Muss sich ein Unternehmen bei der Selbstreinigung selbst bezichtigen? (VK Südbayern, Beschl. v. 07.03.2017 – Z 3-3-3194-1-45-11/16)
Wie weit geht die Aufklärungspflicht für Unternehmen gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber bei der Selbstreinigung und wann beginnt die Ausschlussfrist des § 126 Nr. 2 GWB? Hat sich ein Unternehmen rechtswidrig verhalten, so gelingt ihm die Selbstreinigung nach § 125 GWB nur, wenn es die Tatsachen und Umstände, die mit der Straftat oder dem Fehlverhalten und dem dadurch verursachten Schaden in Zusammenhang stehen, durch eine aktive Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden und dem öffentlichen Auftraggeber umfassend klärt. Geht das aber soweit, dass das Unternehmen dem öffentlichen Auftraggeber sämtliche Informationen für einen erfolgreichen Schadenersatzprozess liefern muss, um nicht ausgeschlossen zu werden?
Die Vergabekammer Südbayern ist der Ansicht, dass dies nach der neuen Rechtslage so sein dürfte. Gleichzeitig hat sich die VK Südbayern gefragt, wann denn die Ausschlussfrist bei den fakultativen Ausschlussgründen beginnt. Der Begriff des „betreffenden Ereignisses“ ist nicht so klar, wie man bei erstem Lesen vermuten könnte. Oft dauert es lange, bis ein Fehlverhalten überhaupt ans Licht kommt. Ist das Fehlverhalten das „betreffende Ereignis“ könnte die Ausschlussfrist abgelaufen sein. Die VK Südbayern hat dem EuGH beide Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
EU-Richtlinien 2014/24/EU und 2014/25/EU, § 125 GWB, § 126 GWB
Leitsatz (gekürzt)
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung der Richtlinien 2014/24/EU und 2014/25/EU von der Vergabekammer Südbayern folgende Fragen zur Vorabentscheidung nach Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vorgelegt:
- Ist eine mitgliedsstaatliche Regelung, die zur Voraussetzung für eine erfolgreiche Selbstreinigung eines Wirtschaftsteilnehmers macht, dass dieser die Tatsachen und Umstände, die mit der Straftat oder dem Fehlverhalten und dem dadurch verursachten Schaden in Zusammenhang stehen, durch eine aktive Zusammenarbeit nicht nur mit den Ermittlungsbehörden, sondern auch mit dem öffentlichen Auftraggeber umfassend klärt, mit den Vorgaben der Richtlinie 2014/25/EU vereinbar?
- Für die fakultativen Ausschlussgründe beträgt die Frist für einen Ausschluss drei Jahre ab dem betreffenden Ereignis. Ist unter dem betreffenden Ereignis schon die Verwirklichung der Ausschlussgründe zu verstehen oder ist der Zeitpunkt maßgeblich, zu dem der Auftraggeber über gesicherte und belastbare Kenntnis über das Vorliegen des Ausschlussgrundes verfügt?
Sachverhalt
Die Stadtwerke München haben den Weichenhersteller Vossloh Laeis von einer Ausschreibung ausgeschlossen. Das Unternehmen war Teil des so genannten Schienenkartells zulasten von Nahverkehrsunternehmen. Im Jahr 2013 hatte das Bundeskartellamt Bußgelder von insgesamt knapp 100 Millionen Euro verhängt.
Eine erfolgreiche Selbstreinigung wurde abgelehnt. Als Begründung führte der Auftraggeber an, das Unternehmen sei verpflichtet, dem Auftraggeber sämtliche Details zur Beteiligung an früheren Kartellen offenzulegen, inklusive detaillierter Angaben zu Schäden durch diese Kartellbeteiligung, z.B. überhöhte Preise.
Vossloh lehnt das bislang ab, denn genau diese Angaben brauchen die Stadtwerke, um ihre Schadenersatzansprüche gegen Vossloh erfolgreich durchzusetzen. Ein entsprechendes Verfahren auf Zahlung von Schadensersatz läuft bereits.
Die Entscheidung
Muss ein Bieter so weit gehen, um eine erfolgreiche Selbstreinigung darzustellen? Nach deutschem Recht ist das – zumindest in den Augen der Vergabekammer Südbayern – seit vergangenem Jahr so (Az. Z 3-3-3194-1-45-11/16). In der 2014 in Kraft getretenen EU-Vergaberichtlinie ist geregelt, dass ein Wirtschaftsteilnehmer für eine erfolgreiche Selbstreinigung mit den Ermittlungsbehörden aktiv zusammenarbeiten muss. Die deutsche Umsetzung der Richtlinie im GWB geht aber weiter: Alles zu den Verstößen und den dadurch verursachten Schaden muss nicht nur mit den Behörden, sondern auch mit dem öffentlichen Auftraggeber umfassend geklärt werden.
