Freie Sozialträger als öffentliche Auftraggeber (VK Südbayern, Beschl. v. 04.09.2017 – Z3-3-3194-1-31-06/17)

EntscheidungPrivate Träger sozialer Einrichtungen, die im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art erfüllen, können selbst dann öffentliche Auftraggeber sein, wenn diese nicht überwiegend öffentlich finanziert werden. Ausschlaggebend hierfür kann auch eine staatliche Aufsicht sein. Auf die Unterscheidung zwischen Fach- und Rechtsaufsicht kommt es dabei nicht an. Entscheidend ist vielmehr, ob staatliche Stellen die Entscheidungen eines Sozialträgers auch in Bezug auf die Vergabe von Aufträgen beeinflussen können.

GWB § 99 Nr. 2

Leitsätze

  1. Ein privater Träger von Einrichtungen für soziale Leistungen, der im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art erfüllt (z.B. Betrieb von Förderschulen, Förderstätten, heilpädagogischen Tagestätten und Wohnheimen, etc.) und aufgrund dieser Aufgaben unterschiedlichen staatlichen Aufsichtsbefugnissen etwa nach dem PfleWoqG, dem BayEUG oder dem SGB VIII unterliegt, kann gemäß §§ 99 Nr. 2 lit. b) GWB auch dann öffentlicher Auftraggeber sein, wenn er nicht als überwiegend öffentlich finanziert i.S.d. § 99 Nr. 2 lit. a) GWB gilt.
  2. Die Erfüllung des Kriteriums der Aufsicht über die Leitung nach § 99 Nr. 2 lit. b) GWB hängt davon ab, ob die Aufsichtsbefugnisse es staatlichen Stellen potentiell ermöglichen, die Entscheidungen des Auftraggebers auch in Bezug auf öffentliche Aufträge zu beeinflussen.

Sachverhalt

Der freie Sozialträger schrieb die Leistungen für die Erbringung der Schülerspezialverkehre im offenen Verfahren europaweit aus. Der freie Sozialträger ist als gemeinnützige juristische Person des Privatrechts organisiert und Träger einer Tagesstätte, eines Förderzentrums mit Förderschule, einer Förderstätte, eines Wohnheims und einer Praxis- und Begegnungsstätte zur Förderung und Betreuung mehrfachbehinderter Kinder und Erwachsener.

Im Vergabenachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer Südbayern war umstritten, ob ein freier Sozialträger Auftraggeber im Sinne des § 99 Nr. 2 GWB ist.

Die Entscheidung

Die Vergabekammer gelangt zu der Einschätzung, dass der freie Sozialträger als öffentlicher Auftraggeber gemäß § 99 Nr. 2 GWB einzuordnen ist.

Die erste Voraussetzung der Vorschrift des §§ 99 Nr. 2 GWB liege vor, weil die Aufgaben des Sozialträgers im Allgemeininteresse liegen. Insoweit handele es sich um grundsätzlich vom Staat zu erbringende Transferleistungen. Auch von einer nichtgewerblichen Leistungserbringung sei auszugehen. Unternehmerische Risiken seien kaum vorhanden, weil die Einnahmequellen des Sozialträgers zum einen aus Spenden und Zuwendungen, hauptsächlich aber aus Transferleistungen aufgrund von Vereinbarungen nach den Regelungen der §§ 75 ff. SGB XII mit dem Sozialhilfeträger und aus Erstattungen der Krankenkassen für durchgeführte Therapien bestehen.

Auch die erforderliche staatliche Beherrschung liege vor. Diese ergebe sich jedoch nicht aus einer überwiegenden Finanzierung nach § 99 Nr. 2 lit. a) GWB. Denn die Einkünfte des freien Sozialträgers stammen zwar überwiegend von einer Gebietskörperschaft, also einem öffentlichen Auftraggeber nach § 99 Nr. 1 GWB. Allerdings handele sich nicht um eine Finanzierung, weil der freie Sozialträger spezifische Gegenleistungen erbringe. Wesen einer Finanzierung sei demgegenüber, dass eine solche ohne Gegenleistung gewährt werde.

Der freie Sozialträger sei allerdings deshalb öffentliche Auftraggeber, weil die Voraussetzungen des §§ 99 Nr. 2 lit. b) GWB vorliegen. Die Leitung der Einrichtung unterliege der Aufsicht einer Stelle nach § 99 Nr. 1 GWB. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH (vgl. EuGH, Urt. v. 12.09.2013 – C-526/11) stellt die Kammer zunächst klar, dass es auf die Unterscheidung nach Fach- und Rechtsaufsicht nicht ankomme. Die Aufsichtsbefugnisse müssten es ermöglichen, bei Vorliegen von Missständen steuernd in die laufende Geschäftstätigkeit einzugreifen. Unter Hinweis auf die einschlägigen Fachgesetze (PfleWoqG, BayEUG und SGB VIII) bejaht die Vergabekammer Südbayern anhand einer Gesamtschau aller bestehenden Aufsichtsbefugnisse einen potentiellen Einfluss des Staates.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung der Vergabekammer bestätigt eine Entwicklung in der vergaberechtlichen Rechtsprechung (vgl. z.B. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 19.06.2013 – VII-Verg 55/12), welche – wie die Vergabekammer selbst ausführt – grundsätzliche Bedeutung für eine große Anzahl freier Sozialträger hat. Ergeben sich aus Aufsichtsbefugnissen öffentlicher Auftraggeber gemäß §§ 99 Nr. 1 oder Nr. 3 GWB Einflussmöglichkeiten auf die Auftragsvergabe, spricht vieles für die Eigenschaft als öffentlicher Auftraggeber. Klarheit besteht nach der Entscheidung auch insoweit, als solche Aufsichtsbefugnisse, die sich auf eine schlichte nachträgliche Kontrolle beschränken (z.B. mit Blick auf die Tätigkeit der Rechnungshöfe), nicht ausreichen.

Praxistipp

Für die Eigenschaft eines freien Sozialträgers als öffentlicher Auftraggeber nach § 99 Nr. 2 lit. b) GWB kommt es auf eine Gesamtschau aller Aufsichtsbefugnisse an, die dem Staat hinsichtlich einzelner Tätigkeitsbereiche der beschaffenden Stelle zustehen. Hierdurch lässt sich bestimmen, ob die begründete Staatsnähe bzw. Staatsgebundenheit eine Intensität erreicht, die eine Bindung an das Vergaberecht bewirkt. Geklärt ist außerdem, dass es auf die im deutschen öffentlichen Recht bedeutsame Unterscheidung zwischen Fach- und Rechtsaufsicht nicht ankommt.