Vergaberechtliche Leitlinien zur Durchführung von Ortsbesichtigungen im Rahmen von Vergabeverfahren
Ob es um die Vergabe komplexer Bau- oder Planungsleistungen, die Vergabe von Dienstleistungen in den Bereichen Bewachung, Sicherheit oder Reinigung oder die Vergabe sonstige Leistungen im Bereich Facility Management geht – Ortsbesichtigungen von Bewerbern oder Bietern stehen inzwischen auf der Tagesordnung vieler Vergabeverfahren. Ortsbesichtigungen bergen in mehrfacher Hinsicht vergaberechtliche Fehlerquellen. Öffentliche Auftraggeber sind deshalb gut beraten, mit Vergabeverfahren befassten Mitarbeitern Hilfestellungen zur – vergaberechtskonformen – Durchführung von Vergabeverfahren zu geben. Eine instruktive und sehr hilfreiche Darstellung bietet in diesem Zusammenhang ein aktuelles Rundschreiben Nr. 02/2013 („Durchführung von Ortsbesichtigungen im Rahmen von Vergabeverfahren“) der Freie Hansestadt Bremen. Konkret bestehen für öffentliche Auftraggeber im Zusammenhang mit Ortsbesichtigungen folgende vergaberechtlichen Pflichten:
Im Vorfeld der Einleitung eines Vergabeverfahrens haben öffentliche Auftraggeber zu prüfen, ob eine Besichtigung der örtlichen Gegebenheiten durch die Bieter bzw. Bewerber vergaberechtlich erforderlich ist (hierzu unter Ziff. 1.). Werden Ortsbesichtigungen durchgeführt, so haben die öffentlichen Auftraggeber sicherzustellen, dass hierbei das Vergaberecht – insbesondere die Grundsätze des Wettbewerbs sowie der Gleichbehandlung und der Transparenz – nicht verletzt werden (hierzu unter Ziff. 2.).
1. Notwendigkeit von Ortsbesichtigungen in Vergabeverfahren?
a) Keine Verpflichtung des Auftraggebers, Wettbewerbsvorteile und -nachteile der Bieter auszugleichen
Werden wiederkehrende Aufträge – beispielsweise Reinigungs- oder Sicherheitsleistungen – vergeben, so bemüht sich regelmäßig auch der bisherige Vertragspartner um den Auftrag. Im Vergleich zu den übrigen Bewerbern oder Bietern verfügt der bisherige Vertragspartner aufgrund seiner Erfahrungen im Zusammenhang mit der Auftragsdurchführung regelmäßig über kalkulations-relevante Wissens- bzw. Informationsvorsprünge. Es besteht jedoch keine generelle vergaberechtliche Verpflichtung des Auftraggebers, bestehende Wettbewerbsvorteile und –nachteile potentieller Bieter in den Vergabeunterlagen oder durch Ortsbesichtigungen auszugleichen. (vgl. OLG Bremen, Beschluss vom 09.10.2012 – Verg 1/12; OLG Naumburg, Beschluss vom 05.12.2008, Az.: 1 Verg 9/08; VK Bund, B. v. 11.6.2002 – Az.: VK 1 – 25/02). Auch ist der bisherige Auftraggeber nach einer aktuellen Entscheidung der VK Bund nicht per se als „Projektant“ anzusehen (vgl. VK Bund, Beschluss vom 16.07.2013, Az.: VK 3 – 47/13).
b) Erforderlichkeit von Ortsbesichtigungen aufgrund Verpflichtung zur eindeutigen und erschöpfenden Beschreibung der Leistung
Eine vergaberechtliche Notwendigkeit zur Verpflichtung der Bieter zur Besichtigung der örtlichen Gegebenheiten kann jedoch ausnahmsweise dann bestehen, wenn die zu ausgeschriebene Leistung ohne eine Ortsbesichtigungen nicht eindeutig und erschöpfend beschrieben werden kann. Die öffentlichen Auftraggeber haben für einen ordnungsgemäßen Vergabewettbewerb Sorge zu tragen. Sie haben sicherzustellen, dass alle Bieter bzw. Bewerber die ausgeschriebene Leistung gleichermaßen verstehen und wertbare – d.h. miteinander vergleichbare – Angebote abgeben.
