Dauerbrenner Auslegung und Aufklärung von Angeboten – Wichtige Klarstellungen für die Praxis aus Düsseldorf (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.03.2017 – VII-Verg 54/16)
Die Auslegung von Angebotsinhalten ist in der Vergabepraxis oftmals hoch umstritten. Bieter wollen ihre Angebote in der Regel als ausschreibungskonform verstanden wissen. Auftraggeber müssen nach allgemeinen Grundsätzen unter Berücksichtigung der Verkehrssitte den wirklichen Willen des Bieters ermitteln. Abhängig vom Auslegungsergebnis verbleibt das Angebot im Wettbewerb oder muss wegen einer Änderung der Vergabeunterlagen ausgeschlossen werden. Eine hinreichend belastbare Grundlage für diese Entscheidung besteht oftmals erst, wenn offene Fragen im Rahmen der Aufklärung beantwortet werden. Der Beschluss des OLG Düsseldorf vom 22.03.2017 (VII-Verg 54/16) bringt für die Vergabepraxis einige wichtige Klarstellungen zu den Rahmenbedingungen für die Auslegung und Aufklärung von Angebotsinhalten.
§ 16 EU Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 13 EU Abs. 1 Nr. 5 VOB/A; § 15 EU Abs. 1 und 2 VOB/A
Leitsätze (des Verfassers)
- Es gibt keinen Erfahrungssatz, dass der Bieter stets das vom Auftraggeber Nachgefragte anbieten will, auch wenn ihm redliche und interessengerechte Absichten zu unterstellen sind. Ergibt die Auslegung einer im Rahmen der Aufklärung vom Bieter abgegebenen Erklärung eindeutig, dass der Bieter nicht das anbietet, was der Ausschreibende bestellt hat, ist das Angebot wegen unzulässiger Änderung an den Vergabeunterlagen zwingend auszuschließen.
- Für eine Aufklärung über das Angebot ist durch den Auftraggeber einzelfallabhängig eine angemessene Frist zu bestimmen. Ist der Bieter vor dem eigentlichen Aufklärungsverlangen bereits mehrfach auf den bestehenden Aufklärungsbedarf hingewiesen worden, kann auch eine kürzere Frist als eine Woche angemessen sein.
- Die wirksame Anfechtung einer im Rahmen der Aufklärung abgegebenen Willenserklärung lässt die abgegebene Erklärung entfallen, ohne dass etwas anderes an ihre Stelle treten würde. Das hat den zwingenden Ausschluss wegen unzureichender Mitwirkung im Rahmen der Aufklärung nach § 15 EU Abs. 2 VOB/A zur Folge.
Sachverhalt
Die Antragsgegnerin schrieb mit europaweiter Bekanntmachung im Rahmen eines Bauvorhabens Metallbau- und Schlossarbeiten im offenen Verfahren aus. Teil der geforderten Leistung war die Werk- und Montageplanung für die anschließend auszuführenden Fenster, Türen, Tore und Rauchschutzvorhänge. Zuschlagskriterium war der niedrigste Preis. Die Vergabeunterlagen enthielten unter anderem einen Detailbauablaufplan sowie eine Übersicht „Verbindliche Einzelfristen (Vertragstermin)“ für die geforderten Leistungen.
Für die Abgabe der Werk- und Montageplanung waren in diesen Unterlagen zwei Termine festgelegt, der 21.11.2016 als „Vertragstermin Teil 1“ und der 05.12.2016 als „Vertragstermin Teil 2“. Beide Daten waren verbindliche Fristen im Sinne von § 5 Abs. 1 VOB/B. Die Antragstellerin wurde nach dem Eingang ihres Angebots zu einem Aufklärungsgespräch geladen, weil sie für die Werk- und Montageplanung einen ungewöhnlich hohen Preis angeboten hatte. Preisgrundlage war ein vergleichsweise hoher Zeitaufwand bei der Antragstellerin. Im Aufklärungsgespräch erklärte sie auf Nachfrage, gleichwohl die vorgegebenen Vertragstermine einhalten zu wollen. Anschließend forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin auf, innerhalb von vier Tagen schriftlich darzulegen, wie sich die dem Preis zugrunde liegende hohe Stundenzahl auf die einzelnen im Detailbauablaufplan vorgesehenen Arbeitsschritte verteile. Aus der daraufhin übersandten tabellarischen Übersicht über die kalkulierten Stunden ergab sich, dass die Antragstellerin für die Werk- und Montageplanung Teil 1 teilweise einen Planungszeitraum von 55 Werktagen vorsah. Bei einem zugrunde gelegten Beginn der Planungsarbeiten am 30.09.2016 ergab sich daraus ein Abgabetermin für die Werk- und Montageplanung Teil 1 nach dem 21.11.2016.
