Das neue hessische Vergabe- und Tariftreuegesetz – Alle Jahre wieder Teil II
Bereits Ende letzten Jahres hatten wir im Vergabeblog über den Entwurf zum neuen Hessischen Vergabe- und Tariftreuegesetz (HVTG) berichtet. Am 01.03.2015 trat nun das neue Gesetz in Kraft. Es reiht sich damit in eine Vielzahl von Landesvergabegesetzen ein, die in jüngster Zeit neu erlassen worden sind.
Der Schwerpunkt des Gesetzes liegt in der Einführung umfangreicher Regelungen zu Tariftreue und Mindestlohn in der öffentlichen Auftragsvergabe. Weiterhin enthält es erstmals einen Katalog von Kriterien, die sich auf soziale, umweltbezogene und ökologische und innovative Anforderungen erstreckt. Neben diesen beiden Schwerpunktthemen enthält es aber auch – manchmal etwas versteckt – zahlreiche Neuerungen, die zum Teil weitreichende Änderungen bei der Auftragsvergabe oberhalb und unterhalb der Schwellenwerte mit sich bringen.
Der Beitrag erläutert die wichtigsten Neuregelungen, die im Vergleich zum Gesetzentwurf teilweise nochmal angepasst wurden.
Nachhaltige Entwicklung
Von wesentlicher Bedeutung ist, dass bei den Beschaffungen des Landes grundsätzlich die Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung in Bezug auf den Beschaffungsgegenstand und dessen Auswirkungen auf das ökologische, soziale und wirtschaftliche Gefüge zu berücksichtigen sind. Für Gemeinden ist diese Vorgabe ins Ermessen gestellt.
Unklar ist im Rahmen des neuen Gesetzes, inwieweit die allgemeinen Grundsätze zur Berücksichtigung nachhaltiger Entwicklung nach § 2 Abs.2 HVTG und § 3 Abs.1 HVTG im Verhältnis stehen. Denn zumindest für Beschaffungen des Landes sind nach § 2 Abs.2 HVTG nachhaltige Aspekte zwingend zu berücksichtigen. Nach § 3 Abs.1 steht es den öffentlichen Auftraggebern allerdings frei, soziale, ökologische, umweltbezogene und innovative Anforderungen zu berücksichtigen, wenn diese mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung stehen. Unter Anforderungen scheint der Gesetzgeber hier allein die Zuschlagskriterien zu verstehen. Der Gesetzgeber schien ausweislich der Gesetzesbegründung davon auszugehen, dass der Begriff der Nachhaltigkeit in § 2 durch die Grundsätze in § 3 konkretisiert werden. Allerdings entsteht ein Widerspruch zwischen der auf der einen Seite zwingenden Regelung in § 2 Abs.2 und der Ermessensregelung in § 3 Abs.1. Dieser könnte nur dadurch aufgelöst werden, in dem man § 2 Abs.2 so versteht, dass Nachhaltigkeitsaspekte in irgendeiner Form in den Beschaffungen Berücksichtigung finden müssen, allerdings nicht zwingend im Rahmen der Zuschlagskriterien nach § 3 Abs.1.
Weiterhin bemerkenswert an der Regelung des § 3 Abs.1 ist, dass nach S.2 nicht nur die sozialen, ökologischen, umweltbezogenen und innovativen Kriterien und deren Gewichtung in der Bekanntmachung und in den Vergabeunterlagen genannt werden müssen, sondern auch alle anderen Zuschlagskriterien. Das ist zumindest für Vergaben unterhalb der Schwellenwerte ein absolutes Novum. Die 1. Abschnitten der Vergabeverordnungen enthalten nämlich insbesondere keine Verpflichtung, die Zuschlagskriterien auch zu gewichten.
Tariftreue und Mindestlohn
Sicherlich eine der wesentlichen Neuerungen im HTVG ist die explizite Einführung von Regelungen zur Tariftreue und zum Mindestlohn. Hessen folgt mit dessen Einführung etlichen anderen Bundesländern, die schon entsprechende Regelungen erlassen haben.
