EuGH zur Abgrenzung von Dienstleistungsaufträgen zu -konzessionen im Verkehrsbereich (ÖPNV) – Urteil v. 10.11.2011, Rs. C-348/10

EntscheidungDer EuGH hat mit Urteil vom 10.11.2011, Rs. C-348/10, erneut zur Abgrenzung von Dienstleistungsaufträgen und -konzessionen Stellung genommen, dieses Mal im Verkehrsbereich. Diese Abgrenzung ist für zahlreiche Wirtschaftsbereiche von zentraler Bedeutung und beschäftigt in zunehmendem Maß auch die Gerichte. Im Verkehrsbereich sind hier aus jüngster Vergangenheit die Entscheidungen des BGH vom 08.02.2011, X ZB 4/10, des OLG Düsseldorf, Beschluss vom 02.03.2011, VII-Verg 48/10, und des OLG München, Beschluss vom 22.06.2011, Verg 6/11, zu nennen, die sich ebenfalls u. a. mit der Abgrenzung von Dienstleistungsaufträgen, auf die die Vergaberichtlinien und die VOL/A anwendbar sind, und Dienstleistungskonzessionen, auf die neben der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 primärrechtliche Grundsätze anwendbar sind, beschäftigt haben. Der EuGH nimmt in der vorgenannten Entscheidung vertiefend und abgrenzend zu den Merkmalen von Dienstleistungskonzessionen im ÖPNV Stellung.

Abgrenzung Dienstleistungsauftrag – Dienstleistungskonzession

Dabei hält der Gerichtshof zunächst fest, dass die Begriffe des Dienstleistungsauftrags und der Dienstleistungskonzession in der Vergabekoordinierungsrichtlinie 2004/18/EG und in der Sektorenrichtlinie 2004/17/EG jeweils gleich zu verstehen sind. Für die Auslegung der Begriffe ist ausschließlich auf das Europarecht abzustellen, d. h. nationale Regelungen sind für diese Unterscheidung nicht von Relevanz. In der Folge geht der EuGH dann auf die zwei wesentlichen Abrenzungsmerkmale ein, unter denen sich eine Dienstleistungskonzession von einem Dienstleistungsauftrag unterscheidet:

Abgrenzungsmerkmal 1: „Gegenleistung“

Nach EuGH liegt der Unterschied zwischen einem Dienstleistungsauftrag und einer Dienstleistungskonzession in der Gegenleistung für die Erbringung der Dienstleistungen. Der Dienstleistungsauftrag umfasst eine Gegenleistung, die vom öffentlichen Auftraggeber unmittelbar an den Dienstleistungserbringer gezahlt wird, während im Fall einer Dienstleistungskonzession die Gegenleistung für die Erbringung der Dienstleistung in dem Recht zur Nutzung der Dienstleistung besteht, sei es ohne oder zzgl. der Zahlung eines Preises.

Dieses Merkmal war in dem vorliegenden Fall – wie im Verkehrsbereich üblich – erfüllt, weil das vom Auftraggeber übertragene Recht zur Nutzung der Dienstleistung auch die Befugnis umfasste, Entgelte von Dritten, d. h. den Fahrgästen, zu erheben. Der Auftragnehmer erhielt also das Entgelt jedenfalls auch durch die die Dienstleistung in Anspruch nehmenden Dritten. Zur Abgrenzung, wann eine Zuzahlung des öffentlichen Auftraggebers derart umfassend ist, dass sie die Übertragung des Rechts zur Nutzung als Gegenleistung quasi verdrängt und die Vertragskonstruktion in einen Dienstleistungsauftrag „kippen“ lässt, musste der EuGH in diesem Fall nicht Stellung nehmen, vgl. hierzu weiterführend die oben angegebene nationale Rechtsprechung.

Abgrenzungsmerkmal 2: „Betriebsrisiko“

Der EuGH stellt weiter fest, dass bei einer Dienstleistungskonzession der Konzessionär das Betriebsrisiko der in Rede stehenden Dienstleistungen übernimmt. Dabei stellt der EuGH nochmals klar, dass dieses Risiko nicht besonders groß sein muss, entscheidend ist vielmehr, dass das tatsächlich vorhandene Risiko vom Auftragnehmer in vollem Umfang oder zumindest in einem wesentlichen Teil übernommen werden muss, m. a. W. nicht in wesentlichem Umfang beim Auftraggeber verbleibt.

Zu diesem Betriebsrisiko können nach EuGH zählen:

– das Risiko, den Unwägbarkeiten des Marktes ausgesetzt zu sein,

– das Risiko der Konkurrenz durch andere Wirtschaftsteilnehmer,

– das Risiko eines Ungleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage,

– das Risiko der Zahlungsunfähigkeit derjenigen, die die Bezahlung der erbrachten Dienstleistungen schulden,

– das Risiko einer nicht vollständigen Deckung der Betriebsausgaben durch die Einnahmen, oder

– das Risiko der Haftung für einen Schaden im Zusammenhang mit einem Fehlverhalten bei der Erbringung der Dienstleistungen.

