Flucht in die Aufhebung bei nur einem verbliebenen und zudem zweifelbehafteten Angebot (EuGH, Urt. v. 11.12.2014 – C-440/13)

Entscheidung EUDie Entscheidung zur Aufhebung des Vergabeverfahrens kann, jedenfalls aus europarechtlicher Perspektive, auch mit Zweckmäßigkeitserwägungen begründet werden. Nach Auffassung des EuGH kann in der Aufhebungsbegründung auch darauf verwiesen werden, dass am Ende des Vergabeverfahrens nur ein einziger Bieter verblieben ist, so dass kein ausreichender Wettbewerb bestand. Ferner kann die Aufhebung auch darauf gestützt werden, dass bei Zweifeln an der Zuverlässigkeit im Einzelfall nicht der Abschluss eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen den letzten verbliebenen Bieter abgewartet werden kann.

Artikel 41 Abs. 1, 43, 45 Abs. 1 und Abs. 2 RL 2004/18/EG

Sachverhalt

Gegenstand der Entscheidung war ein offenes Verfahren eines italienischen regionalen medizinischen Notdienstes zur Vergabe eines Dienstleistungsauftrags (Transport von Organen, Geweben und biologischen Proben sowie Chirurgen-Teams und Patienten zum Zweck einer Transplantation). Es beteiligten sich vier Unternehmen. Drei Angebote wurden nach Beurteilung der technischen Angebote ausgeschlossen. Es verblieb somit nur noch das Angebot eines einzigen Bieters, der Croce Amica One. Diese wurde in einem Vergabevermerk zur vorläufigen Zuschlagsempfängerin erklärt. Da jedoch Anhaltspunkte für die nach nationalem Recht zu prüfende sogenannte Ungewöhnlichkeit des Angebots bestanden, forderte der öffentliche Auftraggeber den Bieter zur Vorlage von Belegen hinsichtlich des technischen Angebots auf. Zudem wurden Unterlagen sichergestellt, aus denen sich ergab, dass ein Ermittlungsverfahren gegen Croce Amica One wegen Betrugs und mittelbarer Falschbeurkundung eingeleitet worden war. Daraufhin entschied der öffentliche Auftraggeber, den Auftrag nicht endgültig an die Croce Amica One zu vergeben und das Ausschreibungsverfahren aufzuheben. Die Entscheidung wurde u.a. damit begründet, dass die Dienstleistung aus Zweckmäßigkeitserwägungen und zur Sicherstellung der guten Verwaltung jedenfalls nicht an die Bieterin Croce Amica One vergeben werden könne, aber mit der Vergabe wegen der Unerlässlichkeit der Dienstleistung auch nicht bis zum Ausgang des Strafverfahrens oder auch nur der laufenden Ermittlungen abgewartet werden könne.

Ein neues Verfahren zur Vergabe des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden öffentlichen Auftrags wurde nicht eingeleitet. Es wurden vielmehr die bestehenden Verträge verlängert.

Die Croce Amica One wandte sich gegen die Aufhebung des Verfahrens.

Rund zweieinhalb Jahre nach Aufhebung des Vergabeverfahrens wurde ein Strafverfahren gegen den gesetzlichen Vertreter der Croce Amica One eröffnet, in dem unter anderem wegen der Behinderung öffentlicher Ausschreibungsverfahren Anklage erhoben wurde. Hintergrund war, dass der Betroffene um den Zuschlag zu erhalten, 15 gefälschte Bescheinigungen über die Teilnahme an Kursen für sicheres Fahren von Ambulanzen vorgelegt haben soll.

