Entwurf des Niedersächsischen Tariftreue- und Vergabegesetzes: Der zweite Versuch

EntscheidungNachdem der EuGH im Jahre 2008 die damaligen Tariftreueregelungen des Niedersächsischen Landesvergabegesetzes (LVergabeG) für europarechtswidrig erklärt hatte (Urteil v. 03.04.2008, Rs C-346/06, Rüffert ./. Land Niedersachsen), unternimmt das Land jetzt einen erneuten Versuch, „Verzerrungen im Wettbewerb um öffentliche Aufträge entgegenzuwirken, die durch den Einsatz von Niedriglohnkräften entstehen, und Belastungen für die sozialen Sicherungssysteme zu mildern“ (LT Drs. 17/259). An Vorbildern und Orientierungshilfen für die Gestaltung des Gesetzestextes mangelt es dem Niedersächsischen Gesetzgeber Dank der in den letzten Jahren zu beobachtenden „Renaissance“ der Landesvergabegesetze immerhin nicht.

I. Anwendungsbereich

Anders als nach dem derzeit (noch) gültigen, bis zum 31.12.2013 befristeten LVergabeG wird das neue Tariftreue- und Vergabegesetz Niedersachsens sachlich nicht nur für öffentliche Bauaufträge, sondern auch für die Vergabe von Liefer- und Dienstleistungen ab einem geschätzten Auftragswert von 10.000,- Euro Gültigkeit haben. Für öffentliche Aufträge im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs gelten die Regelungen des Landesgesetzes für alle Dienstleistungsaufträge im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007. In persönlicher Hinsicht soll das Gesetz für alle niedersächsischen öffentlichen Auftraggeber im Sinne von § 98 Nrn. 1 bis 5 GWB gelten.

II. Tariftreue und Mindestlohn

Die Tariftreue- und Mindestlohnbestimmungen aus § 5 des Niedersächsischen Gesetzentwurfs entsprechen denjenigen zahlreicher anderer Landesvergabegesetze: Für Bauleistungen und Dienstleistungen, die vom Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) umfasst werden dürfen öffentliche Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden, die sich bei Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei der Ausführung der Leistungen ein Entgelt zu zahlen, das in Höhe und Modalitäten mindestens den Vorgaben desjenigen Tarifvertrages entspricht, an den das Unternehmen aufgrund des Arbeitnehmerentsendegesetzes gebunden ist. Sofern für bestimmte Bau- und Dienstleistungen Mindestentgelte durch Rechtsverordnung nach § 4 Abs. 3 des Mindestarbeitsbedingungengesetzes (MiArbG) festgesetzt sind, müssen sich die Bieter zur Zahlung dieser Mindestentgelte im Auftragsfalle verpflichten.

Bei der Vergabe von Dienstleistungsaufträgen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 müssen sich die Unternehmen schriftlich bei Angebotsabgabe verpflichten, dass sie ihren Arbeitskräften bei der Ausführung dieser Leistungen mindestens das im Land Niedersachsen in einem einschlägigen und repräsentativen, mit einer tariffähigen Gewerkschaft vereinbarten Tarifvertrag vorgesehene Entgelt nach tarifvertraglich festgelegten Bedingungen zahlen.

Nach § 6 des zukünftigen Niedersächsischen Tariftreue- und Vergabegesetz haben sich die Bieter bei der Vergabe öffentlicher Bau- und Dienstleistungsaufträge zu verpflichten, ihren Beschäftigten bei der Ausführung der Leistung ein Mindeststundenentgelt von 8,50 Euro (brutto) zu zahlen. Dabei gilt das Günstigkeitsprinzip: Liegt der (nach § 5 zu zahlende) Tariflohn bzw. das nach Rechtsverordnung gemäß MiArbG zu zahlende Mindestentgelt oberhalb des Stundesatzes von 8,50 Euro, ist § 6 des Niedersächsischen Tariftreue- und Vergabegesetzes nicht anzuwenden. Besteht hingegen kein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag und keine Rechtsverordnung nach dem MiArbG oder ist der nach § 5 zu zahlende Stundenlohn geringer als der vergabespezifische Mindestlohn von 8,50 Euro, müssen sich die Bieter zur Zahlung des vergabespezifischen Mindestlohnes verpflichten. Um eine Unterlaufung dieser gesetzlichen Tariftreue- und Mindestlohnbestimmungen zu verhindern, werden nach § 14 des Niedersächsischen Tariftreue- und Vergabegesetzes auch Nachunternehmer zur Abgabe der Verpflichtungserklärungen gemäß §§ 5 und 6 verpflichtet.