Auch hinsichtlich der Ausschlussfrist gibt es Unsicherheit. 127 GWB regelt, dass Unternehmen bei Vorliegen eines fakultativen Ausschlussgrundes höchstens drei Jahre ab dem betreffenden Ereignis von der Teilnahme an Vergabeverfahren ausgeschlossen werden. Auf den ersten Blick scheint der Wortlaut klar. Das betreffende Ereignis ist das relevante Fehlverhalten. Danach wäre die die Ausschlussfrist im Jahre 2016 bereits abgelaufen. Bei genauerem Hinsehen ergeben sich aber Zweifel. Straftaten oder anderes Fehlverhalten, wie z.B. wettbewerbsschädigendes Verhalten sind oft nur schwer aufzudecken und nachzuweisen. Sie gelangen unter Umständen erst nach längerer Zeit ans Licht. Das erscheint als eine unangemessene Bevorzugung des nicht gesetzestreuen Unternehmens. Es könnte daher auch ausgehend von § 124 Abs. 4 GWB und § 6e Abs. 6 Nr. 4 EU-VOB/A der Zeitpunkt gemeint sein, zu dem der Auftraggeber über gesicherte und belastbare Kenntnis über das Vorliegen des Ausschlussgrundes verfügt.
Rechtliche Würdigung
Die Forderung, alle für die Geltendmachung eines Schadenersatzes notwendigen Angaben im Vergabeverfahren offenzulegen, würde das Zivilrecht unangemessen aushöhlen. Sachgerechter erscheint es, dass der jeweilige Wirtschaftsteilnehmer für eine erfolgreiche Selbstreinigung nur insoweit gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber zur Sachverhaltsaufklärung verpflichtet ist, dass dieser beurteilen kann, ob die ergriffenen Selbstreinigungsmaßnahmen (technische, organisatorische und personelle Maßnahmen und Schadenskompensation) geeignet und ausreichend sind.
Diese Annahme belegen auch die Ausführungen im Entwurf des Gesetzes zur Modernisierung des Vergaberechts der Bundesregierung (BT Drs. 18/6281): Dort wird zunächst darauf verwiesen, dass der öffentliche Auftraggeber zur Prüfung der Zuverlässigkeit des Bieters in der Lage sein muss, die durchgeführten Selbstreinigungsmaßnahmen vor dem Hintergrund des bestehenden Ausschlussgrundes zu beurteilen. Da der Bieter mit seinem Delikt oder Fehlverhalten die Ursache für die Notwendigkeit einer Selbstreinigungsprüfung gesetzt habe, müsse er den öffentlichen Auftraggeber durch aktive Zusammenarbeit in die Lage versetzen, die ergriffenen Selbstreinigungsmaßnahmen unter Berücksichtigung der Schwere und der besonderen Umstände der Straftat oder des Fehlverhaltens zu bewerten. Eine Sachverhaltsaufklärungspflicht im Hinblick auf alle Details der Straftat oder des Fehlverhaltens bestehe gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber aber nicht, sondern nur hinsichtlich der für seine Prüfung relevanten Umstände.
Praxistipp
Wenn die deutsche Vorschrift gilt und auch vom EuGH nicht beanstandet wird, dürfte dies dazu führen, dass die öffentlichen Auftraggeber in größerem Umfang Schadenersatzansprüche geltend machen. Es ist ja dann leichter für sie, diese Ansprüche zu belegen. Sie haben ein starkes Druckmittel gegen Bieter, die im Zweifel eher die Informationen herausrücken, als vom Vergabeverfahren ausgeschlossen zu werden. Hinsichtlich der Auslegung des Begriffs des betreffenden Ereignisses sollte es auf die Kenntnis des Auftraggebers ankommen. Das legt die o.g. Begründung des Gesetzentwurfs nahe. Dort wird explizit ausgeführt, dass das betreffende Ereignis bei dem fakultativen Ausschlussgrund eines Verstoßes gegen Wettbewerbsrecht insbesondere die Entscheidung der zuständigen Kartellbehörde über das Vorliegen eines Wettbewerbsverstoßes sei.