EuGH stuft vergabespezifischen Mindestlohn im Ausland als unvereinbar mit der Dienstleistungsfreiheit ein (Urt. v. 18.09.2014, C-549/13)

Entscheidung-EUAm vergangenen Donnerstag hat der EuGH in einer lange erwarteten Entscheidung Stellung zum vergabespezifischen Mindestlohn des Tariftreue- und Vergabegesetzes Nordrhein-Westfalens (TVgG NRW) genommen und dabei die Geltung des vergabespezifischen Mindestlohns im europäischen Ausland eingeschränkt.

Nach Auffassung des Gerichtes verstößt die Vorgabe des § 4 Abs. 3 TVgG NRW von Bietern eine Erklärung zu fordern, in der diese sich verpflichten, ihren Angestellten bei der Durchführung des öffentlichen Auftrags einen Mindeststundenlohn von 8,62 pro Stunde zu zahlen, gegen die Dienstleistungsfreiheit.

§ 4 Abs.3 TVgG NRW, Art. 56 AEUV, Art. 3 Abs.1 RL 96/71/EG

Leitsatz

In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, in der ein Bieter beabsichtigt, einen öffentlichen Auftrag ausschließlich durch Inanspruchnahme von Arbeitnehmern auszuführen, die bei einem Nachunternehmer mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dem der öffentliche Auftraggeber angehört, beschäftigt sind, steht Art. 56 AEUV der Anwendung von Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, dem dieser öffentliche Auftraggeber angehört, entgegen, die diesen Nachunternehmer verpflichten, den genannten Arbeitnehmern ein mit diesen Rechtsvorschriften festgelegtes Mindestentgelt zu zahlen.

Sachverhalt

Der Entscheidung des EuGH vorausgegangen war ein Vorlagebeschluss der Vergabekammer Arnsberg: Die Stadt Dortmund beabsichtigte im Rahmen einer europaweiten Ausschreibung nach der VOL einen Auftrag zur Aktendigitalisierung und konvertierung zu vergeben. Gemäß der Vorgabe des § 4 Abs.3 TVgG NRW forderte sie von allen Bietern eine schriftliche Verpflichtung, dass diese ihren Arbeitnehmern bei der Durchführung des Auftrags ein Mindeststundenentgelt von 8,62 zahlen würden.

Unter den Bietern befand sich auch die Bundesdruckerei, die beabsichtigte, den Auftrag durch einen Nachunternehmer in Polen durchführen zu lassen. Da sie der Meinung war, dass ein Stundenlohn von 8,62 in Polen nicht angemessen sei, weigerte sie sich, die Verpflichtungserklärung abzugeben. Als sie diese Position auch nach einer entsprechenden Nachforderung des öffentlichen Auftraggebers beibehielt, schloss die Stadt Dortmund sie von dem Verfahren aus.

Gegen diesen Ausschluss ging die Bundesdruckerei im Wege eines Nachprüfungsverfahrens vor der VK Arnsberg vor. Unter Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Rüffert (C 346/06) rügte die Bundesdruckerei die Vorgabe des TVgG NRW zum vergabespezifischen Mindestlohn als europarechtswidrig. Sie trug vor, dass eine solche Vorgabe die Dienstleistungsfreiheit nach Art.56 AEUV beschränken würde, wofür es keine Rechtfertigung gäbe.

Die VK Arnsberg setzte daher das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob es zum einen der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV und zum anderen Art.3 Abs.1 der Entsenderichtlinie (96/71/EG) entgegenstünde, von einem Bieter oder seinem Nachunternehmer die Zahlung eines Mindestlohns zu verlangen, wenn dieser Lohn nur für öffentliche, nicht aber private Aufträge gelte und die Leistung des Bieters/Nachunternehmers im Ausland erbracht wird.

Die Entscheidung

Zunächst stellte der EuGH fest, dass die Entsenderichtlinie 96/71/EG vorliegend keine Anwendung findet. Denn die Entsenderichtlinie bezieht sich auf den Fall, dass Arbeitnehmer zur Ausführung eines Auftrags einem Mitgliedsstaat in einen anderen entsandt werden. Dies war hier gerade nicht einschlägig, da nicht etwa die Arbeitnehmer, sondern vielmehr die Arbeit in einen anderen Mitgliedsstaat wechselte.

Allerdings sah der EuGH die streitgegenständliche Vorgabe des TVgG NRW als unvereinbar mit der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV an. Es stelle eine zusätzliche wirtschaftliche Belastung dar, die geeignet sei, die Erbringung im Ausland weniger attraktiv zu machen, wenn ein Bieter gezwungen sei, einen Lohn zahlen, der über dem üblichen Niveau des Ortes der Leistungserbringung liege.

