Auftraggeber müssen auch nicht rechtzeitig eingereichte Bieterfragen beantworten (VK Bund, Beschl. v. 28.01.2017 – VK 2 – 129/16)
Öffentliche Auftraggeber sind zu jedem Zeitpunkt des Vergabeverfahrens, auch kurz vor Ende der Angebotsfrist, verpflichtet, erkannte Defizite oder Fehler in den Vergabeunterlagen zu korrigieren, selbst wenn sie auf das Defizit oder den Fehler erst durch eine verspätete Bieteranfrage aufmerksam werden, so die Vergabekammer. Ob sich diese Auffassung durchsetzt und daher die Angebotsfrist entgegen dem Wortlaut des § 10a EU Abs. 6 S. 1 Nr. 1 VOB/A auch bei nicht rechtzeitigen Bieteranfragen zu verlängern ist, bleibt abzuwarten. Richtig ist aber, dass, wenn Auskünfte erteilt werden, diese stets sämtlichen Bietern zur Verfügung zu stellen sind.
§ 10a EU Abs. 6 VOB/A, § 20 Abs. 3 VgV, Art. 47 Abs. 3 Richtlinie 2014/24/EU
Leitsätze des Bearbeiters
- Unabhängig von der Verlängerung der Angebotsfrist müssen öffentliche Auftraggeber Antworten, die nicht nur in einer Wiederholung der Vergabeunterlagen bestehen, jeweils sämtlichen Bietern zur Verfügung stellen, auch wenn diese aus ihrer Sicht irrelevant sind.
- Es ist nicht Sache des öffentlichen Auftraggebers, sondern Angelegenheit der Bieter, über die Relevanz von gegebenen Zusatzinformationen oder Klarstellungen zu entscheiden.
- Auftraggeber können allenfalls Bieteranfragen wegen fehlender Relevanz in der Sache gänzlich unbeantwortet lassen.
Sachverhalt
Die Antragsgegnerin schrieb unter anderem Trocken-und Nassbaggerarbeiten bezüglich ca. 200.000 m³ Bodens einschließlich dessen teilweiser Entsorgung aus. Die Bieter hatten Einheitspreise für die verschiedenen Bodenbelastungsklassen (Z1, Z2, Z3) anzubieten. Ein Gutachten zur Bodenbeschaffenheit war den Vergabeunterlagen beigefügt.
Kurz nach Ablauf der 6 Tages Frist des § 10a EU Abs. 6 S. 1 Nr. 1 VOB/A stellte ein dritter Bieter verschiedene Fragen zur Zusammensetzung des Bodens. Die Antragsgegnerin antwortete, sie sei zwar zur Antwort nicht verpflichtet, da die Fragen zu spät gestellt worden seien. Sie beantworte die Fragen aber freiwillig. Die Antworten enthielten auch Angaben, aus denen sich Rückschlüsse auf die Verteilung des Bodens auf die verschiedenen Bodenbelastungsklassen ergeben könnten. Eine Bieterinformation an alle Bieter unterblieb, da aus Sicht der Vergabestelle die Auskünfte jedenfalls deswegen unerheblich waren, da für die verschiedenen Bodenbelastungsklassen jeweils ein Einheitspreis anzubieten war.
Die Antragstellerin strengte ein Nachprüfungsverfahren an, da sie die Bewertung für rechtswidrig hielt (nicht Gegenstand dieser Besprechung).
Die Entscheidung
Die Vergabekammer wies die Einwände der Antragstellerin zur Bewertung zurück. Von Amts wegen entschied die Vergabekammer jedoch, dass das Vergabeverfahren partiell in den Stand vor Versendung der Vergabeunterlagen zurückzuversetzen sei.
Zwar setze § 10a EU Abs. 1 Nr. 1 VOB/A für eine Verlängerung der Angebotsfrist voraus, dass die Bieterfrage rechtzeitig gestellt wurde. Davon bliebe aber die Pflicht eines öffentlichen Auftraggebers unberührt, Defizite und Fehler des Vergabeverfahrens jederzeit, also auch kurz vor Ablauf der Angebotsfrist, zu korrigieren und ggf. die Angebotsfrist unabhängig von § 10a EU Abs. 1 Nr. 1 VOB/A zu verlängern. Auch wenn eine vorvertragliche Sorgfaltspflicht der Bieter bestehe, Fragen unverzüglich zu stellen, habe ein Bieter aber auch das Recht, die Angebotsfrist voll auszuschöpfen. Dann auftauchende Unklarheiten müsse der Auftraggeber auch kurz vor Ende der Angebotsfrist noch korrigieren.
