Aktuelle Rechtsprechung zur Rüge im Überblick – Teil 1: Kenntnis und Rechtzeitigkeit
Die Vergabekammern und Vergabesenate der OLGs beschäftigen sich immer wieder mit der Thematik der Rüge. So manches Nachprüfungsverfahren scheiterte bereits an einer Verletzung dieser Bieterobliegenheit. Auch in der jüngeren Vergangenheit sind wieder praxisrelevante Entscheidungen zu diesem vergaberechtlichen Dauerthema ergangen. Diese behandeln dabei das gesamte Spektrum der einschlägigen Rechtsprobleme; von der Frage nach der Rechtzeitigkeit einer Rüge, über die inhaltlichen Anforderungen an ein Rügeschreiben, bis hin zur Rügeverpflichtung im bereits eingeleiteten Nachprüfungsverfahren bzw. unterhalb der Schwellenwerte. Ferner ist eine interessante Entscheidung zu den Anforderungen an ein anwaltliches Rügeschreiben, insbesondere zum Nachweis der anwaltlichen Bevollmächtigung, ergangen. In einer kleinen Serie unseres Autors Dr. Christian Wagner wollen wir Ihnen dies komprimiert vermitteln.
Kenntnis vom Vergaberechtsverstoß
In Nachprüfungsverfahren ist regelmäßig strittig, ob eine Rüge rechtzeitig im Sinne des § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 – 3 GWB erfolgt ist. Wird ein (vermeintlicher) Vergaberechtsverstoß nicht rechtzeitig beanstandet, wird der Bieter im Ergebnis so behandelt, als habe er den Vergaberechtsverstoß akzeptiert. Wie die kürzlich ergangene Entscheidung des OLG München (Beschluss vom 15.03.2012 – Verg 2/12) veranschaulicht, steht zumeist die Frage der Unverzüglichkeit einer Rüge im Mittelpunkt der Auseinandersetzung (Beitrag im Vergabeblog von Mark Münch vom 01.07.2012).
Von gleicher Bedeutung ist jedoch die Frage, wann der Bieter Kenntnis vom Vergaberechtsverstoß erlangt hat. Das OLG Düsseldorf (Beschluss vom 30.06.2011 – Verg 25/11) hatte folgenden Sachverhalt zu beurteilen: Ein Bieter rügte nach Erhalt des Informationsschreibens gemäß § 101a GWB, dass das für den Zuschlag vorgesehene Unternehmen ein Produkt angeboten habe, welches die Anforderungen der Leistungsbeschreibung nicht erfülle. Dem Bestbieter dürfe der Zuschlag daher nicht erteilt werden. Die Vergabestelle half der Rüge nicht ab. Nach Ansicht der Vergabestelle ist die Rüge nicht unverzüglich nach Kenntniserlangung erfolgt. Der Bieter habe von Anfang an gewusst, dass sich das für den Zuschlag vorgesehene Unternehmen am Verfahren beteiligen und dass es das angeblich unzureichende Produkt zum Gegenstand seines Angebots machen würde. Die Rüge hätte daher vor Erhalt des Informationsschreibens ausgesprochen werden müssen.
Dieser Ansicht erteilte das OLG Düsseldorf eine Absage. Danach entsteht die Rügeobliegenheit erst dann, wenn der Auftraggeber (vermeintlich) einen Verstoß gegen das Vergaberecht begangen hat und nicht bereits dann, wenn ein Vergaberechtsverstoß in der Zukunft droht. Ist ein Wettbewerber nach Auffassung des späteren Antragstellers ungeeignet oder entspricht das Angebot des Wettbewerbers nicht der Leistungsbeschreibung, so begeht der öffentliche Auftraggeber erst dann einen Verstoß, wenn er das Angebot des Wettbewerbers trotz der (vermeintlichen) Mängel zur Wertung nach § 19 EG VOL/A positiv zulässt. Von der positiven Wertung des Angebots habe der Bieter jedoch erst nach Zugang des Informationsschreibens Kenntnis erlangt. Die Rüge sei daher nicht verspätet.
Ist ein Vergaberechtsverstoß bereits anhand der Vergabeunterlagen erkennbar, so ist gemäß § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB die Rüge bis spätestens zum Ablauf der in der Bekanntmachung angegebenen Frist zur Angebotsabgabe bzw. Bewerbung auszusprechen. Das OLG Düsseldorf hatte nunmehr Gelegenheit, zur Frage des rechtzeitigen Zugangs eines Rügeschreibens beim öffentlichen Auftraggeber Stellung zu nehmen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 07.12.2011 – Verg 81/11).
Im Fall des OLG Düsseldorf hatte der antragstellende Bieter einen Vergaberechtsverstoß im Angebotsschreiben gerügt. Demzufolge hatte die Vergabestelle auch erst mit der Öffnung des Angebots von der Rüge Kenntnis erlangt. Fraglich war, ob der Vergaberechtsverstoß damit noch gemäß § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB bis zum Ablauf der Angebotsabgabefrist gerügt worden war.
Das OLG Düsseldorf verneint dies. Die Rüge ist als geschäftsähnliche Handlung anzusehen. Für sie gelten daher die Regelungen über den Zugang von Willenserklärungen entsprechend (vgl. § 130 BGB). Der bloße Eingang des Rügeschreibens (hier Angebotsschreibens) in den Bereich des Auftraggebers sei daher nicht ausreichend. Der Auftraggeber müsse zudem die Möglichkeit haben, vom Inhalt des Rügeschreibens Kenntnis zu nehmen. Da die Angebote gemäß § 17 EG Abs. 1 Satz 1 VOL/A erst nach Ablauf der Angebotsabgabefrist geöffnet werden dürfen, konnte der Auftraggeber mithin auch erst nach Ablauf der Frist zur Angebotsabgabe vom Inhalt der Rüge Kenntnis nehmen. Die Rüge war somit nicht mehr rechtzeitig im Sinne des § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB.
Die Entscheidung zeigt, dass die bloße Versendung der Rüge innerhalb der Angebotsabgabefrist nicht ausreichend ist. Es ist vielmehr erforderlich, dass die Rüge innerhalb der entsprechenden Frist dem Auftraggeber zugeht, mithin die Möglichkeit zur Kenntnisnahme vom Inhalt der Rüge besteht. Bei einer Rüge per Telefaxschreiben wird dabei maßgeblich auf die Geschäftszeiten abgestellt (Beitrag des Autors im Vergabeblog vom 18.01.2010)
Der Autor Dr. Christian-David Wagner ist Rechtsanwalt bei der Sozietät Scharlemann Rechtsanwälte in Leipzig und Berlin. Er betreut national und international agierende TK-Unternehmen, IT-Dienstleister, aber auch Bauunternehmen sowie öffentliche Auftraggeber. Mehr informationen finden Sie im Autorenverzeichnis.