Vergabe von Corona-Testzentren: Nur die bekanntgemachten Eignungskriterien sind maßgeblich (KG Berlin, Beschl. v. 10.05.2022 – Verg 2/22)
Mit Beschluss vom 10.05.2022 stellt das Kammergericht klar, dass für die Wertung von Angeboten und deren Ausschluss nach § 57 Abs. 1 VgV allein die in der Auftragsbekanntmachung festgelegten Eignungskriterien und Nachweise maßgeblich sind. Der Auftraggeber kann nur solche Kriterien und Nachweise fordern, die sich aus den Ausschreibungsunterlagen nach den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen gemäß §§ 133, 157 BGB aus Sicht der Bieter entnehmen lassen (Leitsatz 1). Außerdem führte der Vergabesenat in seiner Entscheidung aus, dass vom Auftraggeber selbst verschuldete Umstände keine Interimsvergabe zur Schließung einer drohenden Versorgungslücke begründen (Leitsatz 2).
§§ 122 Abs. 4 Satz 2, 169 Abs. 1 GWB; §§ 48 Abs. 1, 57 Abs. 1 VgV; §§ 133, 157 BGB
Leitsätze
1. Maßgeblich für die Eignungsprüfung nach § 57 Abs. 1 VgV sind alleine die in der Auftragsbekanntmachung festgelegten Eignungskriterien und die dort für ihren Beleg geforderten Nachweise (§ 122 Abs. 4 Satz 2 GWB, § 48 Abs. 1 VgV). Gefordert werden kann danach nur, was sich der Ausschreibung nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen (§§ 133, 157 BGB) nach dem Empfängerhorizont der angesprochenen Unternehmen entnehmen lässt.
2. Die vergaberechtswidrige Erteilung eines Interimsauftrag über Leistungen, die Gegenstand eines Vergabeverfahrens sind, zu dem ein Vergabenachprüfungsverfahren anhängig ist, stellt einen Verstoß gegen das Zuschlagsverbot aus § 169 Abs. 1 GWB dar und kann in dem laufenden Nachprüfungsverfahren gerügt werden. Erledigt sich das Vergabeverfahren, das Gegenstand dieses Nachprüfungsverfahrens war, ist die Verletzung des Zuschlagsverbotes durch die vergaberechtswidrige Interimsvergabe auf Antrag eines Beteiligten nach Maßgabe der §§ 168 Abs. 2 Satz 2, 178 Satz 3 GWB festzustellen.
Sachverhalt
Der Auftraggeber, das Land Berlin, schrieb zwei Aufträge über die Einrichtung und den Betrieb von insgesamt zwölf Corona-Testzentren unter anderem zur Durchführung von Antigen-Schnell- und PCR-Tests für den Monat Dezember 2021 mit