Das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse in der VOL/A 2009 – Totgesagte leben länger
§ 7 Abs. 1 VOL/A 2009; § 8 Abs. 1 EG VOL/A 2009; § 7 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A 2009
Anders als in der VOB/A 2009 ist das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse in der VOL/A 2009 nicht mehr enthalten. Hieraus wird teilweise der Schluss gezogen, das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse existiere im Anwendungsbereich der VOL/A nicht mehr. Stimmt das? Ein Beitrag zum Verbleib eines Grundpfeilers der Leistungsbeschreibung.
In seinem Vergabeblog-Beitrag vom 20.07.2010 ging Dr. Christian-David Wagner der Frage nach, was unter der Geltung der VOL/A 2009 mit dem Verbot ungewöhnlicher Wagnisse geschehen ist. Ein Jahr nach Inkrafttreten der VOL/A 2009 lohnt es sich, die Frage erneut zu stellen. Dabei fällt die Antwort keineswegs eindeutig aus.
„Dreiklang“ der Leistungsbeschreibung
Zur Erinnerung: Die VOL/A 2006 enthielt in den Bestimmungen über die Leistungsbeschreibung das allgemeine Verbot der Aufbürdung ungewöhnlicher Wagnisse. § 8 Nr. 1 Abs. 3 VOL/A 2006 bestimmte hierzu:
„Dem Auftragnehmer soll kein ungewöhnliches Wagnis aufgebürdet werden für Umstände und Ereignisse, auf die er keinen Einfluss hat und deren Einwirkung auf die Preise und Fristen er nicht im Voraus schätzen kann.“
Die Bestimmung entspringt dem Gebot eines fairen Wettbewerbs, der Gleichbehandlung und der Transparenz. Sinn von § 8 Nr. 1 Abs. 3 VOL/A 2006 ist es, zu verhindern, dass öffentliche Auftraggeber als Nachfrager die Vertragsbedingungen diktieren und den häufig spezialisierten, auf diese Aufträge angewiesenen Bieterinteressenten, unternehmerische Risiken jedweder Art im Wege eines „Diktates“ überbürden können (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23.03.2005, VII-Verg 77/04; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 29.09.2004, 1 Verg 6/04). Die Vorschrift soll die Nachfragemacht öffentlicher Auftraggeber beschränken.
Das Verbot des § 8 Nr. 1 Abs. 3 VOL/A 2006 soll Bieter jedoch ausdrücklich nur vor ungewöhnlichen Wagnissen schützen. Hierzu stellt das OLG Düsseldorf in seinem Beschluss vom 19.10.2006 (VII-Verg 39/06) klar:
„Die Verlagerung eines Wagnisses, das auf Umständen und Ereignissen beruht, auf die der Auftragnehmer einen Einfluss hat, und dessen Einwirkung auf die Preise er schätzen kann, ist vergaberechtlich nicht unzulässig. Dies folgt schon aus dem Wortlaut der Norm, wonach dem Auftragnehmer Schätzungen zuzumuten sind.“
Zusammen mit dem Gebot einer eindeutigen und erschöpfenden Leistungsbeschreibung und der Pflicht sicherzustellen, dass miteinander vergleichbare Angebote eingehen (§ 8 Nr. 1 Abs. 1 VOL/A 2006) bildete das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse den sogenannten „Dreiklang“ jeder Leistungsbeschreibung. Dessen drei Dimensionen können allerdings nicht immer klar voneinander getrennt werden und gehen teilweise ineinander über. Wegen seiner Bedeutung für einen fairen Wettbewerb und seiner Bieter schützenden Funktion wird das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse allgemein als von Auftraggebern zwingend zu beachtend verstanden.
Ersatzlose Streichung in der VOL/A 2009
Umso mehr verwundert, dass das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse in der VOL/A 2009 nicht mehr aufzufinden ist, und zwar weder im 1. Abschnitt noch in den EG-Bestimmungen des 2. Abschnitts. Zugleich hielt die VOB/A 2009 in ihrem § 7 Abs. 1 Nr. 3 unverändert an dem Verbot fest. Um ein Versehen kann es sich also kaum handeln.