Es handelt sich hierbei also um die marktbezogenen Risiken, die der Auftragnehmer ganz oder zumindest in einem wesentlichen Teil übernehmen muss, damit von einer Dienstleistungskonzession gesprochen werden kann.

Weil es sich um Risiken handelt, die jedem Vertrag immanent sind, sieht der EuGH folgende unternehmensbezogene Risiken nicht als Betriebsrisiken in diesem Sinne an:

– Risiko einer mangelhaften Betriebsführung des Auftragnehmers, oder

– Risiko von Beurteilungsfehlern (im Sinne von falschen Markteinschätzungen) des Auftragnehmers.

Im konkreten Fall war vorgesehen, dass der Auftraggeber dem Auftragnehmer einen Verlustausgleich gewährt für

– die mit der Leistungserbringung zusammenhängenden unumgänglichen Kosten, die die Einnahmen übersteigen;

– die Kosten, die durch die Anwendung der vom Auftraggeber festgelegten Tarife verursacht werden,

– die Kosten, die dadurch entstehen, dass der Auftraggeber die Herabsetzung des Beförderungspreises für bestimmte Personengruppen vorschreibt, und

– die Kosten, die in der Erfüllung der nach Aufnahme der Dienstleistungen aufgestellten Anforderungen an die Qualität entstanden sind, soweit diese die zuvor aufgestellten Qualitätsanforderungen übersteigen.

Diese Umstände sprechen nach EuGH dafür, dass die Betriebsrisiken nicht ganz oder in einem wesentlichen Teil auf den Auftragnehmer übertragen werden. Während die ersten beiden Unterpunkte der vorstehenden Aufzählung das Betriebsrisiko tatsächlich erheblich reduzieren, ist dies bei den beiden letzten Aufzählungspunkten, die nachträgliche Tarifsenkungen oder Erhöhungen der Qualitätsanforderungen betreffen, nicht offensichtlich. Denn beide Fälle betreffen Situationen, in denen der Auftragnehmer Eingriffe in den geschlossenen Vertrag durch den Auftraggeber hinnehmen muss. Hier wird typischerweise auch eine Kompensation auf Vergütungsseite notwendig sein, weil es sich eben nicht um Marktrisiken, sondern um das Risiko von Auftraggeberentscheidungen handelt, die typischerweise nicht zum Betriebsrisiko zu zählen sind. Dass der EuGH diese Fälle jedoch offensichtlich gleich behandelt, birgt ein nicht unerhebliches Risiko für die Vertragsgestaltung von Dienstleistungskonzessionen.

Schließlich erwähnt der EuGH im Fall auch den festgeschriebenen Gewinn, den der Auftraggeber an den Auftragnehmer zu zahlen hat. Alles zusammengenommen kam der EuGH daher zutreffend zu dem Ergebnis, dass voraussichtlich kein wesentlicher Teil des Betriebsrisikos vom Auftragnehmer zu tragen ist. Die tatsächliche Einordnung anhand des Einzelfalls überlässt der EuGH jedoch dem nationalen Gericht.

Deutsches Vergabenetzwerk

Fazit

Der EuGH beleuchtet anschaulich und anhand von verschiedenen Untergliederungen den Begriff des Betriebsrisikos, dessen Übertragung (zumindest in wesentlichen Teilen) auf den Auftragnehmer notwendige Bedingung für die Annahme einer Dienstleistungskonzession ist. Gleichzeitig beleuchtet der EuGH verschiedene Umstände, die das Betriebsrisiko beim Auftragnehmer reduzieren oder ausschließen, und damit zu einer Einordnung als Dienstleistungsauftrag führen. Besonders erwähnenswert ist dabei, dass der EuGH auch Kompensationen für nachträgliche Vertragsänderungen des Auftraggebers (die ihm offensichtlich als Eingriffsrecht vorbehalten waren) als das Betriebsrisiko reduzierend einstuft. Hier liegt ein nicht unerhebliches Risiko für die Gestaltung von Konzessionsverträgen, bei der die Risikoauswirkungen von Vertragseingriffen entsprechend sorgfältig zu regeln sein werden.

MantlerDer Autor Dr. Mathias Mantler ist Rechtsanwalt der Sozietät Kaufmann Lutz Rechtsanwaltsgesellschaft mbh, München. Daneben unterrichtet er das Vergaberecht im Rahmen von Masterstudiengängen an der TU München sowie der Hochschule Augsburg. Mehr Informationen finden Sie im Autorenverzeichnis.

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