Möglichkeit zur Vor-Ort-Einsichtnahme in Vergabeunterlagen reicht nicht aus (OLG Düsseldorf, 13.11.2013 – VII-Verg 19/13)
Insbesondere bei Vergabeverfahren in sicherheitsrelevanten Bereichen lehnen es öffentliche Auftraggeber zuweilen ab, interessierten Unternehmen bestimmte besonders sensible Dokumente zur Verfügung zu stellen. Stattdessen verweisen sie die Bewerber auf die Möglichkeit einer Einsichtnahme in die Dokumente an ihrem Dienstsitz. Die Gründe liegen auf der Hand: Die unkontrollierte Verbreitung sicherheitsrelevanter Informationen soll verhindert werden, zumal ihre Kenntnis letztlich nur für das bezuschlagte Unternehmen von Bedeutung ist. Dies ist gerade in Zeiten grenzenloser digitaler Verbreitungsmöglichkeiten allzu verständlich. Doch ist es auch vergaberechtlich zulässig? Das OLG Düsseldorf sagt Nein und verlangt, dass Auftraggebern den Bietern stets sämtliche Vergabeunterlagen frühzeitig zur Verfügung stellen. (OLG Düsseldorf vom 13.11.2013 – hier lesen Sie es zuerst!, a.d.R.)
§§ 16 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, 29 Abs. 2 VSVgV
Sachverhalt
Die Bundeswehr schrieb Bewachungsleistungen für eine ihrer Kasernen in einem europaweiten Nichtoffenen Verfahren nach den Bestimmungen der VSVgV aus. Bewerber, deren Eignung festgestellt wurde, erhielten die Vergabeunterlagen. Diese bestanden neben verschiedenen Formblättern insbesondere aus einem Vertrag mit neun Anlagen. Einzelne Klauseln des Vertrages nahmen außerdem auf eine Besondere Wachanweisung Bezug. Dort waren Details zur Auftragsausführung, insbesondere zu den Wachaufgaben und Dienstzeiten geregelt.
Die Besondere Wachanweisung wurde den Bietern unter Verweis auf ihre Geheimhaltungsbedürftigkeit nicht zur Verfügung gestellt. Sämtliche Bieter erhielten jedoch Gelegenheit, diese im Rahmen der obligatorischen Ortsbesichtigung einzusehen.
Nach Erhalt eines abschlägigen Vorabinformationsschreibens bemängelte ein unterlegener Bieter unter anderem, dass die eingegangenen Angebote nicht miteinander vergleichbar sein konnten, da die Besondere Wachanweisung den Bietern nicht vorlag.
Die Entscheidung
Zu Recht, wie der Vergabesenat des OGL Düsseldorf entschied! Öffentliche Auftraggeber müssen Bietern sämtliche auftragsbezogenen Vergabeunterlagen von Beginn an zur Verfügung stellen. Behält ein Auftraggeber Teile der Vergabeunterlagen bei sich, reicht dies für eine ordnungsgemäße Bekanntgabe der Vergabeunterlagen nicht aus, selbst wenn er den Bietern gestattet, diese Unterlagen vor Ort einzusehen.
Rechtliche Würdigung
Das OLG Düsseldorf verweist in seiner Entscheidung zutreffend auf § 16 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 VSVgV, wonach die Vergabeunterlagen aus den Vertragsunterlagen, der Leistungsbeschreibung und den Vertragsbedingungen bestehen. Nehmen einzelne Klauseln des Vertrags auf weitere Anlagen Bezug, die zudem wichtige Details zur Leistungserbringung enthalten, sind diese folglich ebenfalls Teil der Vergabeunterlagen.
Dass die Vergabeunterlagen den Bietern zudem bereits frühzeitig und nicht etwa erst bei einer Ortsbesichtigung bekannt gegeben werden müssen, entnimmt der Vergabesenat § 29 Abs. 2 VSVgV. Hiernach muss bereits die Aufforderung zur Angebotsabgabe die Vergabeunterlagen sowie alle unterstützenden Unterlagen enthalten. Dies ist auch folgerichtig, wenn man bedenkt, an welchem Ziel sich der Umfang der Vergabeunterlagen gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 VSVgV orientiert. Dort heißt es:
Die Vergabeunterlagen umfassen alle Angaben, die erforderlich sind, um eine Entscheidung zur Teilnahme am Vergabeverfahren oder zur Angebotsabgabe zu ermöglichen.
Selbst wenn zwischen Einsichtnahme und Ablauf der Frist für die Angebotsabgabe ein ausreichender Zeitraum liegt, wird man insbesondere bei umfangreichen Dokumenten von Bietern nicht verlangen können, dass sie sich bei der späteren Angebotsbearbeitung an alle Details aus der einmaligen Einsichtnahme in bestimmte Dokumente erinnern können. Dies auch deshalb, da mit der Angebotsbearbeitung häufig mehrere Bearbeiter befasst sind, die nicht immer alle an einer Ortsbesichtigung teilnehmen.
