Das nationale Recht bestimmt die Rechtskraft. Aber nur, wenn die nationalen Regelungen die Geltendmachung von Rechtsverletzungen nicht übermäßig erschweren (EuGH, Urt. v. 10.07.2014 – C-213/13)

Entscheidung-EUGeklagt und in der letzten Instanz gewonnen? Dies ist ein Garant für Rechtsfrieden und auch europarechtlich nicht zu beanstanden. Aber keineswegs selbstverständlich. Ein Beispiel aus Italien zeigt, dass es auch anders laufen kann. Und vielleicht sogar auf Deutschland übertragen werden muss.

In der entscheidenden Instanz vor Gericht gewonnen und doch verloren? Diese Unsicherheit besteht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Vordergründig geht es um eine vergaberechtlich schon mehrfach entschiedene Rechtsfrage. Nämlich ob ein Mietvertrag über ein zu errichtendes Gebäude einen öffentlichen Bauauftrag darstellt. Zwar spannend, weil diese Konstruktion gerne als Umgehungsversuch angewendet wird. Aber selbst der breiten Öffentlichkeit seit der Entscheidung des EuGH zur Köln-Messe nachhaltig bekannt, „Ja“ entscheidet der EuGH auch in diesem Fall, es ist ein öffentlicher Bauauftrag.

Aber eigentlich geht es darum, wer diese Frage entscheiden darf. „Wir“ sagen die Richter am Europäischen Gerichtshof. Selbst wenn die nationalen Gerichte schon abschließend hierüber geurteilt haben.

Baukoordinierungsrichtlinie 93/37/EWG Art. 1 a; Dienstleistungsrichtlinie 92/50/EWG Art. 1 a; Richtlinie 2004/18/EG Art. 1 Abs. 2, Art. 16

Leitsatz

  1. Art. 1 a Richtlinie 93/37/EWG ist dahin auszulegen, dass ein Vertrag, der die Errichtung eines Bauwerks, das den vom Auftraggeber genannten Erfordernissen genügt, zum Hauptgegenstand hat, einen öffentlichen Bauauftrag darstellt und daher nicht unter den Ausschluss in Art. 1 a iii Richtlinie 92/50/EWG fällt, auch wenn er eine Verpflichtung enthält, das betreffende Bauwerk zu vermieten.
  2. Sofern ein nationales Gericht letztinstanzlich entschieden hat, ohne dass der Gerichtshof der Europäischen Union zuvor nach Art. 267 AEUV mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasst wurde, nach den anwendbaren innerstaatlichen Verfahrensvorschriften zur Abänderung seiner Entscheidung befugt ist, muss es seine rechtskräftig gewordene Entscheidung, die zu einer mit den Vorschriften der Union über die Vergabe öffentlicher Aufträge unvereinbaren Situation geführt hat, entweder ergänzen oder rückgängig machen, um einer später vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung dieser Vorschriften Rechnung zu tragen.

Sachverhalt

Die (italienische) Gemeinde veröffentlicht eine „Marktuntersuchung“ über die Errichtung und anschließende Anmietung von Gebäuden für ihre Gerichte. Bestandteil der Veröffentlichung sind detaillierte Anforderungen für die Errichtung des Gerichtskomplexes einschließlich finanzieller Vorgaben. Nach Einreichung der Angebote werden die Haushaltsmittel gekürzt und in einem weiteren Schritt vollständig gestrichen, woraufhin die Kommune die Markterkundung beendet.
Ein Bieter hatte zuvor noch sein erstes Angebot an die gekürzten Haushaltsmittel angepasst und war der Meinung, dass sich das Bauvorhaben im Wege der privaten Finanzierung realisieren lässt. Da die Kommune sein Angebot nicht prüft, erhebt er eine Untätigkeitsklage. Und gewinnt in zwei Instanzen. Die Gerichte verurteilen die Kommune zur Prüfung, ob das Gebäude trotz der veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen realisiert werden kann. Diese Entscheidung wird rechtskräftig.
Im Zuge der folgenden Prüfung wird das Angebot des Bieters wegen fehlender Übereinstimmung mit den Bedingungen der Marktuntersuchung ausgeschlossen. Auch hiergegen klagt der Bieter und erhält abermals Recht.
Nach nochmaliger Prüfung werden seine Angebot wiederum ausgeschlossen. Weil durch den Entfall der Haushaltsmittel die Realisierung nicht mehr möglich sei und weil die private Finanzierung ungeeignet sei.
Auch hiergegen klagt der Bieter und erhält das dritte Mal Recht. Das Gericht erklärt die zweite Ablehnung der Angebote für nichtig, weil sie im Widerspruch zu der rechtskräftig gewordenen ersten Entscheidung steht. Die Kommune wird verpflichtet, das für die Annahme des zweiten Angebotes notwendige Verfahren einzuleiten.
Macht sie aber nicht, woraufhin der Bieter ein viertes Mal klagt.
Das vierte Gericht ist das Gericht, dessen ursprüngliche Entscheidung rechtskräftig geworden ist. Und diesmal möchte es gegen den Bieter entscheiden, weil seine eigene Entscheidung zu einer mit dem Vergaberecht der Europäischen Union unvereinbaren Situation geführt hat, wenn der ausgeschriebene Auftrag nach europäischem Vergaberecht als Bauauftrag und nicht als Mietvertrag einzuordnen ist. Der Abänderung seiner eigenen Entscheidung könnte aber die Rechtskraft entgegenstehen.

