Das Gebot der Produktneutralität – Werden Ausnahmen zur Regel? (OLG Brandenburg, Beschl. v. 08.07.2021 – 19 Verg 2/21)
Der Staat investiert im Rahmen des DigitalPakts Schule 5 Milliarden Euro in die Digitalisierung von Schulen. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wurde die Förderung auf knapp 7 Milliarden Euro erweitert, um möglichst vielen Schülern digitalen Unterricht von zu Hause mithilfe mobiler Endgeräte zu ermöglichen. Bei der Umsetzung des DigitalPakts und der damit einhergehenden Beschaffung und Hard- und Software müssen die Schulträger das Vergaberecht beachten und stehen dabei vor der Herausforderung, das Spannungsverhältnis zwischen dem vergaberechtlich gebotenen größtmöglichen Wettbewerb und den spezifischen Bedürfnissen des Schulbetriebs lösen zu müssen. Der Vergabesenat beim OLG Brandenburg hatte sich mit einem Fall zu befassen, in dem der Schulträger bei der Beschaffung von mobilen Endgeräten („Tablets“) für den Schulbetrieb auf ein bestimmtes Produkt festgelegte. Anlass und Gelegenheit für den Vergabesenat, die Reichweite und die Ausnahmen vom Gebot der Produktneutralität klarzustellen.
§§ 31 Abs. 1, 6 VgV; § 97 Abs. 1, 2, 6, § 173 Abs. 2 GWB
Leitsätze (des Verfassers)
- Zur Sicherstellung eines breiten Wettbewerbs um Aufträge der öffentlichen Hand unterliegen öffentliche Auftraggeber dem Gebot der produktneutralen Ausschreibung.
- Eine produktspezifische Ausschreibung ist nur dann gerechtfertigt, wenn vom Auftraggeber nachvollziehbare objektive und auftragsbezogene Gründe angegeben worden sind und die Bestimmung folglich willkürfrei getroffen worden ist, solche Gründe tatsächlich vorhanden sind und die Bestimmung andere Wirtschaftsteilnehmer nicht diskriminiert.
- Im Bereich der EDV ist es grundsätzlich gerechtfertigt, im Interesse der Systemsicherheit und -funktion das Risikopotential für Fehlfunktionen oder Kompatibilitätsprobleme zu verringern. Dies gilt auch im schulischen Umfeld, in dem die Verwendung im Unterricht die zuverlässige und gleichförmige Funktion einer Vielzahl von Endgeräten bei der Nutzung durch unterschiedlichste Schülergruppen voraussetzt.
Sachverhalt
Der öffentliche Auftraggeber, der Landkreis Oberhavel im Land Brandenburg, schrieb die Lieferung von knapp 1.200 mobilen Endgeräten und Zubehör für Schulen in seiner Trägerschaft im offenen Verfahren europaweit aus. Der Auftraggeber legte sich auf Endgeräte des Typs iPad der Marke Apple fest. Dies begründete er mit einem vorangegangenen Pilotprojekt, bei welchem Schulen in seiner Trägerschaft im Jahr 2017 mit ursprünglich 200 iPads ausgestattet worden waren.
Ein Unternehmen, das Tablets mit dem Betriebssystem Android vertreibt, rügte die Festlegung, da diese ihrer Auffassung nach gegen den Grundsatz der produktneutralen Ausschreibung, den Wettbewerbsgrundsatz, das Diskriminierungsverbot sowie den Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 97 Abs. 1, 2 und 6 GWB verstieße.
Ihrer Auffassung nach handelte der Auftraggeber beurteilungsfehlerhaft, da er die Beschaffung anderer Produkte als iPads nicht in Erwägung gezogen habe. Die Produktvorgabe könne auch nicht mit dem Ziel der Einheitlichkeit der verwendeten Geräte gerechtfertigt werden, zumal das Pilotprojekt im Wege einer Unterschwellenvergabe umgesetzt worden sei. Auch eine förderrechtliche Bindung an bestimmte Produkte bestehe nicht. Die Einbindung von Android-Geräten in das bestehende System sei technisch möglich. Weder ein Mehraufwand noch Funktionsbeeinträchtigungen oder Kompatibilitätsprobleme seien von dem Auftraggeber substantiiert dargelegt worden. Ein Mischbetrieb von Geräten unter iOS und Android sei vielmehr problemlos und ohne nachteiligen Einfluss auf den Unterricht möglich.
