Bereitstellung der Vergabeunterlagen in zweistufigen Verfahren – sämtliche Vergabeunterlagen müssen bereits im Zeitpunkt der Auftragsbekanntmachung zur Verfügung stehen (OLG München, Beschl. v. 13.03.2017 – Verg 15/16)
Seit dem Inkrafttreten des neuen europäischen Vergaberechts am 18. April 2016 bewegt die Vergabepraxis die Frage, ob auch bei Vergabeverfahren mit vorgeschaltetem Teilnahmewettbewerb sämtliche Vergabeunterlagen bereits im Zeitpunkt der Auftragsbekanntmachung zur Verfügung gestellt werden müssen. Das OLG München hat als erstes deutsches Obergericht entschieden, dass die gesamten Vergabeunterlagen auch bei zweistufigen Verfahren bereits mit Veröffentlichung der Auftragsbekanntmachung bereitzustellen sind.
VgV 2016, § 41 Abs. 1, § 29 Abs. 1; SektVO 2016, § 41 Abs. 1
Sachverhalt
Der Auftraggeber schrieb die stufenweise Beauftragung der Leistungen für die Tragwerksplanung für den Neubau des Verwaltungsgebäudes eines Energieversorgungsunternehmens aus. Da der Auftraggeber im Zeitpunkt der Veröffentlichung der Auftragsbekanntmachung erst die für den Teilnahmewettbewerb erforderlichen Unterlagen fertiggestellt hatte, wurden auch nur diese Teilnahmeunterlagen öffentlich zugängig gemacht. Die für die Angebotsphase maßgeblichen Unterlagen (insbesondere Verfahrensbedingungen, Aufgabenbeschreibung und Vertragsentwurf) sollten den ausgewählten Bietern erst in der Angebotsphase zur Verfügung gestellt werden.
Die Entscheidung
Das OLG München stellte fest, dass die Vergabeunterlagen für die Angebotsphase bereits mit der Auftragsbekanntmachung den interessierten Unternehmen zur Verfügung zu stellen sind. Dass der Auftraggeber mit Einleitung des Teilnahmewettbewerbs allein die Teilnahmeunterlagen zur Verfügung gestellt hatte, begründe eine Verletzung des § 41 Abs. 1 SektVO (inhaltsgleich: § 41 Abs. 1 VgV). Danach sei eine elektronische Adresse anzugeben, unter der die Vergabeunterlagen uneingeschränkt und vollständig abgerufen werden können. Daraus folge, dass insbesondere im Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb bereits mit der Auftragsbekanntmachung die Vergabeunterlagen allen interessierten Unternehmen zur Verfügung zu stellen sind. Dies gilt nach Auffassung des Vergabesenats jedenfalls, soweit diese Unterlagen bei Auftragsbekanntmachung in einer finalisierten Form vorliegen können.
Das OLG München begründet seine Rechtsauffassung zum einen mit der amtlichen Begründung, wonach zu den Vergabeunterlagen „sämtliche Unterlagen gehören, die von Auftraggebern erstellt werden oder auf die sie sich beziehen, um Teile des Vergabeverfahrens zu definieren.“ Zum anderen dürften interessierte Bewerber ihre Teilnahme am Verfahren nicht zuletzt häufig davon abhängig machen, nach welchen Kriterien im weiteren Verlauf des Verfahrens der Zuschlag erteilt werden soll.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung des OLG München bestätigt die vom Gesetzgeber verfolgte Zielsetzung, dass interessierten Unternehmen auch bei zweistufigen Vergabeverfahren von vornherein vollständige Transparenz zu bieten ist. Hervorzuheben ist allerdings, dass das Gericht einschränkend hinzufügt, dass eine vollständige Bereitstellung der Vergabeunterlagen nur dann erforderlich sei, soweit diese Unterlagen bei der Auftragsbekanntmachung in einer finalisierten Form vorliegen können. Leider klärt das OLG München nicht, ob in diesem Zusammenhang objektive Gründe vorliegen müssen oder auch subjektive Aspekte (z. B. Kapazitäten oder andere verwaltungsorganisatorische Aspekte) ausreichend sein können.
Praxistipp
Die Entscheidung hat massive Auswirkungen auf die Praxis. Öffentliche Auftraggeber sind auch bei zweistufigen Verfahren gezwungen, sämtliche Informationen einem unbeschränkten Adressatenkreis zur Verfügung zu stellen. In praktischer Hinsicht besteht die Herausforderung darin, bereits im Zeitpunkt der Auftragsbekanntmachung die leistungsbezogenen Angebotsunterlagen vollständig fertiggestellt zu haben. Faktisch werden Vergabeverfahren hierdurch verlängert: Denn gerade bei komplexen Auftragsvergaben mit gegebenenfalls schwierigen zeitlichen Abhängigkeiten ist es Auftraggebern nunmehr verwehrt, den laufenden Teilnahmewettbewerb für die Fertigstellung der leistungsbezogenen Unterlagen zu nutzen.
Bieter könnten gehalten sein, mögliche Verfahrensverstöße in den leistungsbezogenen Unterlagen bereits im Teilnahmewettbewerb zu rügen bzw. leistungsbezogene Bewerberfragen zu stellen. Der Vergabesenat lässt jedoch offen, ob mit Blick auf leistungsbezogene Unterlagen in dieser Hinsicht gemäß § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB die Teilnahme- oder Angebotsabgabefrist entscheidend ist. Sowohl Auftraggeber als auch Bieter sollten daher die weitere Rechtsentwicklung aufmerksam beobachten. Denn das OLG München hat angedeutet, dass in bestimmten Fällen nicht alle Vergabeunterlagen bereits im Zeitpunkt der Auftragsbekanntmachung vorliegen müssten.