Verzicht auf Nachprüfungsverfahren schließt Schadensersatzansprüche nicht aus (BGH, Urt. v.17.09.2019 – X ZR 124/18 – Lärmschutzwände)

EntscheidungNachprüfungsverfahren sind für Bieter stets mit Unwägbarkeiten und Kostenrisiken verbunden. Unternehmen tun sich mit der Entscheidung zur Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens daher oftmals schwer. In einem aktuellen Urteil hatte sich der BGH mit der Frage zu befassen, welche Auswirkungen das Absehen von der Durchführung eines Nachprüfungsverfahrens auf zivilrechtliche Schadensersatzansprüche eines rechtswidrig ausgeschlossenen Bieters hat.

§ 160 Abs. 3 GWB, § 179 GWB

Leitsätze des Bundesgerichtshofs

  1. Der Teilnehmer an einem Vergabeverfahren nach dem Vierten Teil des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist mit einem auf einen Vergaberechtsverstoß gestützten Schadensersatzanspruch nicht ausgeschlossen, wenn er den Verstoß nicht zum Gegenstand eines Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer gemacht hat.
  2. Hat der Schadensersatz verlangende Bieter einen Vergaberechtsverstoß gerügt, kann ihm kein Mitverschulden nach § 254 BGB angelastet werden, wenn er die Rüge auf Bitten des Auftraggebers zurückgenommen hat, um das Vergabeverfahren nicht weiter zu verzögern.

Sachverhalt

In einem Vergabeverfahren für Bauarbeiten für Lärmschutzwände an einer Bahnstrecke schließt der Auftraggeber den erstplatzierten Bieter vergaberechtswidrig wegen der Nichtvorlage eines geforderten Verwendungsnachweises aus. Der Bieter rügt den Ausschluss zunächst, nimmt die Rüge nach einem Gespräch mit Vertretern des Auftraggebers zurück und leitet kein Nachprüfungsverfahren ein.

Der Auftraggeber erteilt den Zuschlag auf das Angebot eines anderen Bieters. Daraufhin macht der Bieter gegenüber dem Auftraggeber einen Anspruch auf Ersatz des ihm durch die Vergabe an den Mitbewerber entstandenen Schadens geltend.

Die Entscheidung

Der BGH stellt fest, dass es der Verpflichtung des Auftraggebers zum Schadensersatz nicht entgegensteht, dass der Bieter den Ausschluss seines Angebots nicht zum Gegenstand eines Nachprüfungsverfahrens gemacht hat. Das geltende Recht sehe nicht vor, dass vor Erhebung eines Schadensersatzanspruchs ein Vergaberechtsverstoß im Nachprüfungsverfahren festgestellt werden müsse.

Eine analoge Anwendung der Regelung zur Rechtsmittelversäumung bei Amtshaftungsansprüchen (§ 839 Abs. 3 BGB) auf vergaberechtliche Schadensersatzansprüche sei nicht angezeigt. Im GWB sei lediglich die Bindungswirkung einer Entscheidung im Nachprüfungsverfahren für einen nachfolgenden Schadensersatzanspruch geregelt (§ 179 GWB). Für einen Ausschluss von Schadensersatzansprüchen in Fällen, in denen die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens nicht Gegenstand eines Nachprüfungsverfahrens war, biete § 179 GWB keine Grundlage.

Die Rücknahme der Rüge bzw. die Nichteinleitung oder Durchführung eines Nachprüfungsverfahrens führe auch zu keinem Mitverschulden des Bieters im Sinne des § 254 BGB. Ein Mitverschulden sei zwar nicht ausgeschlossen, wenn der Auftraggeber das Verhalten des Bieters dahingehend verstehen dürfe, dass der Bieter seine Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit des Nachprüfungsverfahrens nicht aufrecht erhalte. Dies sei aber nicht der Fall, wenn der Bieter die Rüge auf Bitten der Vertreter des Auftraggebers zurücknehme, damit die fristgerechte Durchführung der Baumaßnahme sichergestellt werden kann.

Rechtliche Würdigung

Ob die Nichtdurchführung eines Nachprüfungsverfahrens zu einer Präklusion dergestalt führt, dass der Vergaberechtsverstoß nach Auftragsvergabe nicht mehr gerichtlich beanstandet werden kann, war lange Zeit umstritten. So hat das OLG Celle (Urteil v. 18.1.2018 – 11 U 121/17) noch im Jahr 2018 in Bezug auf einen auf § 2 VOL/B gestützten Mehrvergütungsanspruch entschieden, dass ein von einem Vergabefehler betroffener Bieter, der keinen vergaberechtlichen Primärrechtsschutz in Anspruch nimmt, in einem nachträglichen Zivilrechtsprozess damit ausgeschlossen ist, sich auf diesen Vergaberechtsverstoß zu berufen. Das OLG Celle begründete seine Auffassung damit, dass es mit allgemeinen Grundsätzen des Vergaberechts unvereinbar sei, wenn ein Bieter, dem ein Auftrag erteilt wurde, nachträglich geltend machen könnte, dass einzelne Regelungen der Ausschreibung unwirksam gewesen und durch für ihn in wirtschaftlicher Hinsicht günstigere Regelungen zu ersetzen seien.

Durch die jüngere Rechtsprechung des BGH dürfte die Entscheidung des OLG Celle und entsprechende Auffassungen in der Literatur überholt sein. Bereits im Juni 2019 hatte der BGH entschieden, dass ein Bieter nicht dadurch an der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gehindert ist, dass er im Vergabeverfahren keinen Primärrechtsschutz in Anspruch genommen hat (BGH, Urteil v. 18.6.2019 X ZR 86/17). Mit der Entscheidung vom 17. September 2019 bestätigt der BGH diese Rechtsprechung.

Praxistipp

Die Entscheidung des BGH schafft Klarheit, dass Bietern der Verzicht auf die Inanspruchnahme vergaberechtlichen Primärrechtsschutzes in einem nachfolgenden Zivilrechtsstreit in der Regel nicht entgegengehalten werden kann. Diese Frage ist nicht nur für Schadensersatzansprüche eines vergaberechtswidrig übergangenen Bieters relevant,  sondern insbesondere auch in zivilrechtlichen Streitigkeiten, in denen es auf die Wirksamkeit von Vertragsklauseln nach Maßgabe einer AGB-Kontrolle ankommt. Auch in diesen Fällen überzeugt es nicht, einem Anspruchsteller die Nichtdurchführung eines Nachprüfungsverfahrens entgegen zu halten, zumal er als Bieter im Vergabenachprüfungsverfahren wenn überhaupt die AGB-rechtliche Unangemessenheit einzelner Klauseln nur schwer geltend machen kann (vgl. VK Bund, Beschluss v. 7.5.2018 – VK 1-31/08, VK Sachsen, Beschluss v. 21.4.2015 – 1/SVK/010-15).