OLG Düsseldorf: Bloßer Verdacht auf Wettbewerbsverstoß begründet noch keinen Ausschluss (Beschluss v. 13.04.2011 – VII-Verg 4/11)
§ 97 Abs. 1 GWB; §§ 2 Nr. 1 Abs. 1, 17 Abs. 2 S. 2, Abs. 3, 19 Abs. 3 lit. f) EG VOL/A.
Personelle oder rechtliche Verflechtungen zwischen mehreren Bietern eines Vergabeverfahrens begründen eine Vermutung wettbewerbswidriger Absprachen. Erhalten Auftraggeber hiervon Kenntnis, sind sie verpflichtet zu prüfen, ob Wettbewerbsverstöße vorliegen. Die Bieter müssen diese Vermutung widerlegen. Bleibt es bei dem bloßen Verdacht, ist ein Ausschluss vom Verfahren nicht zulässig.
Die Auftraggeber führten ein europaweites offenes Verfahren zum Abschluss von Arzneimittelrabattverträgen mit mehreren Fachlosen durch. Für jedes Los sollten mit drei Unternehmen Rahmenverträge geschlossen werden (sog. „Mehr-Partner-Modell“).
Für manche Lose gaben zwei Bieter Angebote ab, zwischen denen personelle und gesellschaftsrechtliche Verflechtungen bestehen. Die Anteile an beiden Gesellschaften werden von einer gemeinsamen Muttergesellschaft gehalten. Einer der Bieter ist unter derselben Adresse geschäftsansässig wie die Muttergeselschaft. Ein Mitarbeiter ist bei beiden Bietern Prokurist. Ein weiterer Mitarbeiter ist bei einem Bieter Prokurist, bei dem anderen Bieter Geschäftsführer. Die abgegebenen Angebote wurden jedoch von verschiedenen Geschäftsführern bzw. Prokuristen unterzeichnet, die jeweils für nur einen der Bieter tätig sind.
Für zwei Lose sollten mit diesen beiden Bietern und einem dritten Unternehmen die Rahmenverträge geschlossen werden. Dagegen wehrte sich ein Bieter mit einem Nachprüfungsantrag. Er beanstandete, dass schon die Verflechtung der beiden Unternehmen einen Verstoß gegen den Geheimwettbewerb begründe. Ob es tatsächlich zu Absprachen gekommen sei, sei nicht entscheidend. Gerade im „Mehr-Partner-Modell“, bei dem für das jeweilige Los mehrere Auftragnehmer ausgewählt werden, bestünde schließlich eine erhebliche Gefahr unzulässiger Absprachen zwischen verbundenen Unternehmen.
Bloßer Verdacht: Aufklärungspflicht ja, Ausschluss nein!
Dem folgte der Vergabesenat nicht. In seinem Beschluss unterstreicht er zunächst die besondere Bedeutung des Vertraulichkeitsgrundsatzes für einen wirksamen Wettbewerb im Sinne von § 97 Abs. 1 GWB i.V.m. § 2 Abs. 1 S. 1 EG VOL/A. Hierzu führt er aus:
„Wesentliches und unverzichtbares Merkmal einer Auftragsvergabe im Wettbewerb ist die Gewährleistung eines Geheimwettbewerbs zwischen den an der Ausschreibung teilnehmenden Bietern. Nur dann, wenn jeder Bieter die ausgeschriebenen Leistungen in Unkenntnis der Angebote und Angebotsgrundlagen sowie der Angebotskalkulation seiner Mitbewerber anbietet, ist ein echter Bieterwettbewerb um den Zuschlag möglich.“
Zudem erkennt er an, dass personelle und gesellschaftsrechtliche Verflechtungen zwischen mehreren Bietern, wie sie hier vorliegen, eine Vermutung für wettbewerbswidrige Absprachen zwischen diesen Bietern begründen. Unter Berufung auf den EuGH (Urteil vom 19.05.2009, Rs. C-538/07 – „Assitur“) ereachtet es einen automatischen Ausschluss der betroffenen Bieter jedoch für unverhältnismäßig und damit unzulässig, und zwar auch bei Ausschreibung eines „Mehr-Partner-Modells“. Es handelt sich also um eine widerlegbare Vermutung.