Darüber hinaus ist eine Ortsbesichtigung gerade für weit entfernte Interessenten nutzlos, wenn sie schon aus den Vergabeunterlagen ersehen können, dass eine Teilnahme an dem Vergabeverfahren für sie keinen Sinn macht. Sind Unternehmen aufgrund der Vor-Ort-Einsichtnahme hingegen zu einer Ortsbesichtigung gezwungen, um sämtliche Einzelheiten des Auftrags zu erfahren, kann dies gerade wirtschaftlich schwächere oder ausländische Unternehmen von einer Teilnahme am Vergabeverfahren abhalten (vgl. hierzu auch OLG Düsseldorf, 19.06.2013, VII-Verg 4/13).
Im hier entschiedenen Fall kam erschwerend hinzu, dass die Besondere Wachanweisung Widersprüche zum Vertrag enthielt. Solche Unstimmigkeiten können Bieter jedoch nur frühzeitig erkennen, wenn ihnen sämtliche Vergabeunterlagen zur Verfügung stehen.
Das OLG Düsseldorf erschwert öffentlichen Auftraggebern den Umgang mit sicherheitsrelevanten Dokumenten in laufenden Vergabeverfahren. Eine Vor-Ort-Einsichtnahme reicht für eine ordnungsgemäße Bekanntgabe nicht aus. Vielmehr müssen Bietern sämtliche Vertragsunterlagen dauerhaft vorliegen. Aus ihrer Sicht ist die Entscheidung nachvollziehbar und zu begrüßen, denn sie stärkt die Bieterrechte und die Transparenz von Vergabeverfahren.
Auftraggeber sind mit ihren berechtigten Interessen jedoch nicht schutzlos gestellt: Bei Vergabeverfahren nach der VSVgV ist das Nichtoffene Verfahren die Regel. Hier müssen Auftraggeber überhaupt nur solchen Unternehmen die Vergabeunterlagen zur Verfügung stellen, die die Eignungsprüfung erfolgreich durchlaufen haben und damit die nötige Zuverlässigkeit im Umgang mit sensiblen Daten aufweisen. Zusätzlich können angemessene Mindestanforderungen an die Eignung gestellt werden, § 21 Abs. 2 VSVgV. Einen spezifischen Ausschlussgrund enthält zudem § 24 Abs. 1 Nr. 5 VSVgV für Unternehmen, denen die erforderliche Vertrauenswürdigkeit fehlt. Unternehmen, die ihre Eignung nicht nachweisen können, werden schon nicht zur Abgabe eines Angebots aufgefordert (vgl. § 22 Abs. 3 S. 1 VSVgV).
Betrifft ein Auftrag Verschlusssachen im Sinne von § 99 Abs. 9 GWB i.V.m. 4 SÜG, hält § 7 VSVgV in Abhängigkeit vom Geheimhaltungsgrad weitere Möglichkeiten bereit, um eine unbefugte Weitergabe von Informationen an Dritte zu verhindern. Hierzu zählen etwa die Vorlage eines Sicherheitsbescheids oder die Abgabe qualifizierter Verpflichtungserklärungen. Schließlich ist zu beachten, dass die Sonderregelung des § 110a GWB der Gefahr einer Preisgabe sicherheitsrelevanter Informationen in einem Nachprüfungsverfahren begegnet, indem die Vergabekammer besonderen Vertraulichkeitsregeln unterliegt.
Reicht all dies nicht aus, um den Bedenken des Auftraggebers Rechnung zu tragen, sollte darüber nachgedacht werden, ob der Auftrag nach § 100 Abs. 6 GWB einer Bereichsausnahme vom Vergaberecht unterfällt und deshalb außerhalb eines Vergabeverfahrens unmittelbar an einen geeigneten Bieter vergeben werden darf. Für Aufträge, die nicht verteidigungs- und sicherheitsrelevant sind, kommt zudem eine Ausnahme von der Ausschreibungspflicht nach § 100 Abs. 8 GWB in Betracht. Allerdings sollten Auftraggeber stets im Blick behalten, dass sie für das Vorliegen von Ausnahmetatbeständen beweisbelastet sind und diese restriktiv ausgelegt werden (vgl. etwa EuGH, 10.04.2003, Rs. C-20/01 und C-28/01.).
Die Entscheidung dürfte auch für die Ausschreibung anderer sicherheitsrelevanter Leistungen von Bedeutung sein, etwa, wenn diese an besonders sensiblen Orten wie Kasernen, Zentralbanken oder Kernkraftwerken erbracht werden sollen und entsprechende Sicherheitsanweisungen existieren, die Auftraggeber vor Zuschlagserteilung nicht herausgeben möchten.