Transparenz muss sein, aber wann ist die Überbürdung vertraglicher Risiken im Vergabeverfahren (un)beachtlich? (VK Berlin, Beschl. v. 31.03.2020 – VK B 1-08/20)

EntscheidungDas Transparenzgebot des § 97 Abs. 1 GWB ist eine der drei Säulen des Vergaberechts. Viele das Vergaberecht prägende Rechtsnormen sind auf dieses Gebot zurückzuführen. In ihrer Entscheidung arbeitet die Vergabekammer Berlin mehrere Verstöße des Auftraggebers gegen das Transparenzgebot heraus und begründet mit diesen die erforderliche Aufhebung des Vergabeverfahrens. Gleichzeitig werfen die Ausführungen der Vergabekammer zur Reichweite des Leistungsbestimmungsrechts des Auftraggebers und den Möglichkeiten, Risiken vertraglich auf Bieter abzuwälzen, die Frage auf, inwieweit das Vergaberecht losgelöst von der vertraglichen Risikoverteilung betrachtet werden kann.

§§ 97 Abs. 1; 121 GWB, §§ 8, 20, 29 VgV

Sachverhalt

Der Auftraggeber schrieb Betriebsleistungen für Flüchtlingsunterkünfte in drei Losen im offenen Verfahren aus. Neben dem Preis waren als Zuschlagskriterien die Qualität verschiedener von den Bietern einzureichender Konzepte bestimmt. Hinsichtlich der Inhalte der Konzepte wurde auch auf die Leistungsbeschreibung Bezug genommen. In der Bekanntmachung wurde weiterhin auf eine Vorabinformation verwiesen, in der 513 Plätze als vom Betreiber abzudeckende Kapazitäten angegeben wurde. In der Auftragsbekanntmachung selbst wurden dann 504 Plätze als vertragliche Kapazität bestimmt, wohingegen sich aus den Vergabeunterlagen eine Kapazität von 512 Plätzen errechnete. Die Angebotsfrist betrug 15 Tage.

Die Antragstellerin rügte verschiedene Verstöße u.a. unklare Anforderungen an die Konzepterstellung, nicht erschöpfende Leistungsbeschreibung, unzumutbare Kalkulation. Weiterhin stellte die Antragstellerin acht Tage vor der Angebotsfrist verschiedene Bieterfragen und bat um Fristverlängerung. Der AG wies die Rügen zurück und beantwortete bestimmte Bieterfragen nicht. Andere Bieterfragen wurden einen Tag vor der Angebotsfrist beantwortet, ohne dass die Angebotsfrist verlängert wurde. Die Antragstellerin gab fristgerecht ein Angebot ab und stellte dann einen Nachprüfungsantrag.

Die Entscheidung

Mit Erfolg! Die Vergabekammer sah den Nachprüfungsantrag zumindest teilweise als begründet an und ordnete die Aufhebung des Vergabeverfahrens an.

Als Verstoß gegen das Transparenzgebot des § 97 Abs. 1 GWB sowie des sich hieraus ergebenden Gebots einer eindeutigen und erschöpfenden Leistungsbeschreibung gem. § 121 GWB, § 29 VgV bewertete die Vergabekammer die widersprüchlichen Angaben zu (1) den vorzuhaltenden Platzkapazitäten der Flüchtlingsunterkunft in der Vorabinformation, der Bekanntmachung und den Vergabeunterlagen und (2) zu Mehrvergütungsansprüchen. Hinsichtlich der Platzkapazitäten sei für die Bieter nicht nachvollziehbar, auf welcher Grundlage sie ihre Angebote kalkulieren sollen. Ebenso uneindeutig und damit unkalkulierbar seien die Angaben im Betreibervertrag zu Mehrvergütungsansprüchen, da an einer Stelle des Vertrags Mehrvergütungsansprüche trotz Anpassungswünschen seitens des Auftraggebers ausgeschlossen werden und an anderer Stelle die Vergütung etwaiger Änderungswünsche geregelt wird.

Weiterhin intransparent und widersprüchlich seien die Vorgaben zur Konzepterstellung und die damit zusammenhängenden Zuschlagskriterien. Als Zuschlagskriterium war ein mit dem Angebot einzureichendes Betriebskonzept bestimmt, wohingegen als Anlage zum Betreibervertrag ein Betreiberkonzept gefordert war. Die Anforderungen an beide Konzepte überschnitten sich zwar teilweise, verschiedene inhaltliche Anforderungen wichen jedoch voneinander ab. Insofern sei völlig unklar, ob es sich um dasselbe Konzept handele oder die Bieter sowohl ein Betriebskonzept als auch ein Betreiberkonzept einreichen mussten, von dem nur dann das Betriebskonzept gewertet werden sollte.

Als Verstoß gegen die Dokumentationspflicht des § 8 Abs. 1 VgV und Verletzung der subjektiven Rechte der Antragstellerin wurden zudem die fehlenden Ausführungen zur Festlegung der Angebotsfrist in der Vergabeakte bewertet. Auch bei einer Verkürzung der Angebotsfrist aufgrund einer Vorabinformation gem. § 38 Abs. 3 VgV auf 15 Tage müsse die Frist angemessen im Sinne des § 20 Abs. 1 VgV sein. Die insoweit erforderliche Angemessenheitsprüfung müsse in der Vergabeakte dokumentiert sein. Allein der Hinweis auf die Verkürzung der Angebotsfrist auf 15 Tage aufgrund einer erfolgten Vorabinformation sei nicht ausreichend. Die mangelnde Dokumentation lasse einen Ermessensaufall erkennen und verletze damit die Antragstellerin in ihren subjektiven Rechten.

