Strenge Transparenzpflicht bei qualitativen Zuschlagskriterien (VK Lüneburg, Beschl. v. 13.07.2016 – VgK-26/2016)

EntscheidungBei Verwendung eines Punktesystems müssen die Bieter aus dem Vergabeunterlagen klar erkennen können, ob und wie sie mit einer bestimmten Leistung die Höchstpunktzahl erreichen können. Entsprechende Fehler sind für Bieter mangels einer einheitlichen Rechtsprechung und gefestigten Vergabepraxis schwer erkennbar, sodass ihre Rüge nach der Vorabinformation regelmäßig noch rechtzeitig ist.

§§ 2, 19 Abs. 8 EG VOL/A 2009, §§ 97 Abs. 1, 107 GWB 2013

Leitsatz (sofern vorhanden)

  1. Der Auftraggeber berücksichtigt bei der Wertung der Angebote entsprechend der bekannt gegebenen Gewichtung vollständig und ausschließlich die Kriterien, die in der Bekanntmachung oder den Vergabeunterlagen genannt sind.
  2. Der Grundsatz des Transparenzgebots bedeutet, dass alle Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens klar, präzise und eindeutig in der Vergabebekanntmachung, konkret allerdings noch in den Vergabeunterlagen zu formulieren sind.

Sachverhalt

Noch vor dem Inkrafttreten der Vergabereform 2016 schrieb der öffentliche Auftraggeber mit europaweiter Bekanntmachung die Vergabe eines Dienstleistungsauftrags zur Personen-/Schülerbeförderung im Freistellungsverkehr im offenen Verfahren aus. Der Zuschlag sollte losweise auf das wirtschaftlichste Angebot unter Rückgriff auf ein Punktesystem erteilt werden. Die in der europaweiten Bekanntmachung einzeln genannten Zuschlagskriterien konkretisierte der Auftraggeber in den Vergabeunterlagen. Konkrete Voraussetzungen zur Erreichung der unterschiedlichen Punktestufen nannte er dabei nicht. Nach Auswertung der Angebote anhand einer tabellarischen Excel-Tabelle die den Bietern nicht bekannt gemacht worden war informierte der Auftraggeber die spätere Antragstellerin, dass die Lose, auf die sie geboten hatte, an die spätere Beigeladene vergeben werden sollten. Daraufhin rügte die Antragstellerin unter anderem die Intransparenz der Zuschlagskriterien. Der Auftraggeber half der Rüge nicht ab, woraufhin sich die Antragstellerin mit einem Nachprüfungsantrag an die Vergabekammer wandte.

Die Entscheidung

Die VK Lüneburg hat dem Nachprüfungsantrag zum Großteil stattgegeben.

Die Antragstellerin habe die Intransparenz der Wertungskriterien i.S.v. § 107 Abs. 3 Nr. 3 GWB rechtzeitig gerügt. In der Vergabepraxis habe sich im Hinblick auf die Rechtsprechung, die seit längerem strenge Anforderungen an die Darstellung qualitativer Zuschlagskriterien stelle, noch keine transparente Vorgehensweise durchgesetzt. Daher habe sich der Auftraggeberin der Vergabeverstoß nicht bereits bei der Angebotserstellung aufdrängen müssen.

Der Auftraggeber habe insbesondere mit der ungenügenden Darstellung der qualitativen Zuschlagskriterien gegen das Transparenzgebot aus § 97 Abs. 1 GWB verstoßen. Danach müssten alle Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens klar, präzise und eindeutig in der Vergabebekanntmachung, konkret allerdings noch in den Vergabeunterlagen, formuliert werden. Das Bewertungssystem nach Punkten genüge diesen Anforderungen nicht und sei intransparent, weil nicht klargeworden sei, inwieweit die geforderten Mindestvoraussetzungen überschritten werden mussten um eine bestimmte höhere Punktzahl zu erreichen. Problematisch sei auch, dass bereits für die Erfüllung der Mindestanforderungen die Hälfte der Zuschlagspunkte vergeben worden sei und sich dadurch die Bewertungsspanne verkürze. Die Vorgaben seien in der Gesamtheit nicht nachvollziehbar und zu unstrukturiert. Die für die Bewertung herangezogene Excel-Tabelle hätte den Bietern mit den Ausschreibungsbedingungen bekannt gemacht werden müssen. Das Wertungskriterium Dienstleistungskonzept erfülle wegen seiner geringen Gewichtung von 10% eine bloße Alibifunktion. Der Eindruck werde noch verstärkt, wenn das ohnehin gering gewichtete Kriterium noch in etwa 50 Unterkategorien zerfasert würde.

Schließlich genüge auch die vorgenommene Angebotsbewertung nicht dem Transparenzgebot (wird näher ausgeführt).

