Nationale Vergabe bei knapper Unterschreitung des Schwellenwerts risikobehaftet! (VK Bund, Beschl. v. 04.06.2021 – VK2-43/21)
Der Auftraggeber kann bei der Schätzung des Auftragswerts auf den bestehenden Bestandsauftrag zurückgreifen. Dabei sind allerdings alle maßgeblichen Umstände und etwaige erkennbare Veränderungen (z.B. ein verändertes Preisniveau) zu berücksichtigen. Ist die Auftragswertschätzung sachgerecht durchgeführt worden, ist es unerheblich, dass die (später) eingegangenen Angebote den geschätzten Wert und damit den maßgeblichen Schwellenwert übersteigen. Führt der Auftraggeber ein nationales Vergabeverfahren durch und ist der Bieter der Meinung, dass dieses vergaberechtswidrig ist, erscheint es als nicht angemessen, die Freistellung von der Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 S. 2 GWB anzuwenden. Der Bieter ist mithin gehalten, die unzulässige Verfahrensart rechtzeitig gemäß den Fristen des § 160 Abs. 3 S. 1 GWB zu rügen.
§§ 106 Abs. 1, 2, 160 Abs. 3 GWB, 3 VgV
Sachverhalt
Der Auftraggeber (AG) hatte in der Vergangenheit die Leistung „Übernahme der Unternehmerverantwortung im Bereich der Elektrotechnik – Verantwortliche Elektrofachkraft (VEFK)“ jeweils unterschwellig für ein Jahr vergeben. Auftragnehmer des bisherigen Auftrags war die Antragstellerin (ASt). Im Jahr 2020 belief sich die Gesamtvergütung der Leistung nach dem Vertrag aus dem Jahr 2019 auf netto EUR 99.840.
Im September 2019 kam es zu einer Besprechung zwischen AG und ASt u.a. über die Fortsetzung der Zusammenarbeit und die zukünftigen Leistungen. Dabei wurde auch thematisiert, dass es bei einem Leistungszeitraum von zwei Jahren zu einem Überschreiten des Schwellenwertes kommen könnte.
Anfang 2021 schrieb der AG die Leistung erstmalig für einen Leistungszeitraum von zwei Jahren öffentlich nach der UVgO auf der e-Vergabe-Plattform des Bundes aus. Im Vergabevermerk finden sich Ausführungen zum geschätzten Gesamtauftragswert mit Begründung und Erläuterung der Ermittlung 200.000 EUR (netto). In der Kostenberechnung zum Vergabevermerk wird auf die bezahlte Gesamtvergütung aus dem Vorauftrag abgestellt und dieser Betrag verdoppelt, so dass der Betrag für zwei Jahre netto mit EUR 199.680 angegeben wird. Weiter wird u.a. ausgeführt:
Der Vertrag sollte zu den bestehenden Konditionen geschlossen werden. Außerdem war der Preis noch verhandelbar. Somit wird eine Kostenschätzung von 200.000 Euro netto für zwei Jahre angesetzt. Es muss davon ausgegangen werden, dass ein Vertrag über 2 Jahre Laufzeit unter dem Preis für ein Jahr liegen muss (betrachtet auf die Kosten für 1 Jahr). Somit ist Sicherheit vorhanden, um die Grenzen einzuhalten. Das Vergabeverfahren wird nach UVgO national durchgeführt.“
Die ASt beteiligte sich an der öffentlichen Ausschreibung und gab ebenso wie das beigeladene Unternehmen ein Angebot ab, welches oberhalb des hier maßgeblichen Schwellenwerts von netto EUR 214.000 lag.
Im März 2021 teilte die AG der ASt gem. § 46 Abs. 1 UVgO mit, dass der Zuschlag nicht auf ihr Angebot habe erteilt werden können, weil es nicht das wirtschaftlichste Angebot gewesen sei. Der Auftrag sei an die Beigeladene erteilt worden.