Daraufhin schloss die Antragsgegnerin das Angebot der Antragstellerin von der Wertung aus. In der Anlage zu ihrem Rügeschreiben übersandte die Antragstellerin erneut die tabellarische Übersicht über die von ihr kalkulierten Stunden mit der handschriftlichen Ergänzung eines Abgabetermins „5.12.16“ für die Werk- und Montageplanung Teil 1. Im Nachgang zum Termin zur mündlichen Verhandlung vor der Vergabekammer erklärte die anwaltlich vertretene Antragstellerin „höchstvorsorglich“ die Anfechtung ihrer Erklärungen zur Abgabe der Werk- und Montageplanung Teil 1 mit einem bei der Vergabekammer eingereichten Schriftsatz. Außerdem machte sie geltend, dass der Auftraggeber zur nochmaligen Aufklärung verpflichtet gewesen sei. Nachdem der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zurückgewiesen wurde, erhob sie sofortige Beschwerde beim Vergabesenat des OLG Düsseldorf.
Die Entscheidung
Die sofortige Beschwerde wurde zurückgewiesen, weil der Nachprüfungsantrag unbegründet sei. Der Angebotsausschluss sei nach § 16 EU Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 13 EU Abs. 1 Nr. 5 VOB/A gerechtfertigt und verletze die Antragstellerin nicht in ihren Rechten. Das Angebot habe nicht den Vergabeunterlagen entsprochen, weil es andere als die festgelegten Ausführungsfristen gemäß § 5 Abs. 1 VOB/B vorgesehen habe. Abweichend von dem insoweit vorgegeben Vertragstermin 21.11.2016 habe die Antragstellerin beabsichtigt, die Werk- und Montageplanung für Tore und Rauchschutzvorhänge erst am 05.12.2016 abzugeben.
Dieser Angebotsinhalt ergebe sich zwar nicht aus den zum Submissionstermin eingereichten Erklärungen. Die von der Antragstellerin im Rahmen der Angebotsaufklärung abgegebenen Erklärungen zu den vertraglichen Ausführungsfristen seien von der Antragsgegnerin bei der Angebotsprüfung jedoch zu berücksichtigen gewesen. Es gebe nach ständiger Rechtsprechung keinen Erfahrungssatz, dass der Bieter stets das vom Auftraggeber Nachgefragte anbieten will, auch wenn ihm redliche und interessengerechte Absichten zu unterstellen sind (OLG Schleswig, Beschl. v. 11.05.2016 – 54 Verg 3/16). Das Aufklärungsverlangen sei durch § 15 EU Abs. 1 Nr. 1 VOB/A gerechtfertigt gewesen, weil die Antragstellerin auf die Position der Werk- und Montageplanung einen ungewöhnlich hohen Preis angeboten habe. Zwar sei die von der Antragsgegnerin bestimmte Frist zur Einreichung der geforderten Aufschlüsselung der Stunden, die die Antragstellerin dem Preis für die Werk- und Montageplanung zugrunde legte, mit vier Tagen sehr kurz bemessen (OLG Celle, Beschl. v. 14.12.2015 – 13 Verg 8/15). Dass die Frist unangemessen kurz und damit unwirksam war, könne jedoch nicht festgestellt werden, da die Antragstellerin bereits deutlich früher über das Aufklärungsverlangen und das Aufklärungsthema informiert gewesen sei.
