Vergaberechtliche Folgefehler als verfahrensentscheidende Faktoren (VK Bund, Beschl. v. 05.11.2014 – VK 1- 86/14)
Der öffentliche Auftraggeber kann den Primärrechtsschutz nicht dadurch aushebeln, in dem er durch eigene Verfahrensfehler faktische Sachverhalte herbeiführt, die ihn bei isolierter Sicht zur Inanspruchnahme anderer Vergabearten im Ausnahmefall berechtigen würden. Relevant ist hierbei die objektive Rechtslage und das schutzwürdige Interesse der nicht informierten Konkurrenten.
Das schuldhafte Unterlassen der Vorabinformationspflicht, auch als Folgefehler aus vorangegangenen Fehlentscheidungen des öffentlichen Auftraggebers vor der beabsichtigten Zuschlagserteilung ist nicht nur ein Einfallstor für prozessuales Instrument sondern auch eine subjektive Rechtsverletzung i.S.d. § 97 VII GWB.
§§ 97, 101a, 101b, 107 GWB; §§ 8 EG, 20 EG VOL/A
Sachverhalt
Eine Vergabestelle (vermutlich im Bereich der Bundespolizei oder der Bundeswehr) schrieb Winterdienstleistungen für den Zeitraum Oktober 2014 bis März 2018 aufgrund des zweiten Abschnittes der VOL/A aus. Nach rechtswidriger, aber wirksamer Aufhebung mangels verwertbarer Angebote, wurde die nicht eindeutig und erschöpfend definierte Leistung aus Gründen der Eilbedürftigkeit und unter Missachtung der Vorabinformationspflicht aus § 101a GWB freihändig vergeben.
Die Entscheidung
Der Nachprüfungsantrag des nicht informierten Konkurrenten X ist statthaft, zulässig und begründet. Die begehrte Rechtsfolge der Unwirksamkeit des Dienstleistungsvertrages soll eintreten und das Vergabeverfahren unter Beachtung der Grundsätze für eine rechtskonforme Leistungsbeschreibung, bei fortbestehender Beschaffungsabsicht, neu eingeleitet werden. Die 1. Vergabekammer des Bundes beim Bundeskartellamt stellt das vollumfängliche Obsiegen des Antragstellers fest.
Rechtliche Würdigung
Die untersuchte Kammerentscheidung legt klassische, wenn auch in dieser Häufung und Folgenschwere, ungewöhnliche Vergaberechtsfehler offen. In Rede stehen die nachfolgend beleuchteten Handlungsweisen der verantwortlichen Vergabestelle, die in ihrer Tragweite den bereits abgeschlossenen Dienstleistungsvertrag fundamental in Frage stellen und zugleich entscheidende Weichenstellungen für einen neuen Beschaffungsvorgang beinhalten. Blicken wir zunächst summarisch auf die Entscheidungen der Vergabestelle:
a) Der Bedarf an Winterdienstleistungen soll zunächst auf der Grundlage des 2. Abschnittes der VOL/A gedeckt werden.
b) Der hierzu eingeleitete Beschaffungsvorgang mit der angeordneten(!) Vergabeart Beschränkte Ausschreibung wird aufgehoben, da kein Angebot eingegangen sei, dass den Bewerbungsbedingungen entsprechen würde und aus Fristgründen als Freihändige Vergabe erneut initiiert.
c) Der öffentliche Auftraggeber lässt das Vergabeverfahren auf einer aus zwei kurzen Sätzen bestehenden Leistungsbeschreibung basieren und verweist im Übrigen auf die kommunale Schneeräumsatzung; die Definition des Auftragsgegenstandes wird sowohl in der klassischen Leistungsbeschreibung als auch im Mustervertrag ausgewiesen.
d) Die Vergabestelle schließt mit dem Bieter, der den niedrigsten Preis innerhalb der Freihändigen Vergabe, geboten hat den Dienstleistungsvertrag. Eine Vorabinformation der unterlegenen Bieter fand nicht statt.
Das Verwaltungshandeln der hier agierenden Vergabestelle wirft zahlreiche Fragen auf, die einer rechtlichen Würdigung bedürfen:
a) Die postulierte Vorgehensweise (auf der Grundlage des 2. Abschnitts der VOL/A) steht in einem diametralen Widerspruch zur operativen Vorgehensweise (beschränkte Ausschreibung). Warum die Beschaffungsverantwortlichen hier zunächst die Anwendung des 2. Abschnittes der VOL/A als Folge des überschrittenen Schwellenwertes (ohne anwendbare Ausnahme) positiv aktenkundig annehmen um dann eine nur in Ausnahmefällen zulässige nationale Vergabeart des 1. Abschnittes zu wählen, bleibt ungeklärt und rätselhaft. Hier haben sowohl die Vergabestelle als auch die Behördenleitung nicht nur eine terminologische Verwechslung vorgenommen, sondern zugleich das Kaskadenprinzip des Vergaberechts auf den Kopf gestellt. Die Folge ist eine irreparable Weichenfehlstellung des Beschaffungsvorganges.
