Immer Ärger mit Luca oder The trouble with the competition light (OLG Rostock, Beschl. v. 11.11.2021 – 17 Verg 4/21)

EntscheidungIn der amerikanischen Filmkomödie von Alfred Hitchcock The Trouble with Harry aus dem Jahr 1955 , die in Deutschland unter dem Titel Immer Ärger mit Harry bekannt geworden ist, fühlen sich jeweils mehrere Personen irrtümlich für den Tod von Harry verantwortlich und versuchen deshalb nacheinander, seine Leiche verschwinden zu lassen. Wiederkehrende und teilweise selbstgemachte Probleme hat sich auch das Land Mecklenburg-Vorpommern im Zusammenhang mit Entscheidungen des OLG Rostock zum Wettbewerb light und zur Luca-App eingehandelt.

§ 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV; § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB

Leitsatz

Auch in den Fällen der so genannten Notvergabe gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV hat der öffentliche Auftraggeber so viel Wettbewerb wie jeweils möglich sicherzustellen; er muss daher regelmäßig mehrere Angebote einholen und so mindestens Wettbewerb light initiieren. Tut er dies nicht, liegt ein Ermessensfehler vor. Der solchermaßen ermessensfehlerhaft ohne jeden Wettbewerb dem einzig angesprochenen Bieter erteilte Direktauftrag ist gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB unwirksam (Festhaltung an dem Senatsbeschluss vom 9. Dezember 2020 – 17 Verg 4/20).

Sachverhalt

Anfang März 2021 beauftragte das Land Mecklenburg-Vorpommern im Weg des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb die culture4life GmbH als Anbieter der Luca-App mit der Lieferung eines Kontaktverfolgungssystems. Obwohl andere Marktteilnehmer zuvor Interessenbekundungen per E-Mail übermittelt hatten, wurden diese nicht berücksichtigt. Mit Beschluss vom 01.09.2021 -17 Verg 2/21 (vgl. dazu Duhme in Vergabeblog.de vom 04.10.2021, Nr. 48052) hatte das OLG Rostock die Beschwerde eines Interessenten zurückgewiesen. Die Antragstellerin könne sich nicht mit Erfolg auf einen etwaigen Vergaberechtsverstoß des Antragsgegners berufen. Denn das von ihr angebotene Programm erfülle zwingende Kriterien, die der Antragsgegner für die Beschaffung in willkürfreier und auch sonst zulässigerweise aufgestellt habe, nicht.

Mit dieser Entscheidung war der Auftraggeber jedoch noch nicht aus dem Schneider. Denn gegen die De-Facto-Vergabe der Luca-App hatten sich auch zwei weitere Interessenten mit einem Nachprüfungsantrag an die Vergabekammer gewendet. Zwar wurden diese von der Vergabekammer mit Beschlüssen vom 03.06.2021 (3 VK 2/21) bzw. 17.08.2021 (3 VK 5/21) zurückgewiesen. Beide Antragsteller erhoben aber fristgerecht sofortige Beschwerde zum OLG Rostock, das damit erneut Gelegenheit erhielt, über den Beschaffungsvorgang zu entscheiden – in einem Fall mit Erfolg für den Antragsteller.

Die Entscheidung

Mit Beschluss vom 11.11.2021 – 17 Verg 4/21 (Luca II) hat der Vergabesenat des OLG Rostock auf Antrag einer deutschen Softwarefirma entschieden, dass der am 08./12.03.2021 zwischen dem Land Mecklenburg-Vorpommern und der culture4life GmbH geschlossene Vertrag über die Beschaffung der sogenannten Luca-App unwirksam ist. In der Direktvergabe liege ein Wettbewerbsverstoß, der die Unwirksamkeit des Vertrages zur Folge habe. Ein Antrag auf Gestattung der Fortführung des Vertrages wurde zurückgewiesen. Danach sei zwar eine Vergabe ohne vorherige europaweite Ausschreibung gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV zulässig gewesen. Das Land Mecklenburg-Vorpommern hätte nach Ansicht des Oberlandesgerichts trotz bestehender unvorhersehbarer Dringlichkeit und daraus folgender Nichteinhaltung der Mindestfristen so viel Wettbewerb wie möglich gewährleisten und dazu zumindest mehrere Angebote einholen müssen. Zumindest die eigeninitiativ eingegangenen Angebote über die VIDA-App hätten danach in die Auswahlentscheidung mit einbezogen werden müssen. Die VIDA-App sei auch grundsätzlich konkurrenzfähig und erfülle die Mindestanforderungen der Antragsgegnerin. Insbesondere verfüge die App über eine Schnittstelle zur Fachanwendung SORMAS.