In der Tat wird deshalb verschiedentlich die Meinung vertreten, dass das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse in der VOL/A 2009 nicht mehr gilt. Einen anderen Schluss lasse die bewusste Streichung nicht zu. Ohnehin sei das Verbot erheblich von den zivilrechtlichen Grundsätzen der Risikoverteilung in den Grenzen der Vertragsfreiheit abgewichen. Der Wegfall des Verbots sei auch nicht unbillig, da die Unternehmen entsprechende Risikozuschläge einrechnen könnten. Schließlich stehe es ihnen frei, an einem Vergabeverfahren (nicht) teilzunehmen (Vgl. Prieß, in: Kulartz/Marx/Portz/Prieß, VOL/A, 2. Aufl. 2011, § 8 EG, Rdn. 37 ff.).
Streichung = Wegfall?
Trotz der Streichung des Verbots ungewöhnlicher Wagnisse aus der VOL/A 2009 sprechen jedoch die beachtlicheren Gründe dafür, dass dieses nicht auch weggefallen ist. Denn der Gesetzgeber und der Deutsche Vergabe- und Vertragsausschuss für Lieferungen und Dienstleistungen (DVAL) wollten zum einen mit der Streichung die VOL/A „entrümpeln“ und die Überregulierung abbauen. Gestrichen werden sollten alle Normen, deren Geltung sich schon zweifelsfrei aus anderen Normen und Grundsätzen ergibt.
Genau dies trifft auf das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse zu: Dieses soll nämlich verhindern, dass die Bieter zahlreiche Risiken in die Angebote einpreisen und somit nur überteuerte Angebote eingehen. Die bewusste Inkaufnahme überteuerter Angebote wäre mit den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der Haushaltsführung gemäß §§ 7, 34 Abs. 2 S. 1 BHO und § 6 Abs. 1 HGrG unvereinbar. Folgt das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse aber bereits aus Haushaltsgrundsätzen, ist eine nochmalige Regelung in der VOL/A verzichtbar.
Zum anderen sind Bieter unter Geltung der VOL/A 2009 nicht weniger schutzwürdig. Die „vergaberechtliche Billigkeitskontrolle“ des § 8 Nr. 1 Abs. 3 VOL/A 2006 ist damit unverändert notwendig. Denn die allgemeinen zivilrechtlichen Schranken der Vertragsfreiheit, insbesondere die §§ 134, 138, 242, 305 ff. BGB, erfassen die zahlreichen möglichen Konstellationen unterhalb der Rechtswidrigkeitsschwelle nur zum Teil. Darüber hinaus ist zu beachten, dass der Staat meistens einer der größten, in einigen Bereichen des Wirtschaftslebens gar der einzige Nachfrager von Leistungen ist. Deshalb sind Bieter der Bestimmungsmacht öffentlicher Auftraggeber hier ganz besonders ausgesetzt.
VK Bund: Verbot ungewöhnlicher Wagnisse gilt mittelbar fort
Schließlich bleibt das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse auch deshalb unter der VOL/A 2009 zu beachten, da es untrennbar mit dem Gebot einer eindeutigen und erschöpfenden Leistungsbeschreibung und mit dem Gebot, die Abgabe miteinander vergleichbarer Angebote sicherzustellen (§ 8 Nr. 1 Abs. 1 VOL/A 2006 = § 8 Abs. 1 VOL/A bzw. § 8 Abs. 1 EG 2009) verbunden ist. Auch hieraus folgt, dass eine ausdrückliche Regelung des Verbots ungewöhnlicher Wagnisse entbehrlich ist.
Denn eine Leistungsbeschreibung, die ein ungewöhnliches Wagnis enthält, wird in der Regel auch nicht eindeutig und erschöpfend beschrieben sein, da wesentliche Parameter für eine ordnungsgemäße kaufmännische und belastbare Kalkulation ungeklärt sind. Zugleich werden regelmäßig auch keine miteinander vergleichbaren Angebote eingehen. Die Erfahrungen aus der Praxis zeigen nämlich, dass Bieter bei dem Versuch, ungewöhnliche Wagnisse in ihrer Angebotskalkulation abzubilden, meistens zu erheblich voneinander abweichenden Angebotspreisen kommen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse in der VOL/A 2009 nicht mehr unmittelbar gilt, wirkt es deshalb jedenfalls mittelbar fort.