§ 4 Abs.1 enthält zunächst eine Generalklausel, nach der Unternehmen grundsätzlich verpflichtet sind, ihren Beschäftigten die für sie geltenden gesetzlichen und tarifvertraglich festgesetzten Leistungen zu gewähren. Soweit Leistungen und Tarifverträge von dem sachlichen Anwendungsbereich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes erfasst werden, sind öffentliche Auftraggeber nach Abs.2 verpflichtet, nur Bieter zu beauftragen, die sich ihrerseits bei Angebotsabgabe verpflichtet haben, ihren Beschäftigten mindestens das den einschlägigen Vorgaben entsprechende Entgelt und die sonstigen Arbeitsbedingungen zu gewähren.
Unklar ist, in welchem Verhältnis die Regelungen des § 4 Abs.3 und die des § 6 steht. Nach § 4 Abs.3 dürfen Leistungen, die vom Mindestlohngesetz des Bundes erfasst werden, nur an Unternehmen vergeben werden, die sich bei Angebotsabgabe in Textform verpflichten, ihren Beschäftigten bei der Ausführung der Leistung ein Entgelt zu zahlen, das den Vorgaben des Mindestlohngesetzes entspricht. § 6 regelt wiederum eigentlich den gleiche Fall, dass Bewerber das Mindestlohngesetz einzuhalten haben und dies bei Angebotsabgabe in Textform zu erklären haben. Das gleiche gilt nach § 6 S. 3 für Nachunternehmer. Diese Verpflichtung für Nachunternehmer wird aber gleichzeitig auch nochmal in § 7 Abs.1 und § 8 Abs.2 normiert. Hier scheint der Gesetzgeber nach dem Prinzip „doppelt und dreifach hält besser“ agiert zu haben, da letztlich die Regelungen in § 4 Abs.3, § 6 S.1 und 2 und § 7 Abs.1 überschneidende Regelungsinhalte haben. Sinnvoll scheint in diesem Zusammenhang die Regelung in § 6 S.4, wonach die Vorschrift nicht gilt, soweit nach § 4 Tariftreue gefordert werden kann und die tarifliche Regelung für die Beschäftigten günstiger ist als die Regelungen zum Mindestlohn. § 7 enthält darüber hinaus die Verpflichtung für den öffentlichen Auftraggeber in der Bekanntmachung auf die Verpflichtung zur Einreichung der entsprechenden Erklärungen hinzuweisen und regelt die Folge des Nichteinreichens der entsprechenden Erklärungen.
Eine Folge dieser sich teilweise überschneidenden Regelungen desselben Sachverhalt ist eine weitere Unklarheit im Gesetzestext zum Zeitpunkt der Vorlage der entsprechenden Erklärungen. § 7 Abs.1 i.V.m. Abs.3 ist so zu verstehen, dass auch die Nachunternehmer die Tariftreue- und Mindestentgelterklärungen bereits bei Angebotsabgabe vorzulegen haben, soweit der Nachunternehmer bereits bekannt ist. § 8 Abs.2 spricht wiederum davon, dass Bieter u.a. verpflichtet sind, die Erklärungen der Nachunternehmer erst nach Auftragserteilung, spätestens vor Beginn der Ausführung der Leistung durch den Nachunternehmer vorzulegen. Diesen Widerspruch zu lösen ist nicht einfach. Denn für den Fall, dass der Auftraggeber die entsprechenden Erklärungen bereits mit dem Angebot fordert, riskiert er den Ausschluss von möglicherweise interessanten Angeboten. Vor diesem Hintergrund wäre aus der Zielsetzung heraus, einen möglichst breiten Wettbewerb aufrecht zu erhalten, sicherlich sinnvoller und ebenfalls mit dem Gesetz im Einklang stehend, die Erklärungen entsprechen § 8 Abs.2 erst zu einem späteren Zeitpunkt zu fordern.
§ 9 regelt schließlich die Verpflichtung der beauftragten Unternehmen, dem Auftraggeber die Einhaltung der Tariftreue- und Mindestlohnregelungen jederzeit nachzuweisen. Der Auftraggeber hat diesbezüglich ein umfangreiches Einsichtsrecht in Entgeltabrechnungen und andere Geschäftsunterlagen des Auftragnehmers und dessen Nachunternehmers. Interessant ist an dieser Regelung, dass sie nur eine Verpflichtung für den Auftragnehmer enthält, die Unterlagen vorzuhalten, jedoch keine Verpflichtung für den Auftraggeber, diese auch tatsächlich zu kontrollieren. Vor dem Hintergrund, dass das Gesetz nicht regelt, wer diese Kontrollen zukünftig durchführen soll (wie beispielsweise der Zoll oder eine eigenständige Prüfbehörde oder doch die Vergabestelle direkt) bleibt abzuwarten, wie intensiv die Kontrollen in Zukunft tatsächlich stattfinden.
