„Vergaberecht wirkungsvoll und sinnvoll implementieren“ – Prof. Dr. Eßig (UniBW) im Interview

Prof. EßigUniv.-Prof. Dr. rer. pol. Michael Eßig an der Universität der Bundeswehr München gehört in der öffentlichen Beschaffungs- und Vergabeszene seit vielen Jahren zum „Kernbestand“ wichtiger Persönlichkeiten, denen es immer lohnt, zuzuhören. Dem Vergabeblog gegenüber stand Prof. Eßig bereits des Öfteren für ein Interview bereit, z.B. im Interview auf . Rund 50.000.000.000 EUR soll, wenn es nach dem Plan der Bundesregierun geht, der Wehretat noch 2022 betragen; Die Einrichtung eines Sondervermögens von 100.000.000.000 Euro ist geplant – Ein Grund für ein erneutes Interview mit Prof. Eßig. Diesesmal im Gespräch mit Marco Junk:

Junk: Lieber Herr Professor Eßig, die Bundeswehr erfährt dieser Tage so viel Aufmerksamkeit und auch Wertschätzung wie lange nicht, vermutlich Jahrzehnte lang nicht. Kommt das in der öffentlichen Wahrnehmung veränderte Image auch bei Ihnen, Ihren Studenten, der Truppe an?

Eßig: Wir alle hätten uns nicht vorstellen können, dass in 2022 wieder ein Krieg in Europa stattfindet. Daher ist der Anlass, über Verteidigung und Bundeswehr zu diskutieren, ein mehr als trauriger. Machen wir uns aber nichts vor: Es hat in der ganzen Zeit weltweit mehr als genug kriegerische Auseinandersetzungen gegeben – und die Bundeswehr war bzw. ist in vielen Auslandseinsätzen dabei. Und wenn wir uns dazu entscheiden, unsere Sicherheit auch durch Verteidigungsbereitschaft sicherzustellen, müssen wir die Frauen und Männer, die für uns alle Dienst tun, auch adäquat ausstatten. Ich habe großen Respekt vor allen Soldatinnen und Soldaten und der Arbeit, die sie für uns alle tun.

„Wir beobachten einen Rückgang der Bieterzahlen“

Junk: Der desolate Zustand der Bundeswehr war kein Geheimnis und kein Versehen. Sie wurde seit ca. 1990 konsequent heruntergespart. Analog zur Nachfrage gingen aber auch die Produktionskapazitäten der Rüstungsindustrie herunter. Glauben Sie, die lassen sich so schnell wieder hochfahren?

Eßig: Die Aussagen des Inspekteurs des Heeres zur Ausstattungssituation der Bundeswehr („Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da“) zeigt diesen desolaten Zustand deutlich. Daher helfen die Finanzmittel, die Parlament und Regierung der Bundeswehr nun zukommen lassen, sehr. Wo kein Geld, kann nichts beschafft werden. Aber das alleine wird nicht reichen. Neben der Frage, was beschafft werden soll, müssen auch die Fragen des „wie“ wird beschafft und bei „wem“ wird beschafft, geklärt werden. „Wie“ steht für Strukturen, Prozesse und (insbesondere rechtliche) Rahmenbedingungen der Beschaffung, von „wem“ steht für den Beschaffungsmarkt bzw. die Lieferanten. Hier müssen wir zwei Dinge beachten: In der öffentlichen Beschaffung beobachten wir in den letzten Jahren generell einen Rückgang der Bieterzahlen. Auf Basis der TED-Daten konnten wir ermitteln, dass die durchschnittliche Zahl der Bieter je Los im Zeitraum von 2009 bis 2018 von knapp unter neun auf knapp über vier zurückgegangen ist, sich damit etwa halbiert hat. Gleichzeitig steigen in allen Industrien die Versorgungsengpässe, Stichwort „Chipkrise“. Selbst wenn Sie heute „nur“ ein Fahrrad kaufen möchten, müssen sie sich monatelang gedulden, weil wichtige Bauteile fehlen. Und die Bundeswehr steht vor ganz anderen Herausforderungen – Fahrzeuge, Schiffe, Flugzeuge, Schutzbekleidung und vieles andere mehr sind ein hochkomplexes Beschaffungsportfolio, das noch ganz anders in industrielle Wertschöpfungsketten eingebunden ist.

Junk: Das BMVg hat Vergaben betreffend klargestellt, den Ausnahmetatbestand der „Dringlichkeit“ anzuerkennen. Inwieweit kommt dem „Wie“ der Vergabe denn jetzt eine entscheidende Rolle zu? Daran, dass wir aktuell noch 286 von ehemals 1200 Kampfpanzern haben, ist ja nicht das Vergaberecht schuld.

Eßig: Nein, das ist tatsächlich nicht die Schuld des Vergaberechts, sondern primär darauf zurückzuführen, dass schlichtweg die Mittel fehlten – und daher helfen (wie bereits angesprochen) die 100 Mrd. € sehr viel. Unsere Forschung zur innovativen öffentlichen Beschaffung zeigt, dass eine strategische Beschaffungszielvorgabe alleine noch nicht die gewünschte Wirkung nach sich zieht – der Zusammenhang erfolgt statt dessen über die Qualität der Beschaffungsstelle und den Innovationsgrad des Beschaffungsprozesses. Es gibt also einen Strategie-Struktur-Prozess-Wirkungs-Zusammenhang.

„Hauptziel muss es sein, das Vergaberecht wirkungsvoll und sinnvoll zu implementieren“

Wenn wir uns die Prinzipien des Vergaberechts anschauen, dann sind wir uns vermutlich alle einig, dass diese mehr als sinnvoll sind: Die Vergabe in transparenten, nachvollziehbaren Verfahren im Wettbewerb nach den Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und Verhältnismäßigkeit ist doch unzweifelhaft wichtig und alles andere als „schlecht“. Konkret genannte Zuschlagskriterien in VgV und VSVgV wie (wortwörtlich) „Qualität, einschließlich des technischen Werts, Verfügbarkeit von Kundendienst und technischer Hilfe sowie Lieferbedingungen wie Liefertermin, Betriebskosten, Lebenszykluskosten, Interoperabilität und Eigenschaften beim Einsatz, Lieferfrist oder Ausführungsdauer und Versorgungssicherheit“ können alles abbilden, was zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Bundeswehr benötigt wird. Hauptziel muss es sein, das Vergaberecht wirkungsvoll und sinnvoll zu implementieren, damit die gewünschten Ziele auch tatsächlich erreicht werden.

Junk: Was müsste aus Ihrer Sicht denn noch im Vergaberecht dereguliert werden?

Eßig: Das Vergaberecht ist bei weitem nicht die einzige Vorschrift und Rechtsnorm, mit denen sich die Bundeswehr auseinandersetzen muss. Hauptproblem ist nicht die Tatsache, dass wir regelbasiert arbeiten müssen – im Gegenteil: Bürgerinnen und Bürger sowie das Parlament sollen und wollen wissen, dass das Geld sinnvoll ausgegeben wird. Daher plädiere ich dafür, sich auf wenige, wirklich wirkungsvolle Regeln zu konzentrieren, die genau das sicherstellen sollen.

Viel problematischer ist die schiere Menge an Vorschriften, die die Bundeswehrbeschaffung zu beachten hat – diese reicht von der Arbeitsstättenverordnung bis zu Dienstvorschriften und ‑regelungen. Das ist in Teilen allein über das enorm breite Beschaffungsportfolio begründbar – welche andere Organisation vereinigt unter einem Dach Flugbetrieb inkl. Flughäfen, eine Schiffs- und Unterseebootflotte, einen Großfuhrpark und vieles andere mehr.

Umgekehrt ist es gerade wegen der hohen technischen Komplexität wichtig, dass wir nicht zusätzlich noch eine Organisations- und Regelungskomplexität aufbauen. Daher gilt hier der bekannte Grundsatz: Weniger ist mehr.

„Wir reden seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten über strategische Beschaffung“

Junk: Und abseits dessen, genügt die Formel Geld + schlankes Vergabeverfahren oder müssen noch ganz andere Baustellen angegangen werden?

Eßig: Wir reden seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten über strategische Beschaffung. Wenn nicht jetzt, wann dann, wird deutlich, wie wichtig das Verständnis der Beschaffung als strategische Funktion für das Funktionieren staatlicher Einrichtungen ist. Das bedeutet für mich, das Beschaffungssystem mit dem Beschaffungsvolumen mitwachsen zu lassen – quantitativ und qualitativ. Natürlich gehört dazu die konsequente Nutzung digitaler Technologien. Und das geht weit über die elektronische Vergabe hinaus. Denken Sie bspw. an die Nutzung von Smart Contracts für intelligente, anreizbasierte Verträge mit Lieferanten oder an digitale Zwillinge, welche automatisiert Nachbestellbedarfe für Ersatzteile etc. erkennen. Es gilt, Beschaffungsorganisation und Beschaffungsprozesse konsequent kompetenzorientiert aufzubauen, Beschaffungsmärkte und Lieferanten im Sinne einer Beschaffungsmarktforschung zu beobachten und in der Beschaffungsstrategie zu verankern (Stichwort Zulässigkeit der Markterkundung). Gleichzeitig sind die Beschaffungswege entsprechend auszudifferenzieren – das Beschaffungsportfolio der Bundeswehr umfasst eben nicht nur hochspezifische Waffensysteme, sondern auch viele Produkte, die marktgängig beschafft werden können. Andere Punkte haben wir bereits besprochen, bspw. das oft falsch verstandene Wirtschaftlichkeitspostulat – wirtschaftlich ist eben nicht billig, sondern steht (so das Vergaberecht) für das beste Preis-Leistungs-Verhältnis (oder besser: Das beste Verhältnis von Leistung zu Kosten).

Junk: Stichwort Digitalisierung: Panzer, Flugzeuge und Munition sind Waffen des letzten Jahrtausends, heute wird auch digital oder jedenfalls digital unterstützt gekämpft. Die digitale Ertüchtigung der Verwaltung in Bund, Ländern und Kommunen kommt seit Jahren nur schleppend voran. Wie sieht es bei der Bundeswehr aus?

Eßig: Die Bundeswehr hat schon relativ früh mit dem Cyber- und Informationsraum einen eigenen Organisationsbereich geschaffen. Wir selbst arbeiten mit verschiedenen Dienststellen der Bundeswehr an spannenden Forschungsprojekten u.a. zum Smart Contract Design bei der Beschaffung, zur Nutzung der Additiven Fertigung in der Supply Chain oder zu Digitalen Zwillingen bei der Optimierung der Bekleidungsbeschaffung. Es geschieht viel – Digitalisierung ist mehr als die Umwandlung eines Papierdokuments in ein PDF-Formular. Digitale Prozesse in der Beschaffung, die Beschaffung digitaler Produkte und schließlich völlig neue digitale Geschäftsmodelle mit Lieferanten werden den Einkauf stark verändern – und der öffentliche Sektor ist davon mindestens ebenso betroffen wie die Privatwirtschaft.

Junk: Sie sind bereits seit 2003, das sind bald 20 Jahre, Inhaber der Professur für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Beschaffung und Supply Management an der Universität der Bundeswehr München. Haben sich in dieser Zeit auch die Lehrinhalte verändert?

„Im Kern geht es schon immer um die Kernfrage, wie man „gut einkauft“. Was „gut“ bedeutet, hat sich aber stark gewandelt.“

Eßig: 20 Jahre? Ich fühle mich auf einmal so alt… Im Ernst: Im Kern geht es schon immer und immer noch um die Kernfrage, wie man „gut einkauft“. Die Frage, was „gut“ bedeutet, hat sich aber in dieser Zeit stark gewandelt: Aspekte wie soziale und ökologische Nachhaltigkeit werden immer wichtiger, die bereits angesprochene Digitalisierung verändert vieles. Das schlägt sich in Forschung und Lehre natürlich unmittelbar nieder. Die Erwartungshaltung an eine leistungsfähige Beschaffung steigt – wer im Privatleben gewohnt ist, auf Knopfdruck Bestellungen zu tätigen, die am nächsten Tag geliefert werden, hat diese Erwartungshaltung auch im beruflichen Umfeld.

Die Pandemie hat gezeigt, dass wir mit digitaler Lehre viel erreichen können, das war ein echter „Beschleuniger“. Gleichzeitig wurde auch deutlich, dass das persönliche Gespräch und der persönliche Austausch durch nichts zu ersetzen ist. Diesen Austausch mit meinen Studierenden, meinen Kolleginnen und Kollegen, meinem Team, mit den vielen engagierten Menschen in der Beschaffungspraxis schätze ich jetzt vielleicht noch mehr und macht die Arbeit herausfordernd wie spannend.

„Wir kommen einem eigenständigen Berufsbild  immer näher“

Junk: Sie haben oft das anerkannte Berufsbild des „Beschaffers“ gefordert. Wo stehen wir denn da?

Eßig: Noch nicht am Ziel! Aber es ist viel passiert. Zwei Beispiele: Wie haben einen Fachanwalt für Vergaberecht und die Europäische Kommission hat einen Europäischen Kompetenzrahmen für Fachkräfte des öffentlichen Beschaffungswesens veröffentlicht. Wir kommen einem eigenständigen Berufsbild also immer näher. Und die Beschaffungs-„Community“ ist lebendig wie nie, nicht zuletzt auch Dank Ihrer Aktivitäten hier im Vergabeblog, im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) und beim Deutschen Vergabetag. Am Engagement der Beteiligten scheitert es sicherlich nicht und die Diskussionen, die bspw. die Politik derzeit für eine stärker klima- und kreislaufwirtschaftsorientierte Beschaffung führt, sehe ich als riesige Chance, die Beschaffung in diesem Sinne noch stärker strategisch zu positionieren und damit die Idee einer/eines strategischen öffentlichen Einkäuferin/Einkäufers weiter voranzubringen.

Junk: Wir fragen bei Interviews im Vergabeblog auch immer eine persönliche Komponente ab: Die vergangenen zwei Jahren waren bekanntermaßen nur sehr beschränkt für private Aktivitäten nutzbar. Wie bzw. womit haben sie sie verbracht?

Eßig: Positives kann man der Pandemie in der Tat nicht abgewinnen – aber weniger Dienstreisen ist sicher eine angenehme Begleiterscheinung. Etwas häuslicher zu sein, kann auch neue Kräfte freisetzen. Ich habe das große Glück, eine wunderbare Familie zu haben. Die mussten sich zwar zu Hause deutlich mehr Vorlesungen und Vorträge zur Beschaffung anhören, als wenn ich auswärts gewesen wäre, aber sie haben es mit Gleichmut ertragen und wir konnten das Beste aus der Situation machen. Ich persönlich habe also keinen Grund zur Klage, auch wenn wir alle gemeinsam vermutlich erst jetzt so richtig einordnen können, wie wichtig (und wie wenig selbstverständlich!) sozialer Austausch und sozialer Zusammenhalt für uns alle sind.

Junk: Vielen Dank für das Interview!

Anmerkung der Redaktion

Das Interview führte Marco Junk, Gründer des Vergabeblogs und Geschäftsführer Deutsches Vergabenetzwerk GmbH (DVNW)

 

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