Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel können im Beschwerdeverfahren vorgebracht werden! (OLG Celle, Beschl. v. 21.01.2016 – 13 Verg 8/15)
Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel sind im Verfahren der sofortigen Beschwerde gegen Entscheidungen der Vergabekammer nicht präkludiert. Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel sind im Verfahren der sofortigen Beschwerde gegen Entscheidungen der Vergabekammer grundsätzlich nicht präkludiert. Allerdings darf der neue Tatsachenvortrag nicht mangels unverzüglicher Rüge bereits präkludiert sein. Eine Einschränkung gilt nur in den Fällen, in denen neuer Vortrag im Beschwerdeverfahren so spät vorgebracht wird, dass sich die Beteiligten auf diesen nicht mehr zumutbar einlassen können.
§§ 113 GWB, 124 Abs. 2 GWB, 19 EG Abs. 2 VOL/A, 16 Abs. 2 VOL/A
Sachverhalt
Die Antragsgegnerin (Ag) schreibt die Beförderung von Schülerinnen und Schülern zu verschiedenen Schulen im offenen Verfahren europaweit aus. Einziges Zuschlagskriterium ist der Preis. Nach der Aufforderung zur Angebotsabgabe waren neben dem Angebotsformular mehrere Unterlagen an die Ag mit dem Angebot zurückzureichen (Leistungsverzeichnis). Das fristgerechte Angebot der Antragstellerin (Ast) wurde von der Ag u.a. ausgeschlossen, weil die Seiten für das Los 9 nicht beigefügt gewesen waren. Nachdem die Vergabekammer den Nachprüfungsantrag der Ast zurückgewiesen hatte, wendet sich die Ast mit der sofortigen Beschwerde gegen diesen Beschluss und konkretisiert unter anderem ihre Rüge. Das Leistungsverzeichnis für das Los 9 sei in einem verschlossenen Umschlag bei der Ag eingereicht worden.
Die Entscheidung
Das OLG Celle hält den Nachprüfungsantrag der Ast für zulässig und begründet. Zunächst betont das OLG zutreffend, dass Rügen im Beschwerdeverfahren konkretisiert werden können und an diese zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes nur geringe Anforderungen zu stellen sind. Im Ergebnis kann daher einer E-Mail der Ast entnommen werden, dass das Leistungsverzeichnis zu Los 9 dem Angebot der Ast beigefügt war. Die entscheidende Frage in dem Beschwerdeverfahren war daher, ob die Ast die sofortige Beschwerde auf neuen Sachvortrag stützen durfte. Denn die Ast hatte sich in dem Verfahren vor der Vergabekammer nicht ausdrücklich darauf gestützt, dass das Leistungsverzeichnis für das Los 9 in dem geschlossenen Umschlag enthalten gewesen ist; insbesondere hat sie den Beweisantritt erst im Beschwerdeverfahren vorgenommen. Inwieweit neuer Tatsachenvortrag im Beschwerdeverfahren berücksichtigt werden darf, sofern die hierfür maßgeblichen Umstände nicht mangels unverzüglicher Rüge bereits präkludiert sind, ist streitig.
Es werden hier soweit ersichtlich drei Meinungen vertreten:
- Nach einer ersten Meinung bleibt im Beschwerdeverfahren neu vorgebrachtes Vorbringen unberücksichtigt, welches schon vor der Vergabekammer hätte vorgebracht werden können, dort aber nicht in das Verfahren eingeführt worden ist; es widerspräche dem Beschleunigungsgrundsatz nach § 113 Abs. 2 S. 1 GWB solchen Vortrag zu berücksichtigen (in diesem Sinne z.B. OLG Brandenburg, Beschl. v. 10.02.2012 – Verg W 18/11 und OLG Frankfurt, Beschl. v. 11.05.2004 – 11 Verg 8/04 sowie diverse Stimmen aus der Literatur).
- Demgegenüber wird von einer zweiten Meinung die gegenteilige Auffassung vertreten, wonach die Beschwerde im Rahmen des Beschwerdegegenstandes ohne weiteres auf neue Tatsachen und/oder Beweismittel gestützt werden kann (so z.B. OLG Koblenz, Beschl. v. 10.08.2000 – 1 Verg 2/00 sowie diverse Stimmen aus der Literatur).
- Vermittelnd wird drittens die Auffassung vertreten, dass eine Einschränkung der zweitgenannten Auffassung aufgrund des Beschleunigungsgrundsatzes nur in Fällen gilt, in denen neuer Vortrag im Beschwerdeverfahren so spät vorgebracht wird, dass sich die Beteiligten auf diesen nicht mehr zumutbar einlassen können (so z.B. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 19.11.2003 – Verg 22/03 sowie diverse Stimmen aus der Literatur).