Sofern dies erst nach einer Besichtigung der örtlichen Gegebenheiten sichergestellt ist, erwächst für den öffentlichen Auftraggeber unmittelbar aus dem Wettbewerbsgrundsatz bzw. aus der in den Vergabe- und Vertragsordnungen geregelten Verpflichtung zur eindeutigen und erschöpfenden Beschreibung der zu erbringenden Leistung die Notwendigkeit, die Bieter bzw. Bewerber zur Besichtigung der örtlichen Gegebenheiten zu verpflichten (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 15.03.2011, Az.: Verg W 5/11).
c) Nachweise über Ortsbesichtigungen
Sind Ortsbesichtigungen erforderlich, so ist öffentlichen Auftraggebern zu empfehlen, die Bieter bzw. Bewerber in den Vergabeunterlagen zu einer Besichtigung der örtlichen Gegebenheiten und der Vorlage eines Nachweises hierüber zu verpflichten. Bei dem Nachweis über die Durchführung einer Ortsbegehung handelt es sich nicht um einen Eignungsnachweis, sondern um einen Nachweis der Kenntnis der für die Durchführung des Auftrages maßgeblichen Umstände. Dementsprechend ist auch nicht erforderlich, die Vorlage des Nachweises schon in der Vergabebekanntmachung zu fordern. Gleichwohl bietet sich dies an. Bieter und Bewerber, welche den geforderten Nachweis nicht innerhalb der geforderten Frist vorliegen, hat der öffentliche Auftraggeber vom Vergabeverfahren auszuschließen (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 15.03.2011, Az.: Verg W 5/11 sowie Freie Hansestadt Bremen, Rundschreiben Nr. 02/2013).
d) Ortsbesichtigungen und Fristen im Vergabeverfahren
Auf Auftraggeberseite ist zudem zu beachten, dass die Angebotsfristen bzw. die Fristen zur Einreichung von Teilnahmeanträgen nach § 10 VOB/A sowie § 10 VOL/A bzw. nach § 10 Abs. 1 Ziff. 6 VOB/A EG sowie § 12 Abs. 9 VOL/A EG ausreichend zu bemessen bzw. angemessen zu verlängern sind, wenn zusätzlicher Aufwand für die Durchführung einer Ortsbesichtigung erforderlich wird.
2. Leitlinien für die Durchführung von Ortsbesichtigungen
Werden Ortsbesichtigungen durchgeführt, so muss der Auftraggeber hierbei – wie in allen Phasen der Auftragsvergabe – die allgemeinen vergaberechtlichen Grundsätze des Wettbewerbs, der Gleichbehandlung und der Transparenz einhalten. Konkret bedeutet dies:
a) Ortsbesichtigungen und Schutz des Geheimwettbewerbs
§ 97 Abs. 1 GWB verpflichtet öffentliche Auftraggeber zur Vergabe „im Wettbewerb“. Wesentliches und unverzichtbares Element einer Auftragsvergabe im Wettbewerb ist die Gewährleistung eines Geheimwettbewerbs zwischen den an dem Vergabeverfahren beteiligten Bewerbern und Bietern (vgl. nur OLG Celle, Beschluss vom 13.12.2007, Az.: 13 Verg 10/07; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11.05.2011, Az.: VII-Verg 8/11). Für die Durchführung von Ortsbesichtigungen bedeutet dies, dass diese – zur Vermeidung eines direkten Kontaktes zwischen den Bewerbern bzw. Bietern – in getrennten Termin durchzuführen sind. Mit der Durchführung von „Sammelterminen“ mit allen oder mehreren Bietern verstoßen öffentliche Auftraggeber gegen den Grundsatz des Geheimwettbewerbes gem. § 97 Abs. 1 GWB (vgl. KG, Beschluss vom 23.03.2008, Az.: 2 Verg 18/07; VK Bund, Beschluss vom 05.10.2012, Az.: VK 3 – 114/12). Auch darf den Bewerbern und Bietern nicht offengelegt werden, mit welchen Unternehmen Ortsbesichtigungen durchgeführt werden.
