger als 12 Monate dauern und danach eine förmliche Ausschreibung durchgeführt werden. Hier sollte auch berücksichtigt werden, dass Mängel in der Dokumentation der Wahl des Vergabeverfahrens zu einer Aufhebung der Vergabeentscheidung führen können.
Der Autor Mark Münch, LL.M, ist Rechtsanwalt bei der IT-Recht-Kanzlei, München, und befasst sich schwerpunktmäßig mit dem IT-bezogenen Vergaberecht. Zuvor war er Mitarbeiter bei Sun Microsystems/ Oracle und konnte so zahlreiche Erfahrungen bei der Anwendung des Vergaberechts auf Auftragnehmerseite sammeln.
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