Mit Beschluss vom selben Tage 17 Verg 6/21 (Luca III) hat das OLG Rostock die sofortige Beschwerde eines anderen Interessenten gegen einen seinen Nachprüfungsantrag zurückweisenden Beschluss der Vergabekammer zurückgewiesen. Denn die Antragstellerin habe mit ihrer App kein System zur digitalen Kontaktnachverfolgung angeboten und könne sich daher auf eine vermeintliche Vergaberechtswidrigkeit der Direktvergabe der LUCA-App nicht berufen.

Das einzige Oberlandesgericht des Landes Mecklenburg-Vorpommern hat damit einem gegen die Direktbeschaffung der Luca-App gerichteten Nachprüfungsantrag als zulässig und begründet stattgegeben und in zwei Fällen die Rechtsmittel anderer Interessenten mangels Rechtsverletzung zurückgewiesen.

Rechtliche Würdigung

Die Begründetheit in der Sache – 17 Verg 4/21 – stützt das Gericht darauf, dass zwar eine Vergabe ohne Teilnahmewettbewerb zulässig sei, dann aber ein Wettbewerb light hätte durchgeführt werden müssen. Die Nichtdurchführung eines solchen Wettbewerbs führe zur Feststellung der Unwirksamkeit des Vertrages. Dies ist zwar nicht unproblematisch. Der Auftraggeber musste aber mit einer entsprechenden Entscheidung rechnen.

Nach § 97 Abs. 1 GWB werden öffentliche Aufträge im Wettbewerb und im Wege transparenter Verfahren vergeben. Dabei steht ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach § 119 Abs. 2 GWB in Verbindung mit § 14 Abs. 2 Satz 2 VgV nur zur Verfügung, soweit dies nach den gesetzlich definierten Ausnahmefällen zulässig ist. Nach § 119 Abs. 5 GWB ist das Verhandlungsverfahren ein Verfahren, bei dem sich der öffentliche Auftraggeber mit oder ohne Teilnahmewettbewerb an ausgewählte Unternehmen wendet, um mit einem oder mehreren dieser Unternehmen über die Angebote zu verhandeln. Gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV kann der Auftraggeber Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben, wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das offene und das nicht offener Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind, wobei die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit den öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sein dürften. Bei einem Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb erfolgt gemäß § 14 Abs. 5 VgV keine öffentliche Aufforderung zur Abgabe von Teilnahmeanträgen, sondern unmittelbar eine Aufforderung zur Abgabe von Erstangeboten an die von öffentlichem Auftraggeber ausgewählten Unternehmen. Dabei kann im Einzelfall eine Verhandlung und Auftragsvergabe in Bezug auf lediglich einen Anbieter in Betracht kommen.

Demgegenüber meint das OLG Rostock, dass in einem Fall der äußersten Dringlichkeit ein Wettbewerb light erforderlich sein könne und ein Verstoß gegen diese Verpflichtung zur Unwirksamkeit des Vertrags führe. So hatte das Gericht bereits mit Beschluss vom 09.12.2020 – 17 Verg 4/20 bezüglich eines Vertrages über die Durchführung von Corona-Tests entschieden. Und mit Beschluss vom 30.10.2019 – 17 Verg 5/19 hatte der Vergabesenat bereits als Mindestanforderung eines Wettbewerbs bestimmt, dass der Auftraggeber die bereits vorliegenden Angebote prüft und eine Auswahl trifft, anderenfalls könne von einem auch nur ansatzweise wettbewerblichen Verfahren Wettbewerb light keine Rede sein. Das ist jedoch nicht unumstritten, eine gesicherte höchstrichterliche Rechtsprechung liegt dazu nicht vor und es kann insoweit wohl auch nicht von einer herrschenden Meinung gesprochen werden. Insofern ist es zwar zu begrüßen, dass das OLG Rostock Dringlichkeitsvergaben einschränken will, weil diese im Rahmen der Corona-Krise teilweise überhandgenommen haben (auch dann, wenn keine besondere Dringlichkeit vorlag). Das Abstellen auf einen gesetzlich nicht geregelten Wettbewerb light ist aber problematisch, weil Voraussetzungen und Inhalt eines solchen Wettbewerbs nicht gesetzlich geregelt und damit unklar sind und die Durchführung eines solchen Wettbewerbs die besondere Dringlichkeit widerlegen könnte. Zudem könnten im Lichte des europäischen Primärrechts ein weites Ermessen des Auftraggebers bei der Ausgestaltung des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb oder eine einschränkende Auslegung des § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB geboten sein. Nach Art. 14 AEUV obliegt es der Union und den Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse, die Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse so zu gestalten, dass diese Dienste ihre Aufgabe erfüllen können. In diesem Sinne hatte beispielsweise die Vergabekammer Lüneburg für eine freihändige Interimsvergabe von Rettungsdienstleistungen eine den Anwendungsbereich des § 3 Abs. 4 lit. g VOL/A und des § 3 Abs. lit. d VOL/A-EG (zwingende Dringlichkeit für freihändige Vergabe bzw. Verhandlungsverfahren ohne Bekanntmachung) erweiternde Auslegung als ausnahmsweise angezeigt erachtet (Vergabekammer bei der Bezirksregierung Lüneburg, Beschluss vom 03.02.2012 – VgK-01/2012 , Rn. 55), obwohl die Gründe für die besondere Dringlichkeit der Sphäre der Antragsgegnerin zuzuordnen waren. Verständlich ist die Entscheidung des OLG Rostock jedoch vor dem Hintergrund, dass das Land Mecklenburg-Vorpommern nach der Entscheidung zu Corona-Tests vom 09.12.2020 – 17 Verg 4/20 – die sich daraus ergebenden Anforderungen in der Corona-Krise erneut missachtet hat.

Praxistipp

Infolge der Feststellung des OLG Rostock ist der zwischen dem Land Mecklenburg-Vorpommern und der culture4life GmbH geschlossene Vertrag von Anfang an unwirksam. Die gegenseitigen Leistungspflichten sind mithin erloschen und der Rechtsgrund für die wechselseitigen Leistungen ist entfallen. Dementsprechend hat eine Rückabwicklung des Vertrages nach Bereicherungsrecht gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB zwingend zu erfolgen. Dabei wird es dem Auftraggeber nicht möglich sein, das Erlangte in natura herauszugeben, weshalb er nach § 818 Abs. 2 BGB den Wert der Leistungen zu ersetzen hat. Maßgeblich dafür ist der objektive Verkehrswert, der seinen Ausdruck in einer üblichen und angemessenen Vergütung findet. Das könnte also letztlich auf die vereinbarte Vergütung hinauslaufen.

Wenn das Land Mecklenburg-Vorpommern weiterhin eine App zur Kontaktverfolgung einsetzen will, muss es ein neues Vergabeverfahren durchführen. Der im sofortigen Beschwerdeverfahren erfolgreiche Bieter hat einen Anspruch darauf, dass der Auftraggeber bei Fortbestehen der Absicht der Beschaffung der Dienstleistungen zur Auftragserteilung ein (neues) Vergabeverfahren nach §§ 97, 119 GWB unter Beachtung der Rechtsansichten des Vergabesenats durchführt. Unabhängig davon kommen Schadensersatzansprüche für den im sofortigen Beschwerdeverfahren erfolgreichen Bieter in Betracht.

Die Entscheidung des OLG Rostock hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Beschaffung der Luca-App durch andere öffentliche Auftraggeber. Denn diese Entscheidung bezieht sich nur auf die streitgegenständliche Dringlichkeitsvergabe des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Zwar haben auch andere Bundesländer die Luca-App unter Berufung auf Dringlichkeit ohne wettbewerbliches Verfahren beschafft. Da dies jedoch nicht sittenwidrig war oder gegen gesetzliche Verbote verstieß, hätte dies nur dann die Unwirksamkeit zur Folge, wenn Interessenten auch rechtzeitig und zulässigerweise gegen diese Beschaffungen vorgegangen wären. Denn nur im Rahmen eines zulässigerweise eingelegten Nachprüfungsantrags kann eine Vergabekammer oder ein Vergabesenat die Unwirksamkeit feststellen. Vergaberechtlich können Verträge, die ohne das erforderliche förmliche Vergabeverfahren geschlossen wurden, nur längstens sechs Monate nach Vertragsschluss angegriffen werden. Nach Ablauf der Sechsmonatsfrist sind diese Verträge wirksam und können auch nicht mehr angegriffen werden, vgl. § 135 Abs. 2 GWB. Die Frist kann durch eine Veröffentlichung der Bekanntmachung der Auftragsvergabe im Amtsblatt der Europäischen Union erheblich verkürzt werden. Denn gemäß § 135 Abs. 2 Satz 2 GWB endet die Frist zur Geltendmachung der Unwirksamkeit 30 Kalendertage nach Veröffentlichung einer solchen Bekanntmachung der Auftragsvergabe im Amtsblatt der Europäischen Union. Wenn der Zeitraum abgelaufen ist und die Vertragspartner beim Vertragsschluss nicht kollektiv zur Umgehung des Vergaberechts zusammengewirkt haben, sind die Verträge wirksam.

Die Vergabestellen haben es also in der Hand, den Beginn der 30-Tage-Frist durch Veröffentlichung des Vertragsschlusses im EU-Amtsblatt in Gang zu setzen und damit schneller Klarheit über Wirksamkeit oder Unwirksamkeit des Vertrages zu erzielen. So haben es beispielsweise das Land Rheinland-Pfalz (Bekanntmachung 2021/S 080-205721) und das Bayerisches Staatsministerium für Digitales (Bekanntmachung 2021/S 070-179017) gemacht.

Die Entscheidungen setzten die bundesweite Rechtsprechungsreihe fort, die sich seit dem Sommer 2020 mit diversen Direktvergaben im Kontext der Corona-Pandemie auseinandersetzt haben. Dabei hat sich bestätigt, dass § 14 Abs. 4 VgV nicht nur auf der Tatbestandsseite im Sinne einer Ausnahmevorschrift eng ausgelegt werden muss, sondern auch die Rechtsfolgenseite keinen Freibrief ermöglicht.

Angesichts der Rechtsprechung des OLG Rostock und auch schon des OLG Karlsruhe (Beschluss vom 04.12.2020 – 15 Verg 8/20, Rn. 39) sollten Auftraggeber auch in Situationen besonderer Dringlichkeit die Möglichkeit der Ansprache mehrerer Unternehmen sowie etwaig bereits eingegangene Angebote oder Interessenbekundungen prüfen und ggf. eine Auswahl treffen. Zudem muss all dies nachvollziehbar dokumentiert werden. Ein solcher Minimalwettbewerb ist zwar gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 2 VgV nicht erforderlich, wenn der Auftrag nur von einem bestimmten Unternehmen erbracht oder bereitgestellt werden kann. Auch dieser Tatbestand dürfte aber in den wenigsten Fällen tatsächlich vorliegen und muss in jedem Fall eng ausgelegt werden. Denn anderenfalls droht immer wieder Ärger mit dem „Wettbewerb light“.