b) Ortsbesichtigungen und Gleichbehandlung
Auch der Gleichbehandlungsgrundsatz gem. § 97 Abs. 2 GWB ist bei der Durchführung von Ortsbesichtigungen zu beachten. Öffentliche Auftraggeber haben deshalb insbesondere darauf zu achten, dass keinem Bieter aus den Besichtigungsterminen heraus einen Informations- oder Wissensvorsprung gegenüber den übrigen Bietern erwächst.
Praktisch bedeutet dies: Ortsbegehungen bzw. -ortsbesichtungen sollten bei allen Bietern bzw. Bewerbern die gleiche Dauer aufweisen. Auch sollten mit allen Bewerbern bzw. Bietern im Rahmen der Ortsbesichtigung dieselben Sachthemen und Fragen erörtert werden. Zudem sollten die Ortsbesichtigungen – wenn möglich – an demselben Tage bzw. aufeinanderfolgenden Tagen durchgeführt werden. Weiter ist unbedingt darauf zu achten, dass den Bewerbern und Bietern nach Durchführung der Ortsbesichtigung genügend Zeit verbleibt, Ihr endgültiges Angebot und insbesondere Ihre Angebotskalkulation an den in der Ortsbesichtigung gewonnenen Informationen auszurichten.
Äußern Bieter bzw. Bewerber in laufenden Vergabeverfahren den Wunsch nach einer Ortsbesichtigung, so ist zu differenzieren: Im Regelfall verstößt ein öffentlicher Auftraggeber nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz gem. § 97 Abs. 2 GWB, wenn er eine Ortsbesichtigung auf entsprechende Nachfrage nur mit einem bzw. einzelnen Bietern bzw. Bewerbern durchführt (KG, Beschluss vom 13.03.2008, Az.: 2 Verg 18/07). Allerdings sind öffentliche Auftraggeber unter Gleichbehandlungsaspekten verpflichtet, Ortsbesichtigungen mit allen hieran interessierten Bietern bzw. Bewerbern durchzuführen. Insoweit kann es sinnvoll sein, die Bieter bzw. Bewerber in den Vergabeunterlagen auf die Möglichkeit einer Ortsbesichtigung hinzuweisen. Sofern ein entsprechender Hinweis fehlt, können Auftraggeber zur Vermeidung des Verdachts eines ungerechtfertigten Wissensvorsprunges die Bieter bzw. Bewerber im Rahmen einer Bieterinformation auf die durchgeführte Ortsbesichtigung und die Möglichkeit hierzu hinweisen. Nur im Ausnahmefall erwächst für öffentliche Auftraggeber bei entsprechenden Nachfragen eine Verpflichtung zur Ermöglichung bzw. Durchführung einer Ortsbesichtigung mit allen Bewerbern bzw. Bietern, nämlich dann, wenn sich aus der Anfrage des Bieters ergibt, dass ein zuschlagsfähiges Angebot erst nach Durchführung einer Ortsbesichtigung abgegeben werden kann (vgl. KG, Beschluss vom 13.03.2008, Az.: 2 Verg 18/07).
c) Ortsbesichtigung und Transparenz
Werden Ortsbesichtigungen durchgeführt, so sollten die wesentlichen Eckpunkte der Ortsbesichtigung (Datum; Dauer; Teilnehmer und Themen) in der Vergabeakte („Protokoll über Ortsbesichtigung“) dokumentiert werden. Ergeben sich aufgrund der Ortsbesichtigungen Konkretisierungen des Auftragsgegenstandes oder – nicht in den Vergabeunterlagen – enthaltene Informationen zur Auftragsausführung, so sind diese Informationen – bspw. im Wege einer Bieterrundschreibens – allen Bietern und Bewerbern zur Verfügung zu stellen.