Der Auftraggeber wies die Rüge zurück und verteidigte seine Entscheidung im anschließend eingeleiteten Nachprüfungsverfahren damit, dass die Voraussetzungen einer zulässigen produktspezifischen Ausschreibung nach § 31 Abs. 6 S. 1 VgV erfüllt seien. Die Festlegung auf das Produkt Apple iPad sei gerechtfertigt. Die zur Verwaltung der Endgeräte bereits beschaffte Software (Mobile Device Management – MDM) unterstütze zwar auch Android-basierte Geräte, aber einige wesentliche Funktionen seien nur für Apple Produkte verfügbar. Einer ausdrücklichen Auseinandersetzung mit anderen Geräten habe es nicht bedurft. Denn es sei offensichtlich, dass jede Funktion, die exklusiv Apple Geräten zugeschrieben werde, bei Android-basierten Tablets nicht verfügbar sei. Der Auftraggeber sei vergaberechtlich nicht verpflichtet, seine vorhandenen eingespielten und bewährten auf Apple Produkte ausgerichteten Systemstrukturen zu ändern und eine zweite Systemarchitektur und Support-/Schulungsstrategie für Android-Geräte aufzubauen. Eine Bezifferung des bei lebensnaher Betrachtung im Mischbetrieb in erheblichem Umfang anfallenden Aufwandes im Vorhinein sei nicht möglich.
Nach Zurückweisung des Nachprüfungsantrags durch die Vergabekammer verfolgte die Antragstellerin ihr Begehren mit der sofortigen Beschwerde vor dem OLG Brandenburg weiter.
Die Entscheidung
Ohne Erfolg!
Nach Auffassung des Vergabesenats genügten die vom Auftraggeber angeführten Gründe in der Gesamtschau zur Rechtfertigung der produktspezifischen Ausschreibung der iPads. Die sofortige Beschwerde habe daher aller Voraussicht nach keine Aussicht auf Erfolg, wie der Vergabesenat im Eilverfahren nach § 173 Abs. 1 S. 3 GWB entschied.
Im Einklang mit der ständigen Spruchpraxis der Vergabesenate vertritt auch das OLG Brandenburg die Auffassung, dass öffentliche Auftraggeber entsprechend dem Grundsatz der Privatautonomie grundsätzlich frei darin seien, ihren Bedarf festzulegen und autonom zu definieren. Die Festlegung unterliege der Bestimmungsfreiheit des Auftraggebers, deren Ausübung dem Vergabeverfahren vorgelagert sei. Das Vergaberecht regele nicht, was der öffentliche Auftraggeber beschafft, sondern nur die Art und Weise der Beschaffung (mit Verweis auf OLG Düsseldorf, Beschluss vom 31. Mai 2017 – Verg 36/16, Drohnen, Rn. 40 m. w. N.; OLG Celle, Beschluss vom 31.03.2020 – 13 Verg 13/19, Meldeempfänger, Rn 39; jew. zit. nach juris). Jedoch sei bereits der Festlegung eines bestimmten Beschaffungsgegenstandes eine gewisse wettbewerbsbeschränkende Wirkung immanent. Daher sei auch das Bestimmungsrecht des Auftraggebers nicht grenzenlos. Es gelte das Gebot der produktneutralen Ausschreibung als konkrete Ausformung des allgemeinen Wettbewerbsgrundsatzes nach § 97 Abs. 1 GWB (mit Verweis auf VK Bund, Beschluss vom 09.05.2014 – VK2-33/14).
