Hohes Risikopotential rechtfertigt Gesamtvergabe (OLG München, Beschl. v. 25.03.2019 – Verg 10/18)

EntscheidungEine Gesamtvergabe ist nicht nur aufgrund eines objektiv zwingenden Grundes zulässig. Vielmehr können auch Umstände, welche die Maßnahme insgesamt betreffen eine Ausnahme vom Gebot der Losvergabe begründen. So kommt beispielsweise ein voraussichtlich hohes Risikopotential als Ausnahmetatbestand in Betracht. Das hat vor kurzem der Vergabesenat des OLG München entschieden. Das Gericht hat noch im Jahre 2015 einen sehr viel höheren Begründungsaufwand in Bezug auf jedes in Betracht kommende Fachgewerk gefordert.

GWB § 97 Abs. 4

Leitsatz

  1. Das Absehen vom Regelfall der Losvergabe erfordert eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Belange, wobei der Auftraggeber wegen der dabei anzustellenden prognostischen Überlegungen einen Beurteilungsspielraum hat, der im Nachprüfungsverfahren (nur) der rechtlichen Kontrolle unterliegt (im Anschluss an OLG Frankfurt, Beschluss vom 14. Mai 2018, 11 Verg 4/18; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. April 2012, VII-Verg 100/11).
  2. Die Beschaffungsautonomie ist kein Freibrief für eine Gesamtvergabe, allerdings können sich aus dem korrekt ausgewählten Auftragsgegenstand Belange ergeben, die der Auftraggeber bei der Abwägung für oder gegen eine Losvergabe berücksichtigen kann.
  3. Konkrete projektbezogene Besonderheiten wie z.B. ein hohes Risikopotential des Objekts können eine Gesamtvergabe rechtfertigen (hier: Sicherheitstechnik für eine JVA).

Sachverhalt

Der Auftraggeber schrieb im offenen Verfahren die umfassende Verbesserung der Sicherheitsanlagen in einer Justizvollzugsanstalt europaweit aus. Die elektrotechnischen Aufgaben gliederten sich in verschiedene Teilaufgaben. Die Maßnahmen umfassten u. a. die Erneuerung der Beleuchtung des Sicherheitsstreifens an der Anstaltsmauer, die technische Ausrüstung des Sicherheitszauns sowie weitere Sicherheitsmaßnahmen.

Ein Bieter rügte einen Verstoß gegen das Gebot der losweisen Vergabe und stellte einen Nachprüfungsantrag. Die Vergabekammer gab dem Antrag statt und berief sich auf die im Jahr 2015 ergangene Entscheidung des OLG München. Im aktuellen Beschwerdeverfahren hob das OLG München den Beschluss auf und wies den Nachprüfungsantrag zurück.

Die Entscheidung

Aufgrund der Besonderheiten des Projekts durfte der Auftraggeber davon absehen, die Teilaufgaben in Lose aufzuteilen. Der Senat stützt seine Begründung vor allem auf die besondere Sicherheitslage und die Gefährdung der Funktionsweise der Gesamtleistung. Die Nichtaufteilung einer Gesamtleistung erfordere eine eingehende Auseinandersetzung mit dem grundsätzlichen Gebot der Fachlosvergabe.

Der Auftraggeber habe alle widerstreitenden Belange gegeneinander abzuwägen. Zuzubilligen sei dem Auftraggeber hierbei ein nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum, soweit komplexe projektbezogene Risikopotentiale bewertet werden. Allein die Komplexität des Beschaffungsgegenstandes, ein erhöhter Koordinierungsaufwand sowie drohende (Gewährleistungs-)Schnittstellen rechtfertigen für sich genommen nicht eine Gesamtvergabe. Allerdings habe der Auftraggeber konkret projektbezogen dargelegt, dass ohne eine Gefährdung der Funktionsweise der Gesamtleistung für die Einzelarbeiten der komplexen Sicherheitsanlage keine Fachlose gebildet werden konnten.

Praxistipp

Die Entscheidung des OLG München zeigt, wie schmal der Grat zwischen der Beschaffungsautonomie des Auftraggebers und dem Gebot der losweisen Vergabe verläuft. Das Gebot der losweisen Vergabe bedeutet nicht, dass eine Gesamtvergabe überhaupt nur bei Vorliegen eines objektiv zwingenden Grundes erfolgen darf. Setzt sich die Vergabestelle im Rahmen der Abwägung im Einzelnen mit dem Gebot der Fachlosvergabe einerseits und den im konkreten Fall dagegen sprechenden Gründen andererseits auseinander, ist ein erheblicher Beurteilungsspielraum eröffnet. Hier gilt: Die Dokumentation der tragenden Gründe ist mindestens so wichtig wie das Ergebnis.