Während das OLG Düsseldorf die Frage der Geltung des Verbots ungewöhnlicher Wagnisse in der VOL/A 2009 bisher noch nicht entschieden hat (zuletzt offen gelassen im Beschluss vom 17.01.2011, VII-Verg 3/11), haben die Vergabekammern des Bundes bereits Stellung bezogen und sich deutlich für eine zumindest mittelbare Fortgeltung des Verbots auch unter der VOL/A 2009 ausgesprochen.
In den parallel ergangenen Beschlüssen vom 01.02.2011 (VK 3-126/10 und VK-3 135/10) hatte die 3. VK Bund darüber zu entscheiden, ob es zulässig ist, wenn Hersteller von Arzneimitteln in einem Vergabeverfahren über die künftige Größe der zu kalkulierenden Medikamentenpackungen im Unklaren gelassen werden. Zunächst stellte sie auf die Bedeutung der beiden in der VOL/A 2009 verbliebenen Elemente des „Dreiklangs“ der Leistungsbeschreibung ab, also auf das Gebot einer eindeutigen und erschöpfenden Leistungsbeschreibung und das Gebot, die Voraussetzungen für miteinander vergleichbare Angebote sicherzustellen. Hierzu führt sie aus:
„Bieter haben einen Anspruch darauf, ihre Angebote auf einer gesicherten Kalkulationsgrundlage erstellen zu können. § 8 Abs. 1 VOL/A EG, der eine konkrete Ausprägung des allgemeinen Wettbewerbsgrundsatzes des § 97 Abs. 1 GWB darstellt, macht dies unmissverständlich deutlich. Über die Partikularinteressen des einzelnen Bieters hinaus geht es hier auch um den Schutz eines fairen Wettbewerbs insgesamt, der nur auf der Basis vergleichbarer Angebote gewährleistet ist. Vergleichbare Angebote setzen voraus, dass die Kalkulation eine gesicherte Basis hat; Spekulationen -hier darüber, welche Größe die zu kalkulierende Packung wohl zukünftig haben wird- sind zu vermeiden.“
Bereits aus diesen Ausführungen wird die enge Verknüpfung zwischen den einzelnen Elementen des „Dreiklangs“ der Leistungsbeschreibung deutlich. Das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse sieht sie zwar ebenfalls nicht mehr ausdrücklich in der VOL/A 2009 enthalten an. Die 3. VK Bund stellt jedoch klar:
„Die Ag hätten das Risiko dieser Kalkulationsunsicherheiten nicht auf die Bieter übertragen dürfen … § 8 Nr. 1 Abs. 3 VOL/A 2006, wonach der Auftraggeber als Ausnahme vom Grundsatz der eindeutigen Leistungsbeschreibung in gewissem Umfang ungewöhnliche Wagnisse auf die Bieter übertragen durfte, wenn dieser die Auswirkungen auf Preise etc. schätzen konnte, ist in der neuen VOL/A 2009, nach der sich das vorliegende Verfahren richtet, nicht mehr vorgesehen. Wie aus obigen Ausführungen deutlich wird, wären die vorliegenden Wagnisse im Übrigen auch nach alter Rechtslage ungewöhnlich und ihre Auswirkungen eben gerade nicht schätzbar. Es bleibt somit bei dem Grundsatz, dass der Auftraggeber die Leistung eindeutig und erschöpfend zu beschreiben hat, § 8 Abs. 1 VOL/A EG. Wenn er dies, wie hier die Ag, im Zeitpunkt der Ausschreibung nicht kann, da der Inhalt einer angekündigten, kalkulationserheblichen Regelung noch nicht feststeht, so muss er das damit verbundene Risiko auf sich nehmen.“