Die Leistungsbeschreibung sei vor diesem Hintergrund nach § 31 Abs. 1 VgV in einer Weise zu fassen, dass sie allen Unternehmen den gleichen Zugang zum Vergabeverfahren gewährt und die Öffnung des nationalen Beschaffungsmarkts für den Wettbewerb nicht in ungerechtfertigter Weise behindert. In der Leistungsbeschreibung dürfe gemäß § 31 Abs. 6 S. 1 VgV nicht auf eine bestimmte Produktion oder Herkunft oder ein besonderes Verfahren, das die Erzeugnisse oder Dienstleistungen eines bestimmten Unternehmens kennzeichnet, oder auf gewerbliche Schutzrechte, Typen oder einen bestimmten Ursprung verwiesen werden, wenn dadurch bestimmte Unternehmen oder bestimmte Produkte begünstigt oder ausgeschlossen werden. Ausnahmsweise sei eine produktspezifische Ausschreibung gerechtfertigt, wenn der Verweis auf ein bestimmtes Produkt durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt ist (§ 31 Abs. 6 S. 1 VgV) oder wenn der Auftragsgegenstand nicht hinreichend genau und allgemein verständlich beschrieben werden kann (§ 31 Abs. 6 S. 2 VgV).
Die vom Auftraggeber angeführten Gründe für eine produktspezifische Ausschreibung müssten jedoch nachvollziehbar, objektiv und auftragsbezogen sein. Die Festlegung auf ein bestimmtes Produkt müsse dementsprechend willkürfrei getroffen worden sein. Die Gründe müssten tatsächlich vorhanden (festzustellen und notfalls erwiesen) sein und die Bestimmung dürfe andere Wirtschaftsteilnehmer nicht diskriminieren (mit Verweis auf OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16.10.2019 – Verg 66/18; Beschluss vom 13.04.2016 – Verg 46/15; Beschluss vom 01.08.2012 – Verg 10/12, Warnsystem; OLG München, Beschluss vom 26.03.2020 – Verg 22/19; OLG Jena, Beschluss vom 25.06.2014 – 2 Verg 1/14; OLG Celle Beschluss vom 31.03.2020 – 13 Verg 13/19; teils zur Vorgängervorschrift des § 7 VOB/A). Die Darlegungslast für die Notwendigkeit einer herstellerbezogenen Leistungsbeschreibung liege beim öffentlichen Auftraggeber (mit Verweis auf OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16.10.2019 – Verg 66/18; OLG Celle, Beschluss vom 31.03.2020 – 13 Verg 13/19). Eine vorherige Markterkundung sei nicht erforderlich.
Nach diesen Grundsätzen sei die gerügte Festlegung des Landkreises Oberhavel auf Endgeräte des Typs iPad als gerechtfertigt anzusehen.
Die angeführten Gründe seien nachvollziehbar und auftragsbezogen und genügten auch den weiteren Anforderungen an die Festlegung bestimmter Produkte. Die zu beschaffenden Tablets sollten in eine bereits geschaffene, mehrjährig erprobte und bewährte Systemarchitektur integriert werden und verfügten – anders als das Konkurrenzprodukt – zudem über Funktionalitäten, die der Auftraggeber als wesentlich erachtet. Die Geräte sollten im Schulbetrieb Verwendung finden und damit in einem durch eine Vielzahl von Nutzern mit einem sehr unterschiedlichen technischen Verständnis geprägten Umfeld. Zugleich sei für die Umsetzung des Bildungsauftrages die gleichförmige, komplikationslose und zuverlässige Bedienbarkeit der im Unterricht verwendeten Geräte von zentraler Bedeutung.