Interessenbekundungsverfahren und innovative Produkte
Der dritte Teil des neuen HVTG bringt keine bahnbrechenden Neuerungen, wirft allerdings auch wieder einige Fragezeichen auf. Bemerkenswert ist hier zunächst, dass das Interessenbekundungsverfahren als „abgespeckter“ Teilnahmewettbewerb in § 10 eine Aufwertung erfährt, indem zunächst der Auftragswert, bei dem ein Interessenbekundungsverfahren durchzuführen ist, bei Dienstleistungen auf 50.000 € abgesenkt wurde und explizit (enge) Voraussetzungen aufgenommen wurden, wann von einem Interessenbekundungsverfahren im Einzelfall abgesehen werden kann.
§ 10 Abs.6 hält eine Überraschung parat, wonach Beschaffungen für innovative Produkte und Leistungen, für die vertragliche Spezifikationen nicht festgelegt werden können, im Rahmen einer freihändigen Vergabe EU-weit bekannt gemacht werden sollen. Diese Regelung gilt interessanterweise auch für Leistungen unterhalb der Schwellenwerte und wirft mehr Fragen auf, als das sie Klarheit schafft. Allen voran ist unklar, was der Gesetzgeber unter innovativen Produkten versteht. Die Gesetzesbegründung gibt hierzu keinen Aufschluss. Nach der Definition des Bundeswirtschaftsministeriums bedeutet Innovation die Markteinführung einer Neuerung, die in der Praxis verwirklicht wurde und zur Optimierung von Produkten, Verfahren, Dienstleistungen und Prozessen beiträgt. Es bleibt abzuwarten, inwieweit dieser Regelung in der Praxis eine Relevanz zukommt.
Öffentlich-Private Partnerschaften
Außerdem erwähnenswert im dritten Teil des Gesetzes ist die Regelung zu Öffentlich-Privaten Partnerschaften in § 14. Danach ist nun gesetzlich normiert, dass ÖPP nur bei einem nachgewiesenen Wirtschaftlichkeitsvorteil gegenüber anderen Beschaffungsvarianten für das Land zulässig. Die Inhalte für die notwendige Wirtschaftlichkeitsberechnung werden klar vorgegeben. Die Vorschrift enthält darüber hinaus Regelungen zum Schutz von mittelständischen Unternehmen, da ÖPP oftmals so ausgelegt sind, dass diese Unternehmen sich wegen der langen Laufzeit und Haftung nicht beteiligen können. Dazu gehören die zwingende Ermöglichung von einem vorzeitigen Ausstieg aus dem Projekt und die Möglichkeit zum Zwecke der Refinanzierung, Vergütungsforderungen des Auftragnehmers gegen den Auftraggeber zu veräußern.
Vergabefreigrenzen
Ebenfalls dem Schutz des Mittelstandes soll die Normierung der bisher nur in Erlassen geregelten Vergabefreigrenzen für Vergaben unterhalb der Schwellenwerte in § 15 dienen. Nach der Gesetzesbegründung soll der Vorteil der Regelung darin bestehen, dass mittelständische Unternehmen sich nicht in zeitintensiver und kostenaufwendiger Weise an einer Vielzahl von Ausschreibungen beteiligen müssen, ohne die Erfolgsaussichten vorab einschätzen zu können, sondern infolge der konkreten Aufforderung zur Abgabe eines Angebotes durch einen Auftraggeber gezielter und mit besseren Erfolgschancen Angebote erarbeiten und einreichen können.
Die notwendige Öffentlichkeit soll hier durch die Verpflichtung zur Durchführung von Interessenbekundungsverfahren geschaffen werden. Bei Vergaben ohne Interessenbekundungsverfahren wird eine Ex-post Transparenz geschaffen, indem der Auftraggeber nach § 15 Abs.3 den Beschaffungsvorgang und den Namen des Auftragnehmers in der HAD veröffentlichen muss. Damit sind die ursprünglich zur Stützung der Konjunktur erlassenen Freigrenzen endgültig gesetzlich normiert, da sie sich in der Praxis für den öffentlichen Auftraggeber durchaus bewährt haben. Ob durch die Zurückdrängung der öffentlichen Ausschreibung im Unterschwellenbereich ein ausreichender Wettbewerb gewährleistet ist, bleibt hingegen fraglich.