Das OLG Celle folgt der letztzitierten und damit der vermittelnden Meinung. Zur Begründung führt das OLG aus, dass ein genereller Ausschluss neuen Vorbringens in der Beschwerdeinstanz, das bereits vor der Vergabekammer hätte vorgebracht werden können, sich ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung allein aufgrund des allgemeinen Beschleunigungsgrundsatzes nicht rechtfertigen lässt. Aufgrund der besonderen Umstände des Verfahrens vor der Vergabekammer, vor der auch kein Anwaltszwang besteht, ist der Rechtsgedanke insbesondere von § 531 Abs. 1 ZPO nicht ohne gesetzliche Anordnung entsprechend zu berücksichtigen. Danach war der sofortigen Beschwerde der Ast stattzugeben, weil diese nach Auffassung des OLG den Beweis für den vollständigen Eingang des Angebots beim Auftraggeber erbracht hat.
Etwas anderes konnte das OLG auch nicht aus der offensichtlich nicht ordnungsgemäß geführten Vergabeakte entnehmen. Insbesondere konnte das OLG einerseits keine konkreten Anhaltspunkte für eine Manipulation der Vergabeakte erkennen, andererseits aber auch die konkrete Möglichkeit eines Verlustes des fraglichen Teils des Angebots der Ast nicht ausschließen.
Rechtliche Würdigung
Unter rechtstaatlichen Gesichtspunkten ist der Auffassung des OLG Celle zuzustimmen. Die erstgenannte – ablehnende – Auffassung verkennt die Besonderheiten des Verfahrens vor der Vergabekammer. Die zweitgenannte – einschränkungslose – Auffassung verkennt die Reichweite des Beschleunigungsverbots, wenngleich dieses im Beschwerdeverfahren (leider) ohnehin nur sehr eingeschränkt gibt. Dies zeigt auch der hier zugrundeliegende Fall, denn zwischen der Entscheidung der Vergabekammer bei der Bezirksregierung Lüneburg am 22.10.2015 (Az. VgK-40/2015) und der Entscheidung des Vergabesenats lagen immerhin drei Monate, mithin fast zwölf Wochen. In der Beschaffungspraxis führt ein solcher zeitlicher Verzug in der Regel bereits zum Erfordernis einer Interimsvergabe.
Ungeachtet dessen verliert durch diese Rechtsprechung das Verfahren vor der Vergabekammer an Wert. Bieter könnten zukünftig mehr und mehr dazu tendieren, ein Vergabeverfahren vor der Vergabekammer ohne anwaltlichen Beistand durchzuführen, wohl wissend, dass etwaige Fehler oder Versäumnisse in der Beschwerdeinstanz dann u.U. noch (anwaltlich) geheilt werden können. Es könnte daher auch unter taktischen Gesichtspunkten ratsam sein, zwar die Aspekte umfassend zu rügen, diese aber nicht abschließend vor der Vergabekammer zu thematisieren bzw. zu konkretisieren, wenn es dem antragstellenden Bieter in erster Linie darum geht, das Verfahren zu verzögern.Diese Entwicklung ist bedauerlich.
In Anbetracht der divergierenden Entscheidungen der Oberlandesgerichte ist es bedauerlich, dass das OLG Celle den Fall nicht gemäß § 124 Abs. 2 Satz 1 GWB dem BGH zur Entscheidung vorgelegt hat. Zumal der BGH erst im Jahr 2014 betont hat, dass die Regelung des § 124 Abs. 2 GWB nach ihrem Sinn und Zweck, eine bundeseinheitliche Rechtsprechung in Vergabesachen zu gewährleisten, weit auszulegen ist (BGH, Beschl. v. 18.03.2014 – X ZB 12/13). Tendenziell stehen die Vergabesenate einer Vorlage leider dessen ungeachtet weiterhin sehr zurückhaltend gegenüber. Eine weitere Chance für mehr Rechtssicherheit wurde vorliegend vertan.
Praxistipp
Bieterunternehmen und öffentlichen Auftraggebern darf die Erkenntnis verbleiben, dass auch nach einem verlorenen Verfahren vor der Vergabekammer durchaus noch Raum für neuen Vortrag in der Beschwerdeinstanz besteht. Die jüngeren Entwicklungen in einigen Bundesländern zeigen darüber hinaus, dass (leider) die Entscheidung der Vergabekammer häufig in der zweiten Instanz keinen Bestand hat und aufgehoben wird. Sofern sich die hier thematisierte Rechtsprechung des OLG Celle durchsetzt, dürfte diese Tendenz noch weiter zunehmen.