Die Entscheidung

Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens bestätigt der EuGH seine bekannte Rechtsprechung. Ausschlaggebend für die Einstufung des Vertrages ist sein Hauptgegenstand, der nicht durch die Höhe der Vergütung oder die Zahlungsmodalitäten bestimmt wird. Hauptgegenstand ist hier die Errichtung eines Gebäudes nach vom öffentlichen Auftraggeber festgelegten Erfordernissen. Damit liegt ein dem Vergaberecht unterfallender Bauauftrag vor.

Aufgrund fehlender unionsrechtlicher Vorschriften ist es Sache der nationalen Gesetzgeber die Modalitäten und Wirkung der Rechtskraft festzulegen, wobei die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität gewahrt sein müssen (Rn. 54).

Der Rechtskraft misst der Gerichtshof einen hohen Stellenwert bei. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können (Rn. 58). Daher gebietet es das Unionsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Situation abgeholfen werden könnte (Rn. 59). Das Unionsrecht verlangt also nicht, dass ein Rechtsprechungsorgan eine in Rechtskraft erwachsene Entscheidung nach einer späteren Auslegung einschlägiger unionsrechtlicher Bestimmung durch den Gerichtshof grundsätzlich rückgängig zu machen hat, um dieser Auslegung Rechnung zu tragen (Rn. 60).

Hiervon lässt der Gerichtshof zwei Ausnahmen zu:

  • Die nationalen Vorschriften zur der Rechtskraft müssen den Grundsätzen der Äquivalenz und Effektivität entsprechen (Rn. 54).
  • Besteht für das nationale Gericht nach den anwendbaren innerstaatlichen Verfahrensvorschriften unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, eine rechtskräftig gewordene Entscheidung rückgängig zu machen, um die Situation mit dem nationalen Recht in Einklang zu bringen, muss daher, sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, nach den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht werden, damit die Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Situation mit der Regelung der Union über die Vergabe öffentlicher Aufträge wiederhergestellt wird (Rn. 62). Dies dient der Gewährleistung  Grundsätze der Gleichbehandlung der Bieter und der Transparenz zum Zweck der Öffnung für einen unverfälschten Wettbewerb in allen Mitgliedstaaten (Rn. 63).

Letzteres war vorliegend der Fall, da das vorlegende italienische Gericht mitgeteilt hat, dass die nationalen Regelungen „Lösungsmöglichkeiten“ von der Rechtskraft zulassen. Nach seiner eigenen Rechtsprechung könne das Gericht unter bestimmten Voraussetzungen den ursprünglichen Tenor einer seiner Entscheidungen mit einer Entscheidung, die diese durchführt, ergänzen, wobei es zu einer „stufenweise eintretenden Rechtskraft“ komme (Rn. 27).

Rechtliche Würdigung

1. Die Entscheidung des Gerichtshofes zur Einordnung des Vertrages als Bauvertrag war vorhersehbar. Sie liegt auf der Linie vorhergehender Entscheidungen, etwa derjenigen zur Kölner Messe, die der Gerichtshof ausdrücklich erwähnt (Rn. 42). Die Unsicherheit der Kommune in dieser Frage kann ihr allerdings nicht vorgeworfen werden, da sie ihre „Marktuntersuchung“ 2003 veröffentlichte und die Entscheidung des Gerichtshofes zu den Kölner Messehallen vom 29.10.2009 stammt.

2. Die Überlegungen des Gerichtshofes zur Rechtskraft und der gegebenenfalls bestehenden Notwendigkeit „mit dem Unionsrecht unvereinbare Situationen“ hinnehmen zu müssen, ist ebenfalls nachvollziehbar.

3. Auch der Hinweis darauf, dass eine Anpassung rechtskräftiger Entscheidungen an die spätere Rechtsprechung des Gerichtshofes erfolgen muss, wenn die nationalen Regelungen eine derartige Anpassungsmöglichkeit enthalten, ist mehr als folgerichtig, auch wenn derartige Regelungen unserem nationalen Vergaberechtsverständnis fremd sind.