b) Die beschränkte Ausschreibung wurde dann unter Zuhilfenahme einer Fundstelle des 2. Abschnittes der VOL/A aufgehoben. Die Kammer hat es offen gelassen, ob die im Übrigen wirksame Aufhebung auch vom Tatbestand der in Anspruch genommenen Norm gedeckt war. Gleichwohl ist hier darauf hinzuweisen, dass die ermessensorientierte Nachforderung der Unterlagen nicht unzulässig gewesen wäre, sondern zur Herstellung eines Wettbewerbes auch sinnvoll gewesen wäre. Eine solche eingeräumte Nachfrist hätte insgesamt auch weniger Zeitaufwand verursacht, als eine Aufhebung mit einem anschließenden neuen Vergabeverfahren zu beschreiten; insofern stellt sich das Fristenargument des Antragsgegners umso weniger kongruent dar. Das weitere Vorgehen in Form der freihändigen Vergabe erscheint somit zwar logisch, wenn auch rechtlich unzulässig. Der öffentliche Auftraggeber bewegt sich, in Kenntnis der Binnenmarktrelevanz seines Auftrages, in den vertikal-nationalen Ausnahmetatbestand, ohne sich über das europarechtliche Pendant und dessen Verwerfung aktenkundig einzulassen.
c) Als diffus muss hier die zugrunde liegende Leistungsbeschreibung bewertet werden. Sowohl in temporärer als auch in materieller Betrachtungsweise fällt die Definition des Auftragsgegenstandes auseinander. Laut Vergabeunterlagen ist der Winterdienst vom 01.10. bis 31.03. jeden Jahres auszuführen. Der Mustervertrag wiederum legt einen Zeitraum von November bis März fest. Es ist den Bietern nicht möglich, vergleichbare Kalkulationen zu erstellen und dem öffentlichen Auftraggeber dadurch eine transparente Prüfung und Wertung zu ermöglichen. Von der Kammer nicht problematisiert, aber vom Verfasser als zusätzliches Indiz als wichtig erachtet, ist die Abweichung der Begriffe Winterdienst und Winterdienstarbeiten. Hier lässt es die Leistungsbeschreibung/der Mustervertrag offen, ob alle satzungsgemäß zu erbringenden Aufgaben (=Winterdienst) oder nur bestimmte Teile (=Winterdienstarbeiten) dem erfolgreichen Bieter übertragen werden sollen. Hätte sich der öffentliche Auftraggeber statt dessen für ein Verhandlungsverfahren entschieden, gäbe es auch keine Zugeständnisse der VOL/A, welche Einschränkungen in Sachen eindeutig und erschöpfend gestattet hätten.
d) Großes Gewicht kommt hier der unterlassenen Vorabinformationspflicht des öffentlichen Auftraggebers vor der beabsichtigten Zuschlagsentscheidung zu. Die Annahme der Vergabestelle, der Anwendungsbereich des GWB sei wegen der faktisch erfolgten freihändigen Vergabe gar nicht eröffnet und eine Information der unterlegenen Bieter entbehrlich, führt hier zu der formell und materiell einwandfreien Feststellung der Unwirksamkeit des durch die Antragsgegnerin geschlossenen Dienstleistungsvertrages. Die Kammer hat noch einmal deutlich herausgestellt, daß die (rechtswidrige) Durchführung eines nationalen Vergabeverfahrens (1. Abschnitt VOL/A), keine ablösende Wirkung für die Pflichtenkataloge hat, die bei einer vorzunehmenden Vergabe nach dem 2. Abschnitt der VOL/A regulär entstanden wären.
Praxistipp
a) Als Teil der Dokumentation sollte die Entscheidung über die Vergabeart in formularisierter Form erfolgen, so daß zum einen die Regelfälle der nationalen und EU-weiten Vergabe deutlich herausgestellt und vertikale Ausnahmen ausgeschlossen werden.
b) Die Anwendung der Aufhebungstatbestände sollte restriktiv am Wortlaut der Norm erfolgen; nicht in Anspruch genommenes Ermessen, dass vermeintlich zwingende Ausschlusstatbestände schafft, ist hierbei besonders streng zu prüfen, da hier eine Einschränkung des Bieterkreises durch steuerbares Verhalten der Vergabestelle zu Wettbewerbsverlusten führen kann.
c) Leistungsbeschreibungen und vertragliche Ausführungen müssen terminologisch, quantitativ und temporär deckungsgleich sein; eine Lektorierung der Unterlagen unter diesen Aspekten hilft Verständnisprobleme bei den Bietern auszuschließen.
d) Es empfiehlt sich die Informations- und Wartepflicht in formularisierter Form wahrzunehmen und den Zuschlagsberechtigten durch Vorlage der Verfügungsentwürfe mit Abgangsvermerk (>15 Tage) bei der Vertragsausfertigung zu informieren.