Den Vorgaben des EuGH aus der Rüffert-Entscheidung meinen die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen hinreichend zu entsprechen, indem das Gesetz mit Ausnahme des ÖPNV darauf verzichtet, am Ort der Leistungserbringung anwendbare Tarifverträge für verbindlich zu erklären. Vielmehr werde Tariftreue in Anknüpfung an das AEntG sowie das MiArbG gefordert (vgl. LT Drs. 17/259, S. 8). Wie die von der VK Düsseldorf (Beschluss v. 09.01.2013, VK-29/2012) geäußerten Zweifel an den (tarifunabhängigen) Mindestlohnregelungen des Tariftreue- und Vergabegesetzes NRW (TVgG) zeigen, ist zur endgültigen Beantwortung der Frage der EU-Rechtskonformität womöglich bald erneut der EuGH berufen.

III. Berücksichtigung sozialer Kriterien

Auf Grundlage von § 97 Abs. 4 Satz 3 GWB formuliert der Entwurf des Niedersächsischen Tariftreue- und Vergabegesetzes in §12 Abs. 2 soziale und gleichstellungspolitische Aspekte, die bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zu berücksichtigen sind. Für die Auftragsauführung dürfen insbesondere folgende betriebsbezogene Anforderungen gestellt werden:

– die Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen,

– die Förderung der Chancengleichheit und Gleichstellung von Frauen und Männern im Beruf,

– die Beschäftigung von Auszubildenden,

– die Beteiligung an tariflichen Umlageverfahren zur Sicherung der beruflichen Erstausbildung oder an Ausbildungsverbünden,

– die Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen.

Zum Schutz von „Kleinunternehmen“ dürfen diese „sozialen“ Anforderungen gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 des Tariftreue- und Vergabegesetzes nur an Unternehmen ab einer Mindestgröße von 20 Beschäftigten (ohne Auszubildende) gestellt werden. Im Oberschwellenbereich ist diese, bestimmte Unternehmen begünstigende, andere benachteiligende Regelung indes an dem höherrangigen Europarecht, insbesondere dem Gleichbehandlungsgebot (Art. 2 RL 2004/18/EG, § 97 Abs. 2 GWB) zu messen. Ob die Regelung zum Kleinunternehmensschutz mit höherrangigem Recht in Einklang zu bringen ist, mag zumindest bezweifelt werden.

IV. Beachtung der ILO-Kernarbeitsnormen

Bei der Ausschreibung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträgen müssen sich die Bieter bei Angebotsabgabe verpflichten und nachweisen, für die Beachtung der ILO-Kernarbeitsnormen bei der Herstellung derjenigen Waren Sorge zu tragen, die Gegenstand des öffentlichen Auftrages sind. Die Verpflichtung gilt auch für etwaige Nachunternehmer.

Deutsches VergabenetzwerkV. Sanktionen

Zahlt ein Auftragnehmer entgegen seiner schriftlichen Erklärung gemäß §§ 5, 6 des Niedersächsischen Tariftreue- und Vergabegesetzes einen zu geringen Lohn an seine Beschäftigten, drohen ihm drastische Konsequenzen. Abgesehen von einer drohenden Vertragsstrafe und Vertragskündigung ist der öffentliche Auftraggeber bei mindestens grob fahrlässigem oder mehrfachem Verstoß verpflichtet, das beauftragte Unternehmen für die Dauer von bis zu drei Jahren von seiner öffentlichen Auftragsvergabe auszuschließen.

VI. Keine Vergabenachprüfung

Anders als beispielsweise die Landesvergabegesetze Thüringens, Sachsens und Sachsen-Anhalts enthält der Entwurf des Niedersächsischen Tariftreue- und Vergabegesetzes keine eigenständigen Regelungen zum Unterschwellenrechtsschutz. Da bislang auch keine Vorinformationspflicht des öffentlichen Auftraggebers vergleichbar mit § 101a GWB im Gesetzestext vorgesehen ist, dürfte es für sich benachteiligt fühlende Bieter auch in Zukunft kaum möglich sein, unterhalb der EU-Schwellen effektiven Rechtsschutz zu erlangen.

VII. Ausblick

Bereits heute zeigt sich, dass das geplante Tariftreue- und Vergabegesetz Niedersachsens sowohl die öffentliche Hand als auch die Bieter vor neue Herausforderungen stellen wird und die öffentlichen Beschaffungsvorgänge deutlich an Komplexität gewinnen werden. Zwar befindet sich das Gesetzgebungsverfahren erst im Anfangsstadium, signifikante Änderungen des Regelungsgehaltes dürften aber in den kommenden Monaten wohl nicht mehr zu erwarten sein, zumal das Gesetz bereits zum 01.01.2014 in Kraft treten soll. Es wird dann abzuwarten bleiben, wie sich das Gesetz in der Praxis bewehren und von der Rechtsprechung beurteilt wird.