In dieselbe Richtung gehen nun auch zwei jüngere, ebenfalls parallel ergangene Entscheidungen der 1. VK Bund vom 24.05.2011 (VK 1-45/11, VK1-48/11). Diese hatte darüber zu entscheiden, ob es zulässig ist, Bietern in einem Rahmenvertrag lediglich eine Mindestabnahme von 60 % der möglichen Gesamtleistungen zu garantieren. Zugleich sollte offen bleiben, wie hoch die Anteile sind, die auf die verschiedenen anzubietenden Dienstleistungen entfallen. Die 1. VK Bund bejahte das Vorliegen ungewöhnlicher Wagnisse. Zur Begründung führte sie aus:
„Zwar enthält § 8 VOL/A-EG … im Gegensatz zu seiner Vorgängervorschrift § 8 VOL/A 2006 keine explizite Regelung mehr, wonach dem Auftragnehmer kein ungewöhnliches Wagnis aufgebürdet werden soll für Umstände, und Ereignisse, auf die er keinen Einfluss hat und deren Einwirkung auf die Preise und Fristen er nicht im Voraus schätzen kann … Da der öffentliche Auftraggeber jedoch weiterhin gemäß § 8 Abs. 1 VOL/A-EG zu einer eindeutigen und erschöpfenden Leistungsbeschreibung verpflichtet ist, die alle Bieter im gleichen Sinne verstehen müssen und daher miteinander vergleichbare Angebote zu erwarten sind, ist weiterhin als vergaberechtswidrig anzusehen, wenn für die Angebotskalkulation den Bietern ungewöhnliche Wagnisse aufgebürdet werden, die zu einer hinreichend unsicheren Kalkulationsgrundlage führen und damit eine Vergleichbarkeit der Angebote nicht mehr gegeben ist. Dabei ist zu beachten, dass § 8 Abs. 1 VOL/A-EG auch eine allgemeine Ausprägung des Wettbewerbsgrundsatzes des § 97 Abs. 1 GWB und des Gleichbehandlungsgebots des § 97 Abs. 2 GWB darstellt und dass es dementsprechend auch um den Schutz eines fairen Wettbewerbs geht, der nur auf Basis vergleichbarer Angebote gewährleistet ist.“
Die 1. VK Bund sieht das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse danach ebenfalls nicht mehr in der VOL/A 2009 enthalten. Sie zieht jedoch, wie die 3. VK Bund, den Schluss, dass das Verbot weiterhin über die verbleibenden Grundsätze des § 8 Abs. 1 EG VOL/A Geltung beansprucht. Beide Vergabekammern stellen die Grundsätze des § 8 Abs. 1 EG VOL/A zudem in den übergeordneten, von Individualinteressen losgelösten Zusammenhang der Grundsätze des fairen Wettbewerbs und der Gleichbehandlung nach § 97 Abs. 1, 2 GWB.
Fazit
Das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse ist in der VOL/A 2009 – anders als noch in der VOL/A 2006 und entgegen der VOB/A 2009 – nicht mehr in der VOL/A 2009 enthalten. Auf den ersten Blick lässt sich hieraus der Schluss ziehen, dass das Verbot nicht nur gestrichen wurde, sonder insgesamt weggefallen ist.
Bei näherer Betrachtung sprechen aber beachtliche Gründe für eine zumindest mittelbare Fortgeltung des Verbots. In diesem Sinne haben bereits 2 Vergabekammern des Bundes entschieden. Keine der insgesamt vier Entscheidungen aus dem Jahr 2011 ist aber bisher allerdings in Rechtskraft erwachsen. Ob das OLG Düsseldorf auf das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse eingeht und in welchem Sinne es die Frage seiner Fortgeltung entscheidet, muss daher abgewartet werden.
Der Autor Dr. Daniel Soudry, LL.M., ist Rechtsanwalt in der Sozietät HEUKING KÜHN LÜER WOJTEK in Düsseldorf. Er berät Auftraggeber und Bieter bei Ausschreibungen und in vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren. Außerdem betreut er Projekte der öffentlichen Hand. Mehr Informationen finden Sie im Autorenverzeichnis.