4. Sprengkraft hat die Entscheidung des Gerichtshofes aber insoweit, als er die Rechtskraft vom Unionsrecht unvereinbarer Situationen von den Grundsätzen der Äquivalenz und Effektivität abhängig macht. Was hiermit gemeint ist, erläutert der Gerichtshof durch einen Verweis auf sein Urteil Fallimento Olimp, C-2/08, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung [hier finden Sie die Entscheidung] :

„Diese Modalitäten [der Umsetzung des Grundsatzes der Rechtskraft] dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als die, die bei ähnlichen internen Sachverhalten gelten (Grundsatz der Äquivalenz), und nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität)“.

Denn hier öffnet sich ein Beurteilungsspielraum des Gerichtshofes, von dem niemand vorhersagen kann, wann und wie er sich in konkreten Entscheidungen zu Fallgestaltungen aus der Bundesrepublik Deutschland auswirkt.

Praxistipp

1. Eine denkbare Fallgestaltung, wo die Wirkung der Rechtskraft vor dem Grundsatz der Effektivität auf dem Prüfstand steht, drängt sich direkt auf. Nämlich die Annahme, dass erkannte Verstöße gegen das Vergaberecht unverzüglich gerügt werden müssen, wenn ein Nachprüfungsantrag nicht als unzulässig zurückgewiesen werden soll oder wo der Prüfungsgegenstand im Nachprüfungsverfahren auf die unverzüglich gerügten Punkte beschränkt wird.

Jahrelang haben sich Vergabekammern und Gerichte geweigert, die Konsequenzen aus den Urteilen des Gerichtshofes vom Urteil vom 28.01.2010 – Rs. C-406 und 456/08 zu ziehen. Auch nachdem die Kommission ein im Juli 2013 begonnenes informelles Vorverfahren (vor dem formellen Vertragsverletzungsverfahren) Ende März 2014 nur deshalb beendet hat, weil das Bundesministerium für Wirtschaft zugesagt hat, die Vorschrift des § 107 Abs. 3 GWB alsbald zu ändern (vgl. hierzu die Zusammenfassung von Eydner, Vergabeblog.de vom 8. April 2014, Nr. 18763), hat sich nichts geändert.

Die Entscheidungen, bei denen ein Nachprüfungsantrag rechtskräftig zurückgewiesen oder eingegrenzt wurde, weil der Antragsteller nicht unverzüglich gerügt hat, dürften ganze Bibliotheken füllen. In allen Fällen wurde durch die (europarechtswidrige) Berücksichtigung einer unverzüglichen Rüge der Rechtsschutz praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert und damit gegen den Grundsatz der Effektivität verstoßen, welcher die Rechtskraft nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes rechtfertigt.

Natürlich bleibt es ein bloßes Gedankenspiel, dass eine spürbare Anzahl dieser Fälle wieder aufgegriffen werden. Aber im Schadensersatzprozess nach § 124 Abs. 1 GWB wird es in vielen Fällen keine bestandskräftige Entscheidung der Nachprüfungsinstanzen mehr geben.

2. Eine zweite Fallgestaltung ist nicht minder spannend. Das OLG Düsseldorf hat in seinem Beschluss vom 10.März 2014 (VII Verg 11/14) daran erinnert, dass Entscheidungen der Vergabekammern Verwaltungsakte darstellen (§ 114 Abs. 3 Satz 1 GWB). Selbst bestandskräftige Verwaltungsakte können nichtig sein, wenn sie an einem schwerwiegenden und offenkundigen Fehler leiden. Dies hat das OLG Düsseldorf in der genannten Entscheidung bejaht und die Zwangsvollstreckung aus einer bestandskräftigen Entscheidung der Vergabekammer abgelehnt. Die wegen schwerwiegender und offenkundiger Fehler nichtige Entscheidung der Vergabekammer ist ein Anwendungsfall der vom Gerichtshof genannten zweiten Ausnahme, wenn nämlich nach den nationalen Rechtsvorschriften die Möglichkeit besteht, eine rechtskräftige Entscheidung rückgängig zu machen. Mit ein wenig Fantasie sind aber auch Fallgestaltungen unterhalb der Nichtigkeitsschwelle vorstellbar, bei denen die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes (§ 48 VwVfG) oder das Wiederaufgreifen des Verfahrens (§ 51 VwVfG) die nationale Möglichkeit darstellt, um bestandskräftig gewordene Entscheidungen an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes anzupassen. Die sich daraus ergebenden Fragen (z.B. Verhältnis von europarechtlicher Anpassungspflicht zu nationaler Ermessensentscheidung; Verhältnis von verwaltungsrechtlicher Änderungsmöglichkeit zu den speziellen Beschwerde- und Rechtskraftnormen des GWB) werden wohl noch für einige Diskussion sorgen.