Urkalkulation und Zwei-Umschlag Verfahren
Gegenüber dem bisher geltenden Vergabegesetz „zurück gerudert“ hat der Gesetzgeber bei den Regelungen zur Urkalkulation und zum sog. Zwei-Umschlagverfahren. So sind die Bieter nach § 16 nicht mehr verpflichtet, die Urkalkulation in einem verschlossenen Umschlag einzureichen, sondern es ist vielmehr im Ermessen des Auftraggebers dies zu verlangen.
Gleiches gilt für die Regelung, Angebote für Planungsleistungen getrennt nach Dienstleistungen und Entgelt in 2 verschlossenen Umschlägen zu verlangen. Das Entgelt wird dann erst nach der inhaltlichen Prüfung des Angebotes zur Kenntnis genommen und gewertet. Hintergrund der Einführung sollte sein, der Versuchung zu begegnen, über den Angebotspreis die sachliche Wertung durchzuführen. Was früher als zwingend zu beachtende Regelung ausgestaltet war, steht jetzt im Ermessen des Auftraggebers. Gleichzeitig hat der Gesetzgeber die Voraussetzungen normiert, wann ein 2-Umschlagverfahren überhaupt verwendet werden darf. Es muss sich bei der Dienstleistung um eine eigenständige Planungsleistung handeln. Außerdem ist allein die Bezugnahme auf die in der Vergabebekanntmachung vorgegebenen oder in einer Honorarordnung enthaltenen Leistungsbilder nicht ausreichend. Die Normierung dieser Voraussetzungen ist etwas verwirrend, suggeriert sie nämlich, dass das 2-Umschlagverfahren nur auf klassische Planungsleistungen anwendbar ist. Das würde bedeuten, dass etwa bei komplexen IT-Leistungen eine Anwendbarkeit von vorneherein ausgeschlossen ist, obwohl diese auch hier durchaus Sinn machen könnte und unter Anwendung der allgemeinen vergaberechtlichen Grundsätze dieser Handhabung grundsätzlich nichts entgegensteht.
Rechtsschutz
Schon im Vergabegesetz 2013 wurde die Grundlage für einen Rechtsschutz unterhalb der EU-Schwellenwerte geschaffen. Die entsprechenden Details können in einer Rechtsverordnung geregelt werden. Der Landesgesetzgeber hat bisher von dieser Möglichkeit noch keinen Gebrauch gemacht, so dass ein effektiver Rechtsschutz unterhalb der Schwellenwert in Hessen nach wie vor nicht existiert.
Im neuen HVTG wurde darüber hinaus mit § 20 Abs.5 S.2 eine Regelung getroffen, die diesen – selbst wenn er durch Rechtsverordnung konkretisiert werden sollte – weitestgehend ad absurdum führt. Denn danach kann nach der Mitteilung über festgestellte Verstöße und Maßnahmen zur Beseitigung durch die Nachprüfungsstelle, die Aufsichtsbehörde ohne weiteres von den Feststellungen abweichen, wenn sie dies ggü. den Beteiligten und der Nachprüfungsstelle kommuniziert. Das heißt de facto, dass es zwar möglicherweise einen Rechtsschutz gegen Vergabeverstöße unterhalb der Schwellenwert gibt, der Auftraggeber sich aber nicht an die Vorgaben der Nachprüfungsstellen halten muss, sondern – gesetzlich legitimiert – davon abweichen kann.
Fazit
Der hessische Gesetzgeber hat mit dem HVTG insbesondere die Tariftreue und das Mindestentgelt für das Vergabewesen geregelt. Der Teufel steckt hier bei genauer Lektüre der Vorschriften im Detail und es fällt auf, dass die Regelungen einige Unklarheiten und Widersprüche enthalten.
Im Zuge der notwendigen Novellierung hat der Gesetzgeber gegenüber dem alten Vergabegesetz aus dem Jahr 2013 weitere zahlreiche Anpassungen vorgenommen. Auch hier wird sich erst in der Praxis weisen, inwiefern diese Neuregelung tatsächlich Eingang in die Vergabepraxis der vom Gesetz erfassten Auftraggeber finden bzw. dazu führen, dass die Vergabeverfahren „in besonderem Maße transparent und für alle Unternehmen fair ausgeführt werden“ (Ziel der Gesetzesbegründung).