Bieter darf Fehler im Leistungsverzeichnis ausnutzen! (OLG München, Beschluss v. 04.04.2013 – Verg 4/13)
Ein Bieter, der Fehler im Leistungsverzeichnis des Auftraggebers erkennt, darf diese für sein Angebot „ausnutzen“. Es besteht für ihn keine generelle Hinweispflicht auf Mängel im Leistungsverzeichnis, es sei denn, diese ergibt sich aus den Bewerbungsbedingungen. (OLG München, Beschluss vom 04.04.2013, Verg 4/13).
§ 17 EG Abs. 1 VOB/A
Leitsätze
1. Das Erkennen und Ausnutzen von Unstimmigkeiten im Leistungsverzeichnis unter entsprechender Berücksichtigung bei der Kalkulation ist zwar ein Wettbewerbsvorteil für den findigen Bieter, doch ist diese Chance jedem Beteiligten gleichermaßen eingeräumt und rechtfertigt nicht den Ausschluss des Bieters wegen Unzuverlässigkeit.
2. Den Bieter trifft keine Verpflichtung, auf Fehler im Leistungsverzeichnis hinzuweisen, soweit sich eine solche Hinweispflicht nicht aus den Bewerbungsbedingungen ergibt.
Sachverhalt
Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte Brückenbauarbeiten europaweit im Offenen Verfahren ausgeschrieben. Bieter A lag mit seinem Angebot an erster Stelle. In zwei Leistungsverzeichnis-Positionen für Beton- und Spannstahl hatte A sehr niedrige Einheitspreise angegeben. Zur Begründung erklärte er, er habe mit diesen Positionen positionsbezogene Nachlässe, sog. „Submissionsabschläge“, eingeräumt.
Die darauf durchgeführte Überprüfung der Mengenvordersätze durch den AG ergab, dass wesentlich weniger Beton- und Spannstahl hätten ausgeschrieben werden müssen. Der AG berechnete anhand eines mittlereren Preisniveaus für den Stahl die beiden Positionen für das Angebot des A neu, mit der Folge, daß das Angebot des A nicht mehr an erster Stelle lag. Der AG hob darauf die Ausschreibung wegen möglicher Wettbewerbsverzerrungen auf. A wehrt sich gegen die Aufhebung.
Die Entscheidung
Das OLG gibt Bieter A Recht. Es liege kein Grund zur Aufhebung der Ausschreibung nach § 17 EG Abs. 1 Nr. 2 bzw. 3 VOB/A vor. In Anbetracht des gesamten Volumens des Auftrags in Höhe von ca. 1 Mio. Euro sei die vom AG aufgrund angenommener Mittelpreise errechnete Preisdifferenz von 44.000 von so untergeordneter Bedeutung, dass sie keinesfalls zu einer Aufhebung der Ausschreibung zwinge.
Auch das Argument des AG, durch das Verhalten des A sei eine Wettbewerbsverzerrung eingetreten, die eine Fortsetzung der Ausschreibung unmöglich mache, sei unzutreffend. Hier wäre eine Korrektur der jetzt vom AG als unzutreffend angesehenen Mengenvordersätze durch die Übersendung entsprechend korrigierter Leistungsverzeichnisse an die bisherigen Bieter ohne weiteres möglich gewesen. Eine Wettbewerbsverzerrung trete nicht ein, da nach einer Korrektur alle bisherigen Bieter ihr Angebot neu hätten kalkulieren können, nicht nur Bieter A.
Rechtliche Würdigung
Zu denken wäre hier auch daran, den Bieter A wegen Unzuverlässigkeit auszuschließen, da er evtl. durch die Angabe der niedrigen EPe eine unlautere Verhaltensweise an den Tag gelegt hätte. Das OLG betont dazu, dass die (Preis-)Kalkulation ureigenste Aufgabe des Bieters sei; es obliege allein seiner Entscheidungsfreiheit, wie hoch er bei einzelnen Positionen seinen Gewinn kalkuliere oder auch bei korrekten Mengensätzen einen Subventionsabschlag vornehmen wolle.
Denn in der Ausnutzung von Fehlern im Leistungsverzeichnis liege nicht generell eine unlautere Verhaltensweise. Es bestehe für den Bieter nach den Bewerbungsbedingungen keine Hinweispflicht auf Mängel im Leistungsverzeichnis. Eine Hinweispflicht ergebe sich nur bei Unklarheiten. Das Leistungsverzeichnis sei hier aber nicht unklar, da es eindeutig die Mengenvordersätze enthalten habe. Auch eine darüberhinausgehende Hinweispflicht des Bieters auf evtl. überhöhte Vordersätze habe nicht bestanden. Denn über die sich aus den Bewerbungsbedingungen ergebende Pflicht, auf Unklarheiten hinzuweisen, könne diese Pflicht nicht hinausgehen. Jene hätten jedoch hier keine solchen Hinweispflichten enthalten.
Die Entscheidung ist deshalb so interessant, da sie feststellt, dass den Bieter – so wie viele Auftraggeber häufig annehmen – keineswegs eine generelle Hinweispflicht auf Mängel des Leistungsverzeichnisses trifft. Eine Grenze ist sicher da zu ziehen, wo dem Bieter durch Ausnutzen des erkannten Fehlers ein sittenwidriges Verhalten unterstellt werden könnte. Im konkreten, vom OLG entschiedenen Fall waren solche Anhaltspunkte aber nicht ersichtlich.