Die Obliegenheit Unverzüglichkeit der Rüge verstößt gegen das Europarecht (VK Südbayern, Beschl. v. 11.08.2014, Z3-3-3194-1-29-06/14)

Entscheidung§ 107 Abs. 3 Satz 1 Nummer 1 GWB ist bis zu einer europarechtskonformen Neuregelung mit einer konkret in Tagen bemessenen Frist nicht anzuwenden.

Seit den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs vom 28.10.2010 wird heftig darüber gestritten, ob auch im deutschen Recht weiterhin an der Obliegenheit des Bieters festgehalten werden kann, erkannte Verstöße gegen das Vergaberecht unverzüglich zu rügen. Nur selten haben Vergabekammern und-Senate in diesem Punkt zu eine eindeutige Entscheidung getroffen. In vielen Fällen wurde das Thema problematisiert, dann aber fanden sich eine Vielzahl von Argumentationen, wonach die Entscheidung hierüber im konkreten Fall dahinstehen bleiben kann. Die Tendenz ging aber doch wohl dahin, dass an dem Erfordernis einer unverzüglichen Rüge festgehalten wurde.

Ganz aktuell wurden jetzt nahezu zeitgleich zwei Vergabekammerentscheidungen veröffentlicht, die diese Rechtsfrage entgegengesetzt beantworten.

GWB § 107 Abs. 3 Nr. 1

Leitsatz

Das Tatbestandsmerkmal der Unverzüglichkeit der Rüge gemäß § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB verstößt gegen europäisches Recht (EuGH, Urteil vom 28.01.2010 – Rs. C-406/08 und Rs. C-456/08; OLG Koblenz, Beschluss vom 16.09.2013 – 1 Verg 5/13) und ist bis zu einer europarechtskonformen Neuregelung mit einer konkret in Tagen bemessenen Frist nicht anzuwenden.

Sachverhalt

Der Auftraggeber schreibt die Oberbodenarbeiten für die Erweiterung seiner berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik europaweit im offenen Verfahren nach VOB/A aus. Zuschlagskriterium ist der niedrigste Preis.

Mit Schreiben vom 23.05 2014 wird einem Bieter gemäß § 101 a GWB mitgeteilt, dass sein Angebot nicht berücksichtigt werden kann, weil es nicht das wirtschaftlichste ist. Der Zuschlag soll auf das Angebot eines Wettbewerbers erfolgen. Der Bieter rügt dieses elf Tage später, am 2. Juni 2014,  als vergaberechtswidrig, weil nach seiner Marktkenntnis der bevorzugte Bieter ein nicht mit der Leistungsbeschreibung übereinstimmendes Angebot abgegeben hat.

Die Entscheidung

Die Vergabekammer ist der Auffassung, dass der Bieter seiner Rügeobliegenheit nachgekommen ist. Die Vergabekammer beruft sich hierbei auf die Entscheidung des europäischen Gerichtshofs vom 28. Januar 2010. Darin hat dieser klargestellt, dass die Mitgliedstaaten eine Fristenregelung schaffen müssen, die hinreichend genau, klar und vorhersehbar ist, damit der einzelne seine Rechte und Pflichten kennen kann. Es ist mit dem Gebot eines effizienten Rechtsschutzes nicht zu vereinbaren, wenn der Zugang zu einem Nachprüfungsverfahren von der Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffes wie unverzüglich durch ein Gericht abhängt. Auch der Hinweis auf die ebenso unbestimmte Formulierung des § 121 BGB ohne schuldhaftes Zögern ändert hieran nichts. Gerade im Vergaberecht hat sich auch in mehr als zehn Jahren keine eindeutige Auslegung durch die Rechtsprechung herauskristallisiert. Auch die mehr als 100 Jahre zurückreichende Entwicklung der Rechtsprechung zum Begriff unverzüglich im Sinne des Paragrafen 121 Abs. 1 BGB ändert nichts daran, dass ein Bewerber oder Bieter weder durch lesen des Gesetzestextes noch durch ihr Studium umfangreiche Rechtsprechung zu Paragraf 121 Abs. 1 BGB feststellen kann, ob er noch heute rügen muss oder ob er bis morgen Zeit hat um seinen Zugang zum Nachprüfungsverfahren zu wahren. Genau das ist aber die Situation, die der europäische Gerichtshof als unvereinbar mit Rechtsmittelrichtlinie angesehen hat.

Rechtliche Würdigung

Mit dankenswerter Klarheit hat die Vergabekammer darauf hingewiesen, dass es sich nach wie vor bei der Unverzüglichkeit um eine in der Praxis nicht geeignete Zugangsschranke zum Nachprüfungsverfahren/gerichtlichen Rechtsschutz handelt. Die Erfahrungen des Unterzeichners bei der Durchführung von Nachprüfungsverfahren bestätigen dies. Nicht selten wurden berechtigte Ansprüche von Bietern aus diesem formalen Grund zurückgewiesen.

In diesem Zusammenhang muss auch daran erinnert werden, dass die Europäische Kommission ebenfalls die Auffassung vertritt, dass Paragraf 107 Abs. 3 Nummer 1 GWB der Rechtsmittelrichtlinie widerspricht. Die Unbestimmtheit der Vorschrift verletzt die Rechtsmittelrichtlinie und die Gebote der Transparenz, Rechtssicherheit und Nichtdiskriminierung. Das vor diesem Hintergrund eingeleitete informelle Vorverfahren wurde von der Kommission nur deswegen beendet und kein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet –  weil das Bundeswirtschaftsministerium in Verhandlungen mit der Kommission zugesagt hat, die Vorschrift des Paragraf 107 Abs. 3 GWB alsbald zu ändern. Die Änderung soll im Zuge der jetzt laufenden Reform des GWB zur Umsetzung der neuen EU-Vergaberichtlinien erfolgen [zusammenfassend hierzu John Richard Eydner, Vergabeblog.de vom 8. April 2014, Nr. 18763]. Viel zu spät nach meiner Auffassung.

Praxistipp

Der nur wenige Tage zuvor, am 6. August 2013, getroffenen Entscheidung der Vergabekammer Brandenburg (VK 11/13) lag ein Sachverhalt zugrunde, bei welchem zwischen erkanntem Vergaberechtsverstoß und Rüge acht Kalendertage lagen. Die Vergabekammer hat trotzdem den Nachprüfungsantrag als unzulässig zurückgewiesen. Begründet hat sie dies damit, dass der Begriff der Unverzüglichkeit im deutschen Recht und aufgrund einer ausgeprägten Rechtsprechung weitgehend konkretisiert worden sei.

Gerade diese beiden entgegengesetzten Entscheidungen in zeitlich engem Zusammenhang zeigen, dass die Problematik weiterhin virulent ist und widersprüchliche Lösungen produziert. Es ist dringend zu wünschen, dass hier durch den Gesetzgeber eine Neuregelung erfolgt; warum er hierfür bis zur Umsetzung der neuen EU-Vergaberichtlinien warten will, ist nicht nachvollziehbar.

Einem Bieter der nicht unverzüglich gerügt hat muss dringend angeraten werden, sich nicht mit einer Zurückweisung seines Nachprüfungsantrages als unzulässig zufrieden zu geben.