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung der VK Lüneburg erging auf Grundlage der vor der Vergabereform geltenden Rechtslage, jedoch unter Berücksichtigung der neuen Vergaberichtlinie 2014/25/EU. Dies steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH und des BGH, wonach beschlossenes EU-Recht eine Vorwirkung entfaltet.

Die Vergabekammer hat sich der jüngeren vergaberechtlichen Rechtsprechung auf nationaler Ebene angeschlossen, nach der im Hinblick auf das Transparenzgebot aus § 97 Abs. 1 GWB strenge Anforderungen bei der Verwendung von Wertungsmatrizen mit Punktesystemen (auch bei Schulnoten) zu stellen sind. So wird gefordert, dass auch für qualitative Zuschlagskriterien spätestens mit den Vergabeunterlagen die Zuschlagkriterien, deren Gewichtung und eine allgemeine Begründung für die Differenzierung der jeweils erreichbaren Punktestufen genannt werden (vgl. z.B. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16.12.2015, VII – Verg 25/15 ). Es wird zwar gesehen, dass zu detaillierten Vorgaben im Hinblick auf die Gestaltung der Zuschlagskriterien öffentliche Auftraggeber überfordern und zudem die Möglichkeiten der Bieter zur konzeptionellen Darstellung einschränken können. Wenn aber die Grundlage der Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebots nicht von vornherein erkennbar sei, verstoße dies gegen das Transparenzgebot. Die Bieter seien dann nicht effektiv vor einer willkürlichen bzw. diskriminierenden Angebotsbewertung geschützt (vgl. auch OLG Celle, Urteil vom 23.02.2016 13 U 148/15 ).

Die strenge Rechtsprechung zur Transparenz von Punktesystemen ist in der Praxis auf breite Ablehnung gestoßen. Inwieweit die bisherige Rechtsprechung der deutschen Gerichte künftig Bestand haben wird, bleibt abzuwarten. Denn der EuGH hat sich nur einen Tag nach der Entscheidung der VK Lüneburg gegen eine Pflicht zur Bekanntmachung der Bewertungsmethodik ausgesprochen und scheint dem öffentlichen Auftraggeber somit einen größeren Spielraum bei der Bewertung der Angebote zuzubilligen (vgl. EuGH, Urteil vom 14.07.2016 Rs. C-6/15 )

Es bleibt damit jedoch festzuhalten, dass sich bisher weder in der deutschen und europäischen Rechtsprechung noch in der vergaberechtlichen Praxis eine klare Linie im Hinblick auf die Verwendung von Wertungsmatrizen mit Punktesystemen durchsetzen konnte. Vor diesem Hintergrund hat die VK Lüneburg zu Recht angenommen, dass die Antragstellerin mit ihrer Rüge nach erfolgter Vorabinformation mangels Erkennbarkeit der Intransparenz aus den Vergabeunterlagen nicht gemäß § 107 Abs. 3 Nr. 2 GWB präkludiert war.

DVNW_Mitglied

Praxistipp

Bis sich eine klare Linie in der deutschen und europäischen Rechtsprechung in Bezug auf die Transparenzpflichten bei Bewertungen nach Punkten oder Schulnoten durchgesetzt hat, sollten öffentliche Auftraggeber vorsorglich Kriterien zur Erreichung der einzelnen Punktestufen bilden und bekanntmachen, um größtmögliche Rechtssicherheit bei der Ausschreibung zu erzielen. Denn die Intransparenz von Wertungskriterien wird von unterlegenen Bietern in Nachprüfungsverfahren durchaus häufiger erfolgreich vorgebracht.

Hinsichtlich der Auswirkungen der neuen Rechtsprechung des EuGH zur Transparenz qualitativer Zuschlagskriterien verweisen wir auf die lesenswerten Beiträge der Kollegen Dr. Peter Neusüß (Vergabeblog.de vom 21/08/2016, Nr. 27080) und Dr. Roderic Ortner (Vergabeblog.de vom 25/09/2016, Nr. 27344) in diesem Medium.

Kontribution
Dieser Beitrag wurde von Herrn RA´in Alexander Falk in Zusammenarbeit mit seiner Kollegin, Frau RA’in Marieke Schwarz , verfasst.

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Marieke Schwarz

Die Autorin Marieke Schwarz ist Rechtsanwältin bei Orth Kluth Rechtsanwälte in Düsseldorf. Ihr Tätigkeitsbereich umfasst das Vergaberecht und das Öffentliche Recht. Im Vergaberecht berät und begleitet sie seit mehreren Jahren bundesweit öffentliche Auftraggeber und Bieter bei Ausschreibungen von Liefer-, Bau- und Dienstleistungen, sowie freiberuflichen Leistungen.