Das Märchen von der Flexibilität des Verhandlungsverfahrens (OLG München, Beschl. v. 21.04.2017 – Verg 1/17)

EntscheidungSeit der Vergabereform 2016 darf ein Auftraggeber im Verhandlungsverfahren die aufgestellten Mindestanforderungen nicht mehr verändern. Dadurch hat das Verhandlungsverfahren in dramatischer Weise an Flexibilität verloren. Die festgelegten Mindestanforderungen müssen zudem klar und bestimmt sein, ansonsten droht eine Zurückversetzung in das Stadium vor Erstellung der Vergabeunterlagen.

§ 17 Abs. 10 VgV, § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV

Sachverhalt

Der Auftraggeber (ein Klinik-Verbund) hat Analyse-Automaten für den klinischen Bereich in einem Verhandlungsverfahren ausgeschrieben. Im Leistungsverzeichnis waren diverse Anforderungen als Ausschlusskriterien definiert, u.a. sollten die Analyse-Automaten identische Systemplattformen besitzen. Der zweitplatzierte Bieter wendet sich gegen die Zuschlagserteilung an den Bestplatzierten mit dem Vorwurf, dessen Angebot würde die Ausschlusskriterien nicht erfüllen und dürfe daher nicht gewertet werden. Dieser habe verschiedene Analyse-Automaten angeboten, deren Systemplattformen sich hinsichtlich der Bedienoberfläche unterschieden. Der Auftraggeber verteidigte sich damit, er habe die Ausschlusskriterien durch Antworten auf Bieterfragen so konkretisiert bzw. abgeschwächt, dass keine Abweichung vorliege. Die Ausschlusskriterien seien aber auch ohne diese Konkretisierungen schon nicht so eng zu verstehen gewesen, wie der unterlegene Bieter das vorträgt. Insbesondere sei keine vollständige Identität aller Bedienoberflächen verlangt gewesen.

Die Entscheidung

Sowohl die Vergabekammer als auch das OLG München haben dem Nachprüfungsantrag des unterlegenen Bieters im Ergebnis stattgegeben. Das OLG München bewertet zunächst einmal alle Ausschlusskriterien zwanglos als Mindestanforderungen. Grundsätzlich gelte, dass aus Sicht eines verständigen und fachkundigen Bieters durch Auslegung zu ermitteln sei, was als Mindestanforderung festgelegt sei (Rn. 45). Mindestanforderungen dürfen aber im Verlaufe des Verfahrens nicht modifiziert werden. Das OLG München konnte im vorliegenden Fall jedoch nicht sicher feststellen, ob die Mindestanforderungen durch den Auftraggeber tatsächlich im Verlauf des Verfahrens in vergaberechtswidriger Weise modifiziert worden sind (Rn. 47). Denn das Gericht hat die konkret betroffenen Mindestkriterien schon in ihrer ursprünglichen Form als unklar und unbestimmt bewertet.

Es sei u.a. nicht ausreichend klar, ob die Forderung nach identischen Systemplattformen schon zu Beginn des Vergabeverfahrens so eng zu verstehen gewesen sei, dass auch völlig identische Bedienoberflächen verlangt worden sind. Es könne somit nicht festgestellt werden, ob die Antworten auf die Bieterfragen eine (unzulässige) Modifikation einer Mindestanforderung darstellten oder nicht (Rn. 53, 67). Die Unklarheit bzw. Unbestimmtheit der Ausschlusskriterien geht hier daher zu Lasten des Auftraggebers. Das Vergabeverfahren wurde in das Stadium vor Erstellung der Vergabeunterlagen zurückversetzt (Rn. 68).

Rechtliche Würdigung

Erstmals beschäftigt sich mit dem OLG München ein Vergabesenat mit den Neuregelungen des Verhandlungsverfahrens zu den sog. Mindestanforderungen. In § 17 Abs. 10 Satz 2 VgV und § 17 Abs. 13 S. 3 VgV findet sich seit der Vergabereform 2016 ein striktes Verbot für Änderungen an den Mindestanforderungen. Dieses Verbot ist neu. Vor der Reform 2016 war es nur unzulässig, zugunsten eines Bieters auf Mindestanforderungen zu verzichten. Das Gesetz verbietet nun aber ausdrücklich jedwede Modifikation.

Unter Mindestanforderungen versteht das OLG München alle Anforderungen in der Leistungsbeschreibung, die bei Nichteinhaltung zum Angebotsausschluss führen (Ausschlusskriterien, Mindestkriterien).

Sollte dieses Verständnis des OLG München zutreffen, hätte das Modifikationsverbot in § 17 Abs. 10 Satz 2 VgV und § 17 Abs. 13 S. 3 VgV zur Folge, dass ein Auftraggeber im Verhandlungsverfahren keinerlei Möglichkeit mehr hätte, seine Anforderungen an die Leistung im Verlauf des Verfahrens zu verändern. Denn er wäre von Gesetzes wegen gehindert, seinen möglicherweise veränderten Anforderungen eine verbindliche Wirkung für die verbleibenden Bieter zu geben. Er müsste daher auch am Ende des Verfahrens alle Angebote als zuschlagsfähig akzeptieren, die lediglich diejenigen Mindestanforderungen einhalten, die er zu Verfahrensbeginn festgelegt hat. Damit hätte der Auftraggeber im Verhandlungsverfahren sogar weniger Flexibilität als im offenen Verfahren, in dem bis zum Angebotsfristende Änderungen an den Vergabeunterlagen und damit auch an den Mindestanforderungen zulässig sind.

Noch gravierender ist aber die Konsequenz, dass ein Auftraggeber schon bei einer Konkretisierung von unklaren Mindestanforderungen Gefahr läuft, einen Vergabefehler zu begehen, da ein Bieter ihm vorwerfen könnte, schon durch die Konkretisierung in unzulässiger Weise Mindestanforderungen zu modifizieren. Im schlimmsten Fall kann bereits das zur Zurückversetzung in das Stadium vor Erstellung der Vergabeunterlagen führen.

Die Entscheidung des OLG München steht zwar mit dem Gesetzeswortlaut des neuen § 17 VgV und auch der europäischen Vergaberichtlinie im Einklang. Ob der europäische Gesetzgeber das Verbot der Modifikation von Mindestanforderungen allerdings so strikt verstanden wissen wollte, darf bezweifelt werden.

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Praxistipp

Das Verbot der Modifikation von Mindestanforderungen im Verhandlungsverfahren ist in der Praxis noch nicht angekommen. Unterlegene Bieter haben damit jedoch ein scharfes Schwert in der Hand, um Verhandlungsverfahren anzugreifen, in denen sie nicht zum Zug gekommen sind. Auftraggeber sollten sich bei der Gestaltung der Leistungsbeschreibung sehr genau überlegen, wie sie die Mindestanforderungen festlegen.