Als weitere Verletzung der subjektiven Rechte der Antragstellerin bewertete die Vergabekammer, dass der AG einen Tag vor der Angebotsfrist Bieterfragen beantwortete, ohne die Frist angemessen zu verlängern, obwohl die Antworten für die Kalkulation der Angebot erheblich waren. Unter erneutem Verweis auf das Transparenzgebot bemängelte die Vergabekammer zudem, dass der AG bestimmte, rechtzeitig gestellte Bieterfragen nicht beantwortet hat. Auftraggeber seien insbesondere mit Blick auf Art. 53 Abs. 2 RL 2014/24/EU verpflichtet, rechtzeitig gestellte Fragen zu beantworten, auch wenn sie die Fragen nicht für sachdienlich oder relevant hielten.

Als unbegründet sah die Vergabekammer jedoch den Vorwurf an, dass mangels vertraglich vereinbarter Mindest- und Höchstmengen für die Belegung die Leistungsbeschreibung nicht eindeutig und erschöpfend sowie eine Kalkulation nicht möglich sei. Auch wenn es eine Vergütung nur bei tatsächlicher Belegung der vorzuhaltenden Plätze gäbe, sei dieses Belegungsrisiko ein typisches Vertragsrisiko. Es stehe dem Bieter schließlich frei, das transparent dargestellte Risiko einzugehen oder kein Angebot abzugeben, zumal der Vertrag Kündigungsmöglichkeiten bei Unterbelegung vorsehe. In einem für die Entscheidung nicht erheblichen Hinweis führte die Vergabekammer zudem aus, dass es dem AG frei stehe, Mehrvergütungsansprüche auszuschließen. Auch diesbezüglich obliege es der unternehmerischen Entscheidung der Bieter, ob sie trotz einer solchen Regelung ein Angebot abgeben möchten. Sofern eine spätere vertragliche Anpassung, welche vertraglich nicht vorgesehen war, gegen zivilrechtliche Regelungen, zu denen auch die Allgemeinen Vertragsbedingungen für die Ausführungen von Leistungen Teil B (VOL/B) gehören, verstoßen sollte, sei dies zivilrechtlich zu prüfen und zu bewerten.

Rechtliche Würdigung

Zu begrüßen ist, dass die Vergabekammer den Grundsatz der Transparenz in seinen verschiedenen Ausprägungen im Vergaberecht betont und deutlich macht, dass Bieter ein Recht darauf haben, ihre Angebote auf einer eindeutigen und klaren Grundlage zu erstellen. Ebenso überzeugend ist, dass die Vergabekammer klarstellt, dass die Beantwortung von rechtzeitig gestellten Bieterfragen kein Gefallen seitens der Vergabestelle ist, sondern eine Rechtspflicht und auch die gesetzlichen Regelungen zu den Angebotsfristen und deren ggf. erforderlichen Verlängerung keine Sollanforderungen für öffentliche Auftraggeber sondern rechtlich verbindlich sind.

Nicht überzeugend sind jedoch die Ausführungen der Vergabekammer in Bezug auf die vergaberechtliche Relevanz vertraglicher Regelungen, die Einfluss auf die Risikoverteilungen zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer haben. Stehen dem Auftraggeber vertragliche Rechte zu, umfangreiche Leistungsänderungen zu verlangen und wird hierfür ein Mehrvergütungsanspruch des Auftragnehmers ausgeschlossen, dann Bedarf es keiner komplexen AGB-Prüfung, um die Frage der Kalkulierbarkeit eines auf solchen Regelungen fußenden Angebots auch in einem Nachprüfungsverfahren aus vergaberechtlicher Sicht zu bewerten. Die der Entscheidung der Vergabekammer zu entnehmende Position, eine Risikoverlagerung auf die Bieter sei dann zulässig, wenn sie nur transparent für die Bieter dargestellt ist, weil diese schließlich unternehmerisch entscheiden könnten, ob sie sich am Verfahren mit einem Angebot beteiligen, erscheint zu pauschal und entspricht nicht der bisherigen Linie der Rechtsprechung. Vielmehr wird es stets eine Frage des jeweiligen Einzelfalls sein, ob bei vertraglichen Vorhaltepflichten zu Lasten des Auftragnehmers, ohne dass Mindestabnahmemengen oder ein sonstige Grundvergütung bestimmt sind, noch von einer vergaberechtlich zumutbaren vertraglichen Risikoverteilung und Kalkulierbarkeit der Angebote auszugehen ist oder nicht.

Praxistipp

Die sich aus dem Transparenzgrundsatz ergebenden Pflichten sollten nicht nur in Bezug auf eine eindeutige und erschöpfende Leistungsbeschreibung ernst genommen werden, sondern auch in Bezug auf die Dokumentationspflichten sowie die Kommunikation mit den Bietern im Verfahren.

Auch sollten Auftraggeber nicht vorschnell Risiken kategorisch auf Bieter verlagern, sondern stets sorgsam anhand der konkreten Umstände der Ausschreibung prüfen, welche Risikoverteilung rechtlich (noch) zulässig und vor allem auch wirtschaftlich sinnvoll ist. Denn letztlich führen kalkulatorische Risiken oft auch zu Risikoaufschlägen und damit potentiell zu einer Verteuerung der Beschaffung.