Die im Rahmen der Aufklärung abgegebenen Erklärungen der Antragstellerin seien eindeutig gewesen. Daher bestehe keine Grundlage für die von ihr geforderte weitere Aufklärung. Die von der Antragstellerin erklärte Anfechtung der im Rahmen der Aufklärung abgegebenen Erklärungen laufe vergaberechtlich, so der Senat weiter, selbst dann ins Leere, wenn man sie zivilrechtlich für wirksam erachte. Denn in diesem Fall lasse die Anfechtung die abgegebene Erklärung entfallen, ohne dass etwas anderes an ihre Stelle treten würde. Das habe den zwingenden Ausschluss wegen unzureichender Mitwirkung im Rahmen der Aufklärung nach § 15 EU Abs. 2 VOB/A zur Folge.
Rechtliche Würdigung
Die besprochene Entscheidung überzeugt im Ergebnis und in ihrer Begründung.
Die Antragsgegnerin durfte schriftliche Aufklärung über die Grundlagen der Kalkulation des für die auftragsgegenständlichen Werk- und Montageplanung angebotenen vergleichsweise hohen Preises verlangen. Mit der vorgelegten Übersicht über den für diese Planungsleistungen kalkulierten Zeitaufwand hatte die Antragstellerin erstmalig und vergaberechtlich verbindlich eine Erklärung über die Umsetzung der mit dieser Leistungsposition verbundenen Anforderungen abgegeben (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 05.10.2016 – VII-Verg 24/16). Die von der Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang gesetzte kurze Frist von nur vier Tagen war nicht zu beanstanden, weil das Aufklärungsthema bereits vorher Gegenstand der Gespräche war.
Aufgrund der von der Antragstellerin abgegebenen Erklärung stand eindeutig fest, dass sie die terminlichen Anforderungen an die Werk- und Montageplanung nicht einhalten wird. Damit bestand auch keine Grundlage für eine weitere Aufklärung. Das Angebot war angesichts der zuvor ermittelten eindeutigen Abweichung von den festgelegten Vertragsterminen weder aufklärungsbedürftig noch aufklärungsfähig. Bieter haben keinen vergaberechtlichen Anspruch auf Aufklärung „bis es passt“. Im Gegenteil hätte eine erneute Nachfrage der Antragsgegnerin und eine daraufhin ggf. erklärte Korrektur der zuvor abgegebenen Erklärung über den kalkulierten Zeitaufwand eine nach § 15 EU Abs. 3 VOB/A verbotene Nachverhandlung dargestellt (vgl. auch insoweit OLG Düsseldorf, Beschl. v. 05.10.2016 – VII-Verg 24/16).
Der Senat beschreibt sehr anschaulich die im Rahmen der Angebotsaufklärung bestehenden Zusammenhänge zwischen Vergaberecht und Zivilrecht.
Die Antragstellerin unterlag bei der Abgabe der Aufschlüsselung der von ihr kalkulierten Stunden keinem zu einer Anfechtung berechtigenden Irrtum, was schon daraus folgt, dass sie an der Erklärung zu dem kalkulierten Zeitaufwand („55 Werktage“) mit ihrem Rügeschreiben ausdrücklich festhielt und den daraus errechneten (verspäteten) Abgabetermin mit dem handschriftlichen Zusatz „5.12.16“ sogar noch bestätigte. Da die Anfechtungserklärung zudem erst im Nachgang zur mündlichen Verhandlung vor der Vergabekammer schriftsätzlich abgegeben wurde, erfolgte sie– entgegen § 121 BGB – auch nicht mehr unverzüglich. Diese zivilrechtlichen Fragen konnte der Senat jedoch offenlassen. Denn selbst wenn die Antragstellerin ihre Erklärung wirksam angefochten hätte, wäre ihr Angebot auszuschließen gewesen. Da eine wirksame Anfechtung die angefochtene Erklärung entsprechend § 142 Abs. 1 BGB von Anfang an entfallen lässt, liegt dann im vergaberechtlichen Kontext eine Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit des Bieters im Rahmen der Aufklärung vor. Dies hat nach neuem Vergaberecht gemäß § 15 EU Abs. 2 VOB/A ebenfalls den zwingenden Angebotsausschluss zur Folge.