Eine solche Maßnahme könne zwar grundsätzlich durch das Ziel des Arbeitnehmerschutzes gerechtfertigt sein. Dies gelte aber nicht, wenn dieser Schutz ohne besondere Begründung nur einem Teil der Arbeitnehmer zugutekäme. Es gäbe hier keine Anhaltspunkte dafür, dass Arbeitnehmer bei einem öffentlichen Auftrag schutzwürdiger seien als bei der Ausführung eines privaten Auftrages, womit der Rechtfertigungsgrund des Arbeitnehmerschutzes vorliegend nicht anwendbar sei.

Damit sei der Eingriff des § 4 Abs.3 TVgG NRW in die Dienstleistungsfreiheit nicht gerechtfertigt.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung des EuGH schließt sich fast nahtlos an dessen Rechtsprechung in der Sache Rüffert an. Konsequenterweise rekurriert der EuGH daher auch mehrfach auf diese Entscheidung. Er bleibt dabei auch bei seiner etwas kryptischen Formulierung, dass keine Anhaltspunkte für eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern bei öffentlichen und privaten Aufträgen bekannt seien. Ob aus dieser Formulierung abgeleitet werden kann, dass solche Rechtfertigung grundsätzlich nicht bestehen kann oder ob sie bisher nur noch nicht vorgetragen wurde, bleibt hingegen offen.

In jedem Fall stellt die Vorgabe eines zu zahlenden Mindestlohns nach dem EuGH einen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit dar, welcher nicht mit dem Ziel des Arbeitnehmerschutzes gerechtfertigt werden kann, solange dieser ausschließlich für Arbeitnehmer bei öffentlichen Aufträgen gilt.

Auch wenn die Entscheidung des EuGH sich ausweislich des Leitsatzes allein auf Nachunternehmer mit Sitz im Ausland beschränkt, so wird man davon ausgehen können, dass für Bieter mit Sitz im Ausland die Ausführungen des Urteils gleichermaßen gelten.

Besondere Beachtung verdient zudem Rn.34 des Urteils. Dieser könnte dergestalt interpretiert werden, dass eine Mindestlohnvorgabe dann möglicherweise gerechtfertigt sein kann, wenn sie einen Bezug zu den Lebenshaltungskosten des jeweiligen Mitgliedsstaates aufweist. Es bleibt zu hoffen, dass in die Bundesländer dies nicht zum Anlass nehmen, vergabespezifische Mindestlöhne für das europäische Ausland festzulegen.

Die Entscheidung betrifft nicht allein das TVgG NRW, sondern alle Länder, die in ihren Landesvergabegesetzen einen Mindestlohn festgeschrieben haben, der über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinaus Geltung beanspruchen soll. Man kann davon ausgehen, dass der EuGH bei seiner anstehenden Entscheidung zum vergabespezifischen Mindestlohn in Rheinland-Pfalz (Besprechung der Entscheidung von Herrn Dr. Ott hier im Vergabeblog) seiner oben skizzierten Linie folgt. U.U. sind von dieser Entscheidung weitere Präzisierungen zu erwarten.

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Praxistipp

Öffentliche Auftraggeber in Nordrhein-Westfalen, aber auch in allen anderen Bundesländern in denen ein vergabespezifischer Mindestlohn gilt, sind gehalten, diesen sowohl gegenüber Bietern bzw. auch gegenüber Nachunternehmern, die ihren Sitz im Ausland haben, nicht mehr zur Anwendung zu bringen. Es bleibt abzuwarten, wie die einzelnen Landesregierungen auf das Urteil des EuGH reagieren werden.Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang eine einheitliche Linie um der Heterogenität des Vergaberechts nicht noch weiter Vorschub zu leisten.

Für die weiteren Vorgaben der Landestariftreuegesetze (z.B. ILO-Kernarbeitsnormen oder Frauenförderung) hat die Entscheidung zwar keine bindende Wirkung, gleichwohl sollten öffentliche Auftraggeber die Rechtsprechung auch für diese Vorgaben aufmerksam verfolgen. Allerdings werden in diesen Bereichen in den anderen Mitgliedsstaaten keine so deutlichen Unterschiede wie im Lohnbereich zu erwarten sein.

Hinweis der Redaktion: Siehe dazu auch die kontroverse Diskussion im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) hier.