Erhalten Auftraggeber Kenntnis von solchen Verflechtungen, haben sie deshalb zunächst eine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts. Diese ist Ausfluss der bieterschützenden Wirkung des Vertraulichkeitsgebots. Denn während das Verbot der Bezuschlagung von Unterkostenangeboten gemäß §§ 19 Abs. 6 S. 2 EG VOL/A nur dann andere Bieter schützt, wenn die Gefahr einer Marktverdrängung oder gar eine Absicht hierzu besteht, liegt bei einer Kenntnis der Angebotsinhalte anderer Bieter stets ein Verstoß gegen den Geheimwettbewerb vor.
Begrenzte Prüfungspflicht von Auftraggebern
Ausnahmsweise bedeutet diese Aufklärungspflicht jedoch nicht, dass Auftraggeber auch die Voraussetzungen von Wettbewerbsverstößen im Einzelnen beweisen müssen. Sie haben regelmäßig keine Kenntnis von den betreffenden Tatsachen. Diese stammen aus dem Verantwortungsbereich der betroffenen Unternehmen. Der Grundsatz, dass der Auftraggeber den zum Angebotsausschluss führenden Sachverhalt sicher festzustellen und gegebenenfalls nachzuweisen hat, kann in dieser Konstellation nicht gelten. Vielmehr, so der Vergabesenat, ist eine Umkehr der Darlegungs- und Beweislast notwendig. Danach müssen die betroffenen Bieter nachweisen, dass Wettbewerbsverstöße ausgeschlossen sind.
Hinsichtlich der erforderlichen Prüfungstiefe gesteht der Vergabesenat Auftraggebern einen weiten Beurteilungsspielraum zu. Insoweit gibt er zu bedenken, dass diese ein legitimes Interesse am zügigen Abschluss von Beschaffungsvorhaben haben. Daher müssen sie nicht sämtlichen in Betracht kommenden Hinweisen nachgehen. Ausreichend ist, dass sie ihre Entscheidung über einen Ausschluss auf konkrete, plausible und nachvollziehbare Darlegungen stützen.
Praxistipp
Bieter sollten also gewarnt sein: Die Entscheidung verschärft die Anforderungen an verbundene Unternehmen erheblich. Das Problem stellt sich auch in Fällen, in denen das Mitglied einer Bietergemeinschaft zusätzlich allein ein Angebot abgeben will (sog. „Parallelangebot“). Zwar ist auch hier ein automatischer Angebotsausschluss nicht zulässig (vgl. EuGH, Urteil vom 23.12.2009, Rs. C-376/08 – „Serrantoni“). Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass keine wettbewerbswidrigen Absprachen bestehen, liegt im Zweifel jedoch bei den betroffenen Bietern.
Ergibt eine Prüfung des Auftraggebers, dass die Verflechtungen einen „wie auch immer gearteten Einfluss“ auf die Angebotsinhalte hatten, genügt dies nach Auffassung des OLG Düsseldorf und des EuGH für den Ausschluss der betroffenen Bieter vom Vergabeverfahren.
Bieter sollten bei entsprechenden Anhaltspunkten deshalb von Beginn an dokumentieren, dass und wie wettbewerbswidrige Absprachen, beispielsweise durch „Chinese Walls“, wirksam ausgeschlossen worden sind.
Haben Bieter bereits in der Angebotsphase Kenntnis davon, dass ein Unternehmen, das mit ihnen verbunden ist, ebenfalls ein Angebot einreicht, trifft sie darüber hinaus die Obliegenheit, bereits mit dem Angebot ihre Vorkehrungen gegen Wettbewerbsverstöße darzulegen. Dasselbe dürfte nun auch bei „Parallelangeboten“ gelten.
Der Autor Dr. Daniel Soudry, LL.M., ist Rechtsanwalt in der Sozietät HEUKING KÜHN LÜER WOJTEK in Düsseldorf. Er berät Auftraggeber und Bieter bei Ausschreibungen und in vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren. Außerdem betreut er Projekte der öffentlichen Hand. Mehr Informationen finden Sie im Autorenverzeichnis.