Im vorliegenden Fall kam es darauf letztlich gar nicht an. Die Antragsgegnerin beantwortete die Fragen des Bieters aus ihrer Sicht trotz Fristablaufs freiwillig. Dann aber, so die Vergabekammer, sei sie auch verpflichtet gewesen, diese Antwort allen Bietern zur Verfügung zu stellen. Dies gelte auch, wenn sie die Antwort für irrelevant hält. Es sei Sache der Bieter, die Relevanz von Informationen zu beurteilen. Hält ein Auftraggeber Fragen für (völlig) irrelevant, so darf sie auch dem Bieter, der die Frage gestellt hat, nicht antworten. Ob eine Antwort relevant für die Angebotserstellung ist oder nicht, sei erst für die Frage erheblich, ob die Angebotsfrist zu verlängern sei.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung ist im Ergebnis richtig: Antwortet eine Vergabestelle einem Bieter, muss sie im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung diese Informationen allen Bietern zur Verfügung stellen, falls sie nicht vollständig und unzweifelhaft bereits in den Vergabeunterlagen vorhanden waren. Ist die Vergabestelle der Auffassung, die Fragen seien irrelevant, kann sie dies dem fragenden Bieter mitteilen, darf aber nicht – gleichsam hilfsweise – die Fragen doch noch beantworten, allen anderen aber mit diesem Argument die Antwort vorenthalten. Das wäre schon in sich widersprüchlich.
Problematisch ist die – letztlich in einem obiter dictum vertretene – Auffassung der Vergabekammer, auch verspätete Fragen müssten noch beantwortet und die Angebotsfrist ggf. verlängert werden, wenn die Fragen Fehler oder Defizite des Vergabeverfahrens aufzeigen. Diese Auffassung widerspricht im Ergebnis § 10a EU Abs. 6 S. 3 VOB/A. Demnach ist der Auftraggeber zur Fristverlängerung nicht verpflichtet, wenn die Zusatzinformation nicht rechtzeitig angefordert wurde oder für die Erstellung der Angebote unerheblich ist. Aus der Verknüpfung durch das Wort „oder“ folgt, dass ein öffentlicher Auftraggeber die Frist auch dann nicht verlängern muss, wenn erhebliche Zusatzinformationen nicht rechtzeitig angefordert wurden. Sind Zusatzinformationen erheblich, so liegt aber regelmäßig ein Defizit der Vergabeunterlagen vor. Nach Auffassung der Vergabekammer müsste in diesen Fällen daher entgegen dem klaren Wortlaut des § 10a EU Abs. 6 S. 3 VOB/A die Angebotsfrist verlängert werden. Die Vergabekammer kann die Regelung auch nicht unter Verweis auf strengere Anforderungen des Europarechts unangewendet lassen, da die Regelung wortgleich in Art. 47 Richtlinie 2014/24/EU enthalten ist.
Der Widerspruch zwischen § 10a EU Abs. 6 S. 3 VOB/A und dem Grundsatz, dass Defizite des Vergabeverfahrens zu jedem Zeitpunkt des Vergabeverfahrens zu korrigieren sind, lässt sich dadurch auflösen, dass Bieter Unklarheiten in den Vergabeunterlagen rechtzeitig durch entsprechende Nachfragen aufklären müssen und sie – anders als die Vergabekammer meint – kein Recht haben, hierfür die Angebotsfrist voll auszuschöpfen. So hat beispielsweise das OLG Frankfurt entschieden, dass es dem Bieter obliegt, den Auftraggeber auf Defizite in den Vergabeunterlagen aufmerksam zu machen und Aufklärung zu verlangen (OLG Frankfurt, Beschluss vom 02. Dezember 2014 11 Verg 7/14, Rn. 55, juris). Aus § 10a EU Abs. 6 VOB/A würde folgen, dass er diese Auskünfte rechtzeitig verlangen muss und die Angebotsfrist dafür gerade nicht voll ausschöpfen darf. Insgesamt erscheint die Rechtsprechung zum alten Recht aber uneinheitlich. Wie sich die Rechtsprechung zukünftig entwickelt, bleibt abzuwarten.
Praxistipp
- Im Zweifel sind stets alle Bieter über einem Bieter gegebene Antworten zu informieren.
- Bieter sollten bei Unklarheiten rechtzeitig Fragen stellen, um nicht zu riskieren, dass die Unklarheit zu ihren Lasten ausgelegt wird oder sie mit dieser Frage nicht mehr gehört werden. Ob sie hierfür die gesamte Angebotsfrist ausschöpfen dürfen, ist jedenfalls zweifelhaft.
- Vergabestellen müssen bei nicht rechtzeitigen, erheblichen Bieteranfragen zwischen der Verzögerung einer Angebotsfristverlängerung und den rechtlichen Unsicherheiten bei Nichtverlängerung abwägen. Rechtssicher ist stets die Alternative, die Angebotsfrist zu verlängern.