Eine Markterkundung sei nicht geboten gewesen. Aufgrund der besonderen Marktlage ergebe sich aus dem Vorhandensein besonderer Eigenschaften eines Gerätetyps (hier iPads) das Nichtvorhandensein beim jeweils anderen Gerätetyp (hier Android-basierte Endgeräte). Das Bedürfnis, aus organisatorischen und wirtschaftlichen Gründen die vorhandene IT-Struktur ohne größeren Investitions- und Verwaltungsaufwand zu nutzen, sei nachvollziehbar, in dem Grundsatz der Sparsamkeit der Verwaltung begründet und ohne diskriminierende Wirkung. Die Einschätzung des Landkreises, dass der bei einer produktneutralen Ausschreibung mögliche Mischbetrieb von Endgeräten mit unterschiedlichen Betriebssystemen die Zahl der Fehlerquellen deutlich erhöhe, sei nicht zu beanstanden, sondern liege auf der Hand. Im Bereich der EDV sei es grundsätzlich gerechtfertigt, im Interesse der Systemsicherheit und -funktion das Risikopotential für Fehlfunktionen oder Kompatibilitätsprobleme zu verringern (mit Verweis auf OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16.10.2019, Verg 66/18; Beschluss vom 13.04.2016 – Verg 47/15; Beschluss vom 31.05.2017 – Verg 36/16; Beschluss vom 22.05.2013 – Verg 16/12; OLG Celle, Beschluss vom 31.03.2020 – 13 Verg 13/19). Dies gelte nicht nur für komplexe IT-Komponenten oder in sicherheitsrelevanten Bereichen, sondern auch im schulischen Umfeld, in dem die Verwendung im Unterricht die zuverlässige und gleichförmige Funktion einer Vielzahl von Endgeräten bei der Nutzung durch unterschiedlichste Schülergruppen voraussetze.
Es entspreche der Lebenserfahrung, dass ein Wechsel des Betriebssystems auch auf der Ebene der die Technik betreuenden Fachleute mit Neuerungen verbunden ist, die zeit- und kostenintensiv angelernt, verstanden und umgesetzt werden müssen. Ein nicht vernachlässigenswerter Aufwand entstehe auch für die Schulung der Lehrkräfte, die noch keine Erfahrung mit Android-basierten Endgeräten gesammelt haben. Der Ansicht der Antragstellerin, Android sei als Betriebssystem so verbreitet, dass es als allgemein bekannt vorausgesetzt werden könne, könne im Hinblick auf den gerichtsbekannten Verbreitungsgrad auch anderer Betriebssysteme wie iOS oder Windows nicht ohne weitere Begründung gefolgt werden.
Ein zeitlicher, finanzieller und ressourcenbindender Mehraufwand folge auch daraus, dass im Falle der Anschaffung Android-basierter Endgeräte eine weitere MDM Software für deren Verwaltung angeschafft und betrieben werden müsse, weil das vorhandene MDM Software bestimmte Funktionen nur für iOS-gestützte Geräte anbiete. Dem Beweisantrag der Antragstellerin, dass die relevanten Funktionen bereits mehrere Monate vor Einleitung des Vergabeverfahrens über die Endgeräte auch für die Administration von Android-basierten Endgeräten verfügbar gewesen seien, ging der Senat nicht nach, weil er sich nicht auf alle vom Auftraggeber als wesentlich erachteten Funktionen bezogen habe und zeitlich nicht ausreichend präzise formuliert sei.
Nachvollziehbar sei auch der befürchtete erhebliche Mehraufwand im Zusammenhang mit den an das jeweilige Betriebssystem gekoppelten Apps. Dass die auf Android-basierten Endgeräten verfügbaren Apps den bereits im System des Auftraggebers verwendeten gleich wären, behaupte auch die Antragstellerin nicht. Die erforderliche Erprobung möglicher Apps mit vergleichbaren Funktionalitäten sei nur mit finanziellem und zeitlichem Aufwand zu Lasten der Unterrichtszeit möglich.
Die Berufung auf (falsche) Förderrichtlinien sei ebenso wenig entscheidend wie die Vergaberechtskonformität nicht mehr angreifbarer Entscheidungen im Zusammenhang mit der Beschaffung von iPads im Rahmen des Pilotprojekts im Jahr 2017.