Praxistipp
Bieter dürfen auch nach der hier besprochenen Entscheidung darauf vertrauen, dass offene Fragen und Zweifel über ihre Angebote nach dem Submissionstermin noch im Wege der Aufklärung geklärt werden. Zwar eröffnet § 15 EU Abs. 1 Nr. 1 VOB/A Auftraggebern ein Aufklärungsermessen. Dieses Aufklärungsermessen ist jedoch dahingehend eingeschränkt, dass nach der Intention VOB/A Angebotsausschlüsse aus lediglich formalen Gründen nach Möglichkeit zu vermeiden sind. Auftraggeber dürfen Angebote, die bei Vorliegen formaler Mängel jedenfalls wegen widersprüchlicher oder unvollständiger Angaben (Erklärungen oder Nachweise) an sich „ausschlusswürdig“ sind, nicht ohne Weiteres von der Wertung ausnehmen, ohne dem von einem Ausschluss bedrohten Bieter zuvor im Wege der Aufklärung Gelegenheit gegeben zu haben, den Tatbestand der Widersprüchlichkeit oder Unvollständigkeit nachvollziehbar auszuräumen (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.05.2016 – VII-Verg 50/15, Beschl. v. 21.10.2015 – VII-Verg 35/15; OLG Schleswig, Beschl. v. 11.05.2016 – 54 Verg 3/16; VK Bund, Beschl. v. 17.02.2017 – VK 2-14/17).
Die hier besprochene Entscheidung zeigt jedoch deutlich, dass ein solches eingeschränktes Ermessen zugunsten einer Aufklärungsentscheidung des Auftraggebers nicht in jedem Fall besteht. Voraussetzung für eine Aufklärung bleibt, dass Zweifel über die Eignung des Bieters oder über den Inhalt seines Angebots bestehen. Weicht das Angebot aufgrund der bereits vorliegenden Erklärungen des Bieters zweifelsfrei von den Vorgaben der Vergabeunterlagen ab, besteht keine Grundlage für eine Aufklärung. Sofern man § 15 EU Abs. 1 Nr. 1 VOB/A dann nicht schon tatbestandlich für unanwendbar hält, ist das Aufklärungsermessen im Fall einer eindeutig abweichenden Bietererklärung dahingehend auf Null reduziert, dass eine Entscheidung des Auftraggebers für eine Aufklärung vergaberechtlich unzulässig wäre. Denn eine „Aufklärung“ einer eindeutig abweichenden Bietererklärung bedeutet im offenen und im nicht offenen Verfahren immer eine nach § 15 EU Abs. 3 VOB/A unzulässige Verhandlung über eine Angebotsänderung.
Sensibel sollten Bieter auch hinsichtlich der im Rahmen der Aufklärung bestehenden Mitwirkungsobliegenheit sein. Nach alter Rechtslage stand ein Ausschluss wegen verweigerter oder nicht fristgerechter Aufklärung gemäß §§ 15 EG Abs. 2, 15 Abs. 2 VOB/A stets im Ermessen des Auftraggebers (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 15.08.2011 – VII-Verg 71/11); dasselbe gilt mangels ausdrücklicher Regelung auch bei der Vergabe von Liefer- und Dienstleistungsaufträgen nach der VgV, UVgO und der VOL/A (1. Abschnitt). Für Bauauftragsvergaben folgt in diesen Fällen nach neuem Recht gemäß § 15 EU Abs. 2 VOB/A (ebenso nach § 15 Abs. 2 VOB/A) nunmehr der zwingende Angebotsausschluss.
Auftraggeber sind gut beraten, wenn sie im Rahmen der Angebotsprüfung genau ermitteln und dokumentieren, ob eine zur Aufklärung berechtigende Unklarheit oder ein Zweifel vorliegt. Dann besteht ggf. sogar eine Aufklärungspflicht. Eindeutig von den Vorgaben der Vergabeunterlagen abweichende Angebote sind dagegen immer zwingend auszuschließen. Eine undifferenzierte Nachfragepraxis begründet stets das vergaberechtliche Risiko einer unzulässigen Nachverhandlung, selbst wenn sie unter dem Deckmantel der Aufklärung betrieben wird.