Das Verwaltungsgericht, bei dem der Nachprüfungsantrag anhängig war, ging davon aus, dass die Aufhebung der Ausschreibung gegen europäisches Recht verstoßen habe, weil ein Bieter gem. Art. 45 Abs. 2 a RL 2004/18/EG nur dann von einem Vergabeverfahren ausgeschlossen werden dürfe, wenn er durch ein rechtskräftiges Urteil verurteilt worden sei. Es legte dem EuGH daher mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor, mit denen es im Wesentlichen geklärt wissen wollte, ob eine Vergabestelle allein deshalb auf die endgültige Vergabe eines Auftrags verzichten kann, weil gegen den gesetzlichen Vertreter der Gesellschaft, die eigentlich für den Zuschlag vorgesehen war, ein Ermittlungsverfahren anhängig ist.

Die Entscheidung

Der EuGH verweist zunächst darauf, dass der im Ausgangsverfahren streitige Rechtsakt die Aufhebung der Ausschreibung ist und es somit rechtlich nicht um den Ausschluss eines Bieters gemäß Artikel 45 der Richtlinie 2004/18/EG gehe. Darüber hinaus fordere Art. 45 RL 2004/18 EG auch nicht in allen Fällen zwingend eine strafrechtliche Verurteilung, sondern lasse in Einzelfällen auch eine nachweislich schwere Verfehlung genügen.

Darauf komme es hier aber nicht an, weil es nicht um den Ausschluss eines Bieters, sondern um die Aufhebung des Vergabeverfahrens gehe. Maßgeblich hierfür seien Artikel 41 Abs. 1 und 43 der Richtlinie 2004/18/EG. Diese Artikel enthalten Regelungen zu Bieterinformationen im Falle der Aufhebung sowie zur Aufnahme der Aufhebungsgründe in den Vergabevermerk. Die RL 2004/18/EG enthalte aber keine formellen oder materiellen Anforderungen an die Aufhebungsentscheidung. Dementsprechend gebe es auch, wie der EuGH bereits 1999 entschieden hat (Rs. C-27/98 Fracasso und Leitschutz), keinen europarechtlichen Rechtsgrundsatz, wonach der Verzicht eines Auftraggebers nur in Ausnahmefällen oder bei Vorliegen schwerwiegender Gründe erfolgen dürfe. Europarechtliche Grenzen für die Aufhebungsentscheidung ergäben sich nur aus dem Transparenzge- und Diskriminierungsverbot. Diesen Grundsätzen stehe es aber nicht entgegen, eine Aufhebungsentscheidung auch auf Zweckmäßigkeitserwägungen zu stützen. Insbesondere könne der Verzicht auf die Vergabe auch damit begründet werden, dass aufgrund der Tatsache, dass am Ende des Vergabeverfahrens nur ein einziger Bieter verblieben ist, kein ausreichender Wettbewerb bestand.

Vorbehaltlich der Beachtung der Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung könne ein öffentlicher Auftraggeber folglich nicht verpflichtet sein, ein eingeleitetes Vergabeverfahren abzuschließen und den fraglichen Auftrag zu vergeben, auch nicht an den einzigen verbliebenen Bieter.

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Rechtliche Würdigung

Der EuGH betritt mit seiner Entscheidung europarechtlich im Bereich der Verfahrensaufhebung kein wirkliches Neuland, sondern bekräftigt und vertieft im Wesentlichen das, was er bereits früher, insbesondere in der oben bereits erwähnten Entscheidung Fracasso und Leitschutz, ausgeführt hat. Da sich auch in der neuen Richtlinie 2014/24/EU vom 26.02.2014 keine besonderen Anforderungen an die Aufhebungsgründe finden, sondern diese wiederum nur im Zusammenhang mit den Bieterinformationen (Art. 55 Abs. 1) und dem Vergabevermerk (Art. 84 Abs. 1 g) Erwähnung finden, dürfte sich an diesem aus europarechtlicher Sicht recht großzügigen Rahmen für den Verzicht auf die Auftragsvergabe auch künftig nichts Wesentliches ändern.