Rechtliche Würdigung
Die hier besprochene Entscheidung des OLG Brandenburg verdient Kritik.
Die vom Auftraggeber im entschiedenen Fall angeführten Gründe sind grundsätzlich anerkennenswert und geeignet, eine Produktvorgabe zu rechtfertigen. Der Auftraggeber verfügt insoweit über einen weiten Beurteilungsspielraum, der aber nicht grenzenlos ist. Wie auch der Vergabesenat beim OLG Brandenburg mit zu begrüßender Klarheit nochmals herausgearbeitet hat, müssen die Gründe tatsächlich vorhanden (festzustellen und notfalls erwiesen) sein. Ausnahmen vom normativen Regelfall der produktneutralen Ausgestaltung von Vergabeverfahren sind – wie alle vergaberechtlichen Ausnahmetatbestände – restriktiv auszulegen und anzuwenden (VK Sachsen, Beschluss vom 07.02.2003 – 1/SVK/007-03). Einfache Nachteile, die regelmäßig mit einem Produktwechsel verbunden sind, die aber durch anderweitige Vorteile ausgeglichen werden können, reichen nicht aus. Erforderlich sind ein unverhältnismäßiger Mehraufwand oder nicht hinnehmbare Beeinträchtigungen der Funktionalität (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16.10.2019 – Verg 66/18). Die Darlegungs- und Feststellungslast trägt der Auftraggeber, der sich auf eine Ausnahme von der Regel beruft (OLG Celle, Beschluss vom 31.03.2020 – 13 Verg 13/19; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16.10.2019 – Verg 66/18). Dementsprechend genügt es nicht, wenn der Auftraggeber das Vorhandensein von Gründen, die eine Festlegung auf ein bestimmtes Produkt rechtfertigen, lediglich behauptet.
Es wurde zwar – wenig überraschend – festgestellt, dass sich iPads von Android-basierten Endgeräten unterscheiden. Ebenso liegt es in der Natur der Sache, dass die Einführung und Nutzung von Android-basierten Endgeräten in einem Mischbetrieb mit einem anderen Aufwand verbunden ist als die einheitliche Nutzung von iPads, selbst wenn viele schulischen Nutzer aufgrund privater Vorerfahrungen mit dem Android-Betriebssystem vertraut sein werden. Hinzu kommt, dass auf Android-basierten Endgeräten unstreitig nicht dieselben, sondern allenfalls vergleichbare Apps für den Lehrbetrieb zur Verfügung stehen, die erst erprobt werden müssten. Auch ist die beim Auftraggeber vorhandene MDM Software für Android-basierte Endgeräte nur mit Einschränkungen nutzbar. Jedoch ist aus den Beschlussgründen nicht ersichtlich, dass der Auftraggeber vorgetragen hätte, dass dieser Mehraufwand über den stets mit einem Produktwechsel einhergehenden und vergaberechtlich unbeachtlichen Mehraufwand hinausgeht und vom Auftraggeber daher nicht hingenommen werden musste. Im Gegenteil hatte der Auftraggeber sogar behauptet, dass es unmöglich sei, den nach einem Wechsel oder in einem Mischbetrieb anfallenden Mehraufwand im Vorhinein zu beziffern. Dementsprechend wurde ein unverhältnismäßiger Mehraufwand, der über den Aufwand hinausgeht, der regelmäßig mit einem Produktwechsel verbunden ist, gerade nicht festgestellt.
Dieselben Erwägungen gelten hinsichtlich der geltend gemachten Risikopotentiale, die nach dem Vortrag des Auftraggebers mit der Einführung von Android-basierten Endgeräten oder einem Mischbetrieb verbunden gewesen wären.
Die Einschätzung des Senats, wonach es im schulischen Umfeld gerechtfertigt sei, durch produktspezifisch gestaltete Vergabeverfahren im Interesse der Systemsicherheit und -funktion das Risikopotential für Fehlfunktionen oder Kompatibilitätsprobleme zu verringern, ist mit Blick auf den staatlichen Bildungsauftrag (vgl. hierzu auch VK Südbayern, Beschluss vom 21.10.2020 – 3194.Z3-3_01-20-31) überzeugend. Der vergaberechtliche Grundsatz der Produktneutralität verpflichtet Schulträger nicht zu Experimenten bei der Beschaffung von Hard- und Software für den Lehr- und Lernbetrieb. Das Risikopotential muss aber tatsächlich bestehen. Nur dann darf ausnahmsweise von dem produktneutralen Regelverfahren abgewichen werden. Erforderlich ist, dass für die grundsätzlich anerkennenswerten Risiken auch eine überwiegende Eintrittswahrscheinlichkeit feststellbar ist, damit die mit einem Produktwechsel bzw. mit einem Mischbetrieb verbundenen Beeinträchtigungen für den Schulbetrieb als nicht hinnehmbar angesehen werden. Anderenfalls besteht die Gefahr, dass der normative Ausnahmefall, die produktspezifische Ausgestaltung von Vergabeverfahren, zur Regel wird. Technisch-funktionale Unterschiede unterschiedlicher Produkte sowie der damit einhergehende Mehraufwand, der für den Auftraggeber mit einem Produktwechsel oder mit einem Mischbetrieb verbunden ist, können für sich betrachtet eine Produktvorgabe grundsätzlich nicht rechtfertigen.
Praxistipp
Nein. Ausnahmen vom Gebot der Produktneutralität bei der Gestaltung von Vergabeverfahren werden auch nach der hier besprochenen Entscheidung nicht zur Regel.
Die Entscheidung des Vergabesenats darf nicht als Freibrief für produktspezifische Gestaltungen bei der Beschaffung von IT-Leistungen verstanden werden. Öffentliche Auftraggeber sind nach wie vor gut beraten, sich nur restriktiv auf bestimmte Produkte festzulegen. Die Vermeidung von Risiken und Beeinträchtigungen für den Unterricht kann insbesondere vor dem Hintergrund des staatlichen Bildungsauftrags ein anerkennenswerter Grund für die Festlegung auf ein bestimmtes Produkt sein. Dasselbe gilt für unverhältnismäßige Mehraufwände. Die Gründe müssen aber tatsächlich vorhanden und dürfen nicht lediglich vorgeschoben sein. Der Auftraggeber, der die Ausnahme für sein Beschaffungsvorhaben in Anspruch nehmen möchte, trägt hierfür die Darlegungs- und Feststellungslast. Pauschale Behauptungen und die Argumentation mit der allgemeinen Lebenserfahrung sind und bleiben riskant. Die Hinzuziehung sachverständiger Hilfe in der Planungsphase kann dagegen einen wichtigen Beitrag zu mehr Rechtssicherheit produktspezifischer Vergabeverfahren leisten.
Die hier besprochene Entscheidung hat jedoch gezeigt, dass der einen Verstoß gegen das Gebot der Produktneutralität rügende Bieter sich nicht darauf zurückzuziehen sollte, dass der öffentliche Auftraggeber die Feststellungs- und Darlegungslast für das tatsächliche Vorhandensein des geltend gemachten Grundes für eine Festlegung auf ein bestimmtes Produkt trägt. Er muss vielmehr im Rahmen seiner Mitwirkungsobliegenheit im Nachprüfungsverfahren zur Sachverhaltsaufklärung beitragen und ggf. substantiiert darlegen, dass die behaupteten Risiken und Mehraufwände, die mit einem produktneutralen Vergabeverfahren und einer Beauftragung seines Produktes verbunden wären, tatsächlich nicht vorliegen. Diese sekundäre Darlegungslast des Bieters kann bereits dann greifen, wenn die Nachprüfungsinstanz entscheidungserhebliche Tatsachen nicht aufgrund substantiierten Sachvortrags des Auftraggebers, sondern aus eigener Kenntnis oder aufgrund allgemeiner Lebenserfahrung als erwiesen ansieht.