Wenige Tage später rügte die ASt den erteilten Zuschlag als vergaberechtswidrig, weil eine fehlende europaweite Bekanntmachung im EU-Amtsblatt hätte erfolgen müssen. Der Schwellenwert der Vergabe sei deutlich überschritten. Wenig später ließ die ASt über ihre Verfahrensbevollmächtigten einen Nachprüfungsantrag stellen und beantragte u.a. festzustellen, dass der erteilte Zuschlag wegen Verstoßes gegen § 134 GWB nach § 135 GWB von Anfang an unwirksam sei.
Die Entscheidung
Der Nachprüfungsantrag wurde von der Vergabekammer verworfen. Die Zurückweisung stützte die Vergabekammer auf zwei Aspekte:
Erstens ist der Nachprüfungsantrag nicht statthaft, da der AG in nicht zu beanstandender Weise im Rahmen seiner Schätzung einen Auftragswert unterhalb des einschlägigen Schwellenwertes ermittelt und in der Folge den Auftrag rechtmäßiger Weise nicht nach den Regeln des GWB ausgeschrieben hat. Der AG ist bei seiner Auftragswertschätzung im Ausgangspunkt zu Recht von dem vergleichbaren Vorauftrag des Jahres 2020 ausgegangen. Erkennbare Veränderungen, sei es auf Seiten des Auftrags, z.B. durch Ausweitung des Leistungsumfanges, sei es auf Seiten der Auftragnehmer, z.B. durch ein generell gestiegenes Niveau der Preise, sind durch den Auftraggeber dabei zu berücksichtigen. Dies hat der AG getan. Der AG stützt sich bei der Auftragswertschätzung auf das für den Vorauftrag vereinbarte Entgelt, welches er, der Laufzeit entsprechend verdoppelt hat, sowie auf seine Einschätzung zu allgemeinen jährlichen Preissteigerungen, die sich jedoch durch Synergieeffekte amortisieren würden. Der AG hat bei seiner Kostenschätzung auch einen ausreichenden Sicherheitszuschlag berücksichtigt. Der Sicherheitszuschlag ergibt sich daraus, dass der AG den Auftragswert für ein Jahr verdoppelte, obwohl er davon ausging, durch reduzierten Aufwand hinsichtlich solcher Positionen, die nicht jedes Jahr erforderlich sind, trotz einer jährlichen Kostensteigerung von 3% sicher unterhalb des EU-Schwellenwertes zu liegen. Prüfungsmaßstab ist so die Vergabekammer insoweit nicht, ob der AG den Umfang der erforderlichen Arbeiten korrekt bestimmt hat. Dies ist grundsätzlich von der Freiheit des Auftraggebers, den Beschaffungsgegenstand selbst zu definieren, umfasst. Ggf. hätte der AG also einen Auftrag ausgeschrieben, der seinen Bedürfnissen, gemessen an den Erfordernissen einer sachgerechten Auftragsdurchführung, nicht entspräche. Vorliegend hat sie der AG den von ihm angesetzten Aufwand jedoch im Leistungsverzeichnis beschrieben. Maßgeblich ist dann nur, ob der Gegenstand der Auftragswertschätzung und der im Leistungsverzeichnis bezifferte Aufwand übereinstimmen, nicht, ob der bezifferte Aufwand korrekt ist (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.03.2019 Az. Verg 42/18). Hat der AG jedoch eine reduzierte Leistung ausgeschrieben, durfte er auch von einem reduzierten Angebotspreis ausgehen. Vor dem Hintergrund der sachgerecht durchgeführten Auftragswertschätzung ist es unerheblich, dass die eingegangenen Angebote den geschätzten Wert übersteigen. Die Entscheidung des AG, trotz der nur knappen Unterschreitung des Schwellenwertes von einer Vergabe nach den Vorschriften des GWB abzusehen, war und bleibt daher korrekt.
Zweitens neigte die Vergabekammer dazu, den Nachprüfungsantrag auch deshalb als unzulässig anzusehen, weil die ASt den beanstandeten Vergabefehler nicht rechtzeitig gemäß § 160 Abs. 3 S. 1 GWB gerügt hat. Danach ist ein Nachprüfungsantrag unzulässig, soweit der Antragsteller den geltend gemachten Verstoß gegen Vergabevorschriften vor Einreichen des Nachprüfungsantrags erkannt und gegenüber dem Auftraggeber nicht innerhalb einer Frist von zehn Kalendertagen gerügt hat. Diese Rüge war nach Auffassung der Vergabekammer auch nicht nach § 160 Abs. 3 S. 2 GWB entbehrlich. Der geltend gemachte Vergabefehler ist die fälschliche Durchführung des Verfahrens nach der UVgO. Dass der AG ein solches Vergabeverfahren durchführte, war der ASt von Anfang an bekannt, denn die ASt war selbst als Bieterin am Vergabewettbewerb beteiligt. In einem solchen Fall erscheint es als nicht angemessen, die Freistellung von der Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 S. 2 GWB anzuwenden. Es ist nicht ratio legis dieser Freistellung, dass ein Unternehmen sich zunächst rügelos auf ein Vergabeverfahren unterhalb der Schwellenwerte einlässt bis zu einem Zeitpunkt, zu dem der Auftrag an ein konkurrierendes Unternehmen erteilt wurde, um im Anschluss unter Berufung auf § 160 Abs. 3 S. 2 GWB direkt einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer einzureichen, mit dem die Unwirksamkeitsfeststellung des geschlossenen Vertrags beantragt wird. Es entspricht Sinn und Zweck der Rügeobliegenheit, den Auftraggeber möglichst frühzeitig auf vermeintliche Fehler hinzuweisen und ihm damit die Möglichkeit zur Korrektur zu eröffnen. Der Abschluss eines Vertrags, der Gefahr läuft, von der Vergabekammer nach § 135 GWB für unwirksam erklärt zu werden, hat für einen Auftraggeber gravierende Folgen, insbesondere wegen zivilrechtlicher Folgeprobleme mit dem Vertragspartner. Eine Freistellung von der Rügeobliegenheit in einer Konstellation wie der Vorliegende, käme einem venire contra factum proprium gleich und würde Spekulationen auf den Zuschlagserhalt Vorschub leisten, wenn der vermeintliche Fehler direkt und erst vor der Vergabekammer thematisiert wird, sobald der Bieter erfährt, dass er den Auftrag nicht erhalten hat.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung der Vergabekammer ist auf den ersten Blick nachvollziehbar. Zweifel an der Richtigkeit ergeben sich allerdings aus dem hier nur auszugsweise dargestellten Sachverhalt. Zwar hat der AG eine nachvollziehbare Auftragswertschätzung vorgenommen und auch entsprechend dokumentiert. Die Argumente der ASt sind allerdings nicht vor der Hand zu weisen. Es ist tatsächlich fraglich, ob das im Vorfeld der Vergabe durchgeführte Gespräch sowie die ausgetauschten E-Mails dem AG nicht hätten nahelegen können (oder sogar müssen), dass die Angebote und damit der (geschätzte) Auftragswert bei lebensnaher Betrachtung nicht voraussichtlich doch oberhalb des maßgeblichen Schwellenwerts hätte geschätzt werden müssen.
Bekanntermaßen ist bei der Schätzung des Auftragswerts vom voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistungen ohne Umsatzsteuer auszugehen. Nach § 3 Abs. 1 Satz 2 VgV sind Optionen bei der Ermittlung zu berücksichtigten. Nach § 3 Abs. 2 VgV darf die Wahl der Methode zur Berechnung des Auftragswertes nicht in der Absicht erfolgen, die Anwendung des Kartellvergaberechts des GWB zu umgehen. Die Auftragswertschätzung ist ordnungsgemäß vorzunehmen, was dann der Fall ist, wenn Methoden angewendet worden sind, die ein wirklichkeitsnahes Schätzungsergebnis ernsthaft erwarten lassen (vgl. BGH, Urteil vom 29.11.2016 Az. X ZR 122/14). Dabei muss die Genauigkeit der Ermittlung und der Dokumentation steigen, je näher der Auftragswert dem Schwellenwert kommt (vgl. VK Westfalen, Beschluss vom 29.09.2020 Az. VK 1-28/20; OLG Celle Beschluss vom 19.08.2009 Az. Verg 04/09). In Anbetracht des der vorliegenden Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalts ist es also durchaus als offen anzusehen, ob der Vergabesenat des OLG Düsseldorf die Entscheidung der Vergabekammer bestätigen wird.
Ein weiterer interessanter Nebenaspekt der Entscheidung betrifft die Frage der Nachholung der Dokumentation im Nachprüfungsverfahren. Die diesbezüglich von dem AG im Rahmen der Auftragswertschätzung angestellten Erwägungen konnten im Rahmen des Nachprüfungsverfahrens ergänzend dargelegt werden, da es sich nach Auffassung der Vergabekammer um eine zulässige Nachholung der Dokumentation gehandelt habe (zur grundsätzlichen Möglichkeit der Heilung von Dokumentationsmängeln vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 02.05.2018 Az. Verg 3/18). Anhaltspunkte dafür, dass die vorgetragenen Überlegungen nicht schon zum Zeitpunkt der Auftragswertschätzung angestellt wurden, bestanden nicht. Zur Begründung verweist die Vergabekammer darauf, dass sowohl die Aspekte der allgemeinen Kostensteigerung wie auch der erwarteten Einsparungen durch Synergieeffekte bereits in der Vergabeakte angelegt waren, so dass die Ausführungen des AG im Nachprüfungsverfahren als Ergänzung anzusehen sind, nicht als Änderung oder vollständig neue Argumentation. Ich erachte diese Auffassung insgesamt und auch auf Grundlage des vorliegenden Sachverhalts als zutreffend, möchte aber betonen, dass die Nachholung der Dokumentation häufig Gegenstand kontroverser Diskussionen ist.
Interessant ist schließlich, ob in dem hier vorliegenden Fall die Freistellung von der Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 S. 2 GWB greift oder der vermeintliche Verstoß gegen die Pflicht zur EU-Vergabe mittels Durchführung eines nationalen Vergabeverfahrens hätte von der ASt rechtzeitig gerügt werden müssen. Die Vergabekammer tendiert zu dieser Auffassung. Ich erachte diese Auffassung als richtig, da der Bieter in derartigen Fällen nicht schutzwürdig ist und es dem Bieter zugemutet werden kann, den Auftraggeber auf den etwaigen Verstoß frühzeitig hinzuweisen. Gleichwohl lässt sich nach dem Wortlaut des Gesetzes auch die Gegenmeinung gut vertreten. Es bleibt abzuwarten, ob sich das OLG Düsseldorf zu dieser Thematik äußern wird.
Praxistipp
Wenn die Auftragswertschätzung knapp unterhalb des maßgeblichen Schwellenwerts liegt, hat der Auftraggeber darauf zu achten, dass er die Wertermittlung möglichst genau ermittelt und dokumentiert. Dabei sollten alle für die Schätzung (möglicherweise) relevanten Aspekte berücksichtigt und jedenfalls kurz niedergelegt werden, um im Fall einer späteren Prüfung (sei es im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens, sei es im Zusammenhang mit einer zuwendungsrechtlich veranlassten Verwendungsnachweisprüfung) noch argumentativ nachlegen zu können.
Bietern wiederrum ist anzuraten, bei einem erkannten Verstoß gegen die Pflicht zur EU-Vergabe unverzüglich eine Rüge auszusprechen und den Auftraggeber auf diesen etwaigen Verstoß frühzeitig hinzuweisen. Damit wird zum einen vergaberechtlich späteren Diskussionen um die Rügeobliegenheit entgegengewirkt. Zum anderen entspricht ein solches Verhalten auch einem professionellen Bieterverhalten und dürfte bei einem Auftraggeber eher zu einem Umdenken führen, als wenn dieser Umstand erst nach Zuschlagserteilung im nationalen Verfahren thematisiert wird und das Kind damit sprichwörtlich bereits in den Brunnen gefallen ist.