Allerdings kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der EuGH sich um die Kernfrage des Rechtsstreits gedrückt hat, indem er ganz formal darauf verweist, dass hier eine Aufhebungs- und keine Ausschlussentscheidung zu prüfen war. Tatsächlich war die Frage aber doch, ob es sich nicht im Ergebnis um eine Umgehung der relativ strengen Ausschlussvorschriften handelt, wenn der Auftraggeber die Frage, ob eine schwere Verfehlung i.S.d. Art. 45 nachweislich vorliegt, offen lässt und sich stattdessen in die Aufhebung flüchtet. Der Verweis auf das Wettbewerbsprinzip erscheint insofern eher als Vorwand, wenn man bedenkt, dass die Vergabe danach alles andere als wettbewerblich erfolgte, sondern vielmehr einfach die Bestandsverträge verlängert wurden. Eine Rolle mag hierbei gespielt haben, dass der EuGH zum Zeitpunkt seiner Entscheidung bereits wusste, dass sich die Zweifel hinsichtlich der Zuverlässigkeit des Bieters im Nachhinein durch die Eröffnung des Strafverfahrens bestätigt hatten und damit das mit der Aufhebung erzielte Ergebnis (keine Bezuschlagung der Croce Amica One) gerechtfertigt schien.

Praxistipp

Auf die deutsche Rechtslage ist das Urteil unmittelbar nur im Bereich VOF und SektVO übertragbar, da hier ebenso wie auf europarechtlicher Ebene keine abschließenden Aufhebungsgründe aufgezählt werden und somit ein weiter Spielraum der Auftraggeber hinsichtlich der Aufhebung des Vergabeverfahrens besteht.

Im Zusammenhang mit § 20 EG VOL/A und § 17 EG VOB/A, wonach die Aufhebung nur in abschließend aufgezählten Ausnahmefällen zulässig ist, wird zwar die Frage diskutiert, ob und inwieweit das Wettbewerbsprinzip eine Aufhebung des Verfahrens gem. § 20 Abs. 1 d) VOL/A aus einem schwerwiegenden Grund ermöglichen kann, wenn nur ein einziges Angebot vorliegt. Bislang wird dies jedoch – wenn überhaupt – nur ganz ausnahmsweise dann angenommen, wenn von vorneherein nur ein Angebot eingegangen ist und gleichzeitig aufgrund konkreter Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass im Fall einer erneuten Ausschreibung auch ein verstärkter Wettbewerb eintreten wird. In der vorliegend vom EuGH zu beurteilenden Situation (Eingang mehrerer Angebote, von denen schließlich nur eins in der Wertung verblieb und keine neue Ausschreibung, sondern Verlängerung der Bestandsverträge) wäre daher nach der bisherigen Auslegung von § 20 EG VOL/A und § 17 EG VOB/A eine Aufhebung nicht gerechtfertigt.

Auch für VOF- und SektVO-Vergaben kann die (vermutlich stark am konkreten Einzelfall orientierte) Entscheidung des EuGH jedoch nicht als Freifahrtschein für eine Flucht des Auftraggebers in die Aufhebung mit nachfolgender Direktvergabe gewertet werden. Jedenfalls dann, wenn auf die Aufhebung keine erneute Ausschreibung erfolgt, würde ein cleverer Bieter nämlich neben der Aufhebungsentscheidung die anschließende Direktvergabe angreifen. In diesem Verfahren aber müsste der Auftraggeber darlegen, dass die Voraussetzungen von § 6 Abs. 2 SektVO oder § 3 Abs. 4 VOF vorliegen. Außerhalb der eher seltenen Fälle äußerster Dringlichkeit wäre man dann (zumindest im Sektorenbereich) wieder bei der Frage, ob im vorhergehenden Verfahren wirklich kein geeignetes Angebot einging, d.h. ob die Zweifel an der Zuverlässigkeit berechtigt waren. Damit aber wäre durch den Umweg über die Verfahrensaufhebung wenig gewonnen.