Kalkulationsirrtum bei Abgabe eines Angebots gegenüber öffentlichem Auftraggeber (BGH, Urt. v. 11.11.2014 – X ZR 32/14)

EntscheidungDie Zuschlagserteilung auf ein von einem Kalkulationsirrtum beeinflusstes Angebot kann unzulässig sein!

Beruht das Angebot auf einem Kalkulationsirrtum des Bieters, kann die Zuschlagserteilung durch die Vergabestelle unzulässig sein. Dies ist der Fall, wenn der öffentliche Auftraggeber bei wirtschaftlicher Betrachtung ersichtlich nicht davon ausgehen kann, dass der Bieter sich mit einem irrig kalkulierten Preis als auch nur annähernd äquvalente Gegenleistung für die von ihm zu erbringende Bau-, Liefer- oder Dienstleistung begnügen kann. Als maßgebliches Indiz für einen insoweit erforderlichen erheblichen Kalkulationsirrtum spricht, wenn allein der Abstand zum zweitgünstigsten Angebot besonders groß ist.

§ 241 Abs. 2 BGB

Leitsatz

Die Erteilung des Zuschlags auf ein von einem Kalkulationsirrtum beeinflusstes Angebot kann einen Verstoß gegen die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des betreffenden Bieters darstellen. Die Schwelle zu einem solchen Pflichtenverstoß ist überschritten, wenn dem Bieter aus Sicht eines verständigen öffentlichen Auftraggebers bei wirtschaftlicher Betrachtung schlechterdings nicht mehr angesonnen werden kann, sich mit dem irrig kalkulierten Preis als einer auch nur annähernd äquivalenten Gegenleistung für die zu erbringende Bau-, Liefer- oder Dienstleistung zu begnügen (Weiterführung von BGH, Urteil vom Urteil vom 7. Juli 1998 – X ZR 17/97, BGHZ 139, 177).

Sachverhalt

Die Vergabestelle des beklagten Landes schrieb Fahrbahnerneuerungsmaßnahmen für eine Landstraße aus. Die Klägerin gab mit einer Summe von rund 455.000 Euro das weitaus günstigste Angebot ab. Nach dem Eröffnungstermin teilte sie der Vergabestelle mit, dass sie in einer Position des Leistungsverzeichnisses anstelle der geforderten Abrechnungseinheit „Tonne“ (Menge: 4.125) die Abrechnungseinheit „m²“ mit einem Massenansatz von 150 kg/m² zugrunde gelegt hat. Der von ihr für diese Position angebotene Einheitspreis war deshalb deutlich zu niedrig kalkuliert. Die Klägerin bat, ihr Angebot wegen dieses Irrtums aus der Wertung zu nehmen. Dem entsprach die Vergabestelle nicht, sondern erteilte der Klägerin den Zuschlag. Nachdem die Klägerin die Auftragsausführung abgelehnt hatte, erklärte die Vergabestelle den Rücktritt vom Vertrag und beauftragte den zweitplatzierten Bieter, dessen Angebot rund 175.000 Euro über dem Angebotspreis der Klägerin lag.

Anlass für den vorliegenden Rechtsstreit bot eine von der Klägerin gegen die Beklagte geltend gemachte unstreitige Restwerklohnforderung von rund 165.000 Euro aus einem anderen Bauvorhaben. Die Parteien streiten allein darum, ob die unstreitige Klageforderung durch Aufrechnung der Beklagten mit einem ihr vermeintlich entstandenen Schadensersatzanspruch wegen der Mehrkosten von rund 175.000 Euro für die Beauftragung des zweitplatzierten Bieters erloschen ist. Land- und Oberlandesgericht verneinten das Vorliegen einer aufrechenbaren Gegenleistung. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt das beklagte Land seinen Klageabweisungsantrag weiter.

Die Entscheidung

Ohne Erfolg! Der BGH entscheidet, dass die Vergabestelle mit der Erteilung des Zuschlags an die Klägerin gegen die in § 241 Abs. 2 BGB konstituierten Pflichten zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen der Klägerin verstoßen hat. Diese Pflichten hat die Vergabestelle verletzt, weil sie den Zuschlag auf das Angebot der Klägerin erteilte, obwohl ihr bekannt war, dass dieses von einem erheblichen Kalkulationsirrtum beeinflusst war. Ist, wie vorliegend, die Schwelle zum Pflichtenverstoß durch die Erteilung des Zuschlags auf ein kalkulationsirrtumsbehaftetes Angebot überschritten, kann der Bieter vertraglichen Erfüllungs- oder Schadensersatzansprüchen ein Leistungsverweigerungsrecht entgegensetzen.

Zugleich betont der BGH, dass § 241 Abs. 2 BGB öffentliche Auftraggeber nicht per se dazu verpflichte, bei jeglichem noch so geringen Kalkulationsirrtum von der Zuschlagserteilung abzusehen. Diese Regelung sei kein Korrektiv, durch das Unternehmen sich bei der Ausübung ihrer gewerblichen Tätigkeit von jeder Verantwortung für ihr eigenes geschäftliches Handeln freizeichnen können. Vielmehr diene § 241 Abs. 2 BGB als Ausprägung des Gedankens von Treu und Glauben dem Schutz eines redlichen Geschäftsverkehrs. Die danach bestehenden Rücksichtnahmepflichten dürfen Bietern auch keinen Vorwand liefern, sich im Nachhinein auf einen vermeintlichen Kalkulationsirrtum zu berufen, um sich von einem absichtlich sehr günstig gestalteten Angebot wieder zu lösen.

Im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe sei die Schwelle zum Pflichtenverstoß allerdings dann überschritten, „wenn dem Bieter aus Sicht eines verständigen öffentlichen Auftraggebers bei wirtschaftlicher Betrachtung schlechterdings nicht mehr angesonnen werden kann, sich mit dem irrig kalkulierten Preis als einer auch nur annähernd äquivalenten Gegenleistung für die zu erbringende Bau-, Liefer- oder Dienstleistung zu begnügen“. Der BGH setzt also ein hinreichend gravierendes Ausmaß des Kalkulationsirrtums voraus.

Bezug nehmend auf sein Urteil vom 07.07.1998 bestätigt er, dass auf einen erheblichen Kalkulationsirrtum hindeuten kann, „wenn allein der Abstand zum nächsthöheren Angebotspreis besonders groß ist“ (BGH, Urteil vom 07.07.1998 – X ZR 17/97, BGHZ 139, 177 ff.). Genau dies sei vorliegend aufgrund des Abstands zwischen dem Angebotspreis der Klägerin von rund 455.000 Euro zum nächsthöheren Angebot von rund 621.000 Euro (= 27 Prozent) der Fall.

Rechtliche Würdigung

Der BGH weist eingangs der Entscheidung darauf hin, dass ein Schadensersatzanspruch wegen eines Fehlverhaltens (auch) in Vergabeverfahren nicht mehr an ein in Anspruch genommenes und enttäuschtes Vertrauen in die Rechtmäßigkeit des vergabebezogenen Verhaltens geknüpft ist, sondern an die Verletzung der in § 241 Abs. 2 BGB konstituierten Pflichten zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils.  Damit knüpft der Senat konsequent an sein Urteil „Rettungsdienstleistungen II“ an (BGH, Urt. v. 09.06.2011 – X ZR 143/10, BGHZ 190, 89 ff.).

Sodann stellt er eine Verletzung dieser Rücksichtnahmepflichten durch die Vergabestelle fest, weil sie den Zuschlag auf das Angebot der Klägerin erteilte, obwohl ihr bekannt war, dass dieses von einem erheblichen Kalkulationsirrtum beeinflusst war. In diesem Punkt unterscheidet sich der vorliegende Fall von demjenigen, welchen der Senat am 07.07.1998 entschieden hatte. Dort war ein erheblicher Kalkulationsirrtum weder aus dem Angebot zu entnehmen gewesen noch von dem dortigen Bieter hinreichend substantiiert vorgetragenen worden (BGH, Urt. v. 07.07.1998 – X ZR 17/97, BGHZ 139, 177 ff.).

Da die Klägerin der Vergabestelle ihren Irrtum ausdrücklich erklärt hat, geht der Senat in der vorliegenden Entscheidung auf ggf. weitere Indizien, welche für Vergabestellen Rückschlüsse auf einen erheblichen Kalkulationsirrtum zulassen, nicht explizit ein. Insbesondere trifft die Entscheidung auch keine allgemeinverbindliche Aussage darüber, wann die Schwelle für das Vorliegen eines erheblichen Kalkulationsirrtums im Angebot eines Bieters, dessen Bezuschlagung sodann zu einem Pflichtenverstöß gegen § 241 Abs. 2 BGB führt, erreicht ist. Anhaltspunkte hierfür bieten jedoch folgende Feststellungen des Gerichts:

Die vorliegende Divergenz der Angebotspreise zwischen dem erst- und zweitplatzierten Bieter von 27 Prozent bei einem Auftragvolumen im mittleren sechststelligen Bereich bezeichnet der BGH als „besonders groß“. Demgegenüber hat der Senat in der vorzitierten Entscheidung vom 07.07.1998 eine Divergenz von rund 18 Prozent bei einem ähnlichen Auftragsvolumen als nicht maßgeblich erachtet.

Zudem weist der Senat darauf hin, dass ein Verstoß gegen die Rücksichtnahmepflichten aus § 241 Abs. 2 BGB nicht erst dann vorliegen soll, wenn der betroffenen Bieter bei Durchführung des Auftrags existenziell bedroht ist. Maßgeblich sei vielmehr, ob zwischen dem Wert der für den Auftraggeber erbrachten Leistung und dessen Gegenleistung eine unbillige Diskrepanz herrscht.

Der in § 2 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A und § 2 Abs. 1 VOL/A enthaltene Grundsatz, öffentliche Aufträge zu angemessenen Preisen zu erteilen, rechtfertigt die Abwendung einer unmäßigen Übervorteilung eines Bieters, die diesem aus der Bindung an einen Preis droht, der von einem erheblichen Kalkulationsirrtum beeinflusst ist.

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Praxistipp

Auch nach der Entscheidung gilt, dass Bieter für die Kalkulation ihrer Angebote vollumfänglich verantwortlich und Kalkulationsirrtümer grundsätzlich unbeachtlich sind. Die Entscheidung gibt also Bietern keinen Anlass, eine ordentliche Angebotskalkulation in der – falschen – Hoffnung zu vernachlässigen, sich nach Abgabe des Angebots hiervon mit dem bloßen Vorwand eines Kalkulationsirrtums wieder lösen zu können. Sofern ein Bieter einen Kalkulationsirrtum nach der Abgabe seines Angebots feststellt, empfiehlt sich, die Vergabestelle hierüber unverzüglich sowie mit einer hinreichenden Erklärung über die Umstände zu unterrichten.

Demgegenüber dürfen sich Vergabestellen ausdrücklichen Hinweisen von Bietern auf einen Kalkulationsirrtum nicht im Vorhinein verschließen oder darüber hinwegsehen. Dies gilt auch, wenn sich – ohne entsprechenden Hinweis – mögliche Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Kalkulationsirrtums im Rahmen der Angebotsprüfung ergeben.

Ob ein erheblicher Kalkulationsirrtum vorliegt, der letztlich dazu führt, dass das hiervon betroffene Angebot aus der Wertung zu nehmen ist oder der Bieter später die Vertragserfüllung zum Angebotspreis verweigern darf, hängt schließlich davon ab, ob der Irrtum als erheblich einzustufen ist. Allgemeinverbindliche Aussagen trifft die Entscheidung hierzu leider nicht. Als Anhaltspunkte hierfür können danach aber ein besonders großer Abstand zwischen kalkulationsirrtumsbehaftetem Angebot und dem nächstgelegenen Angebot oder dem angemessenen Preis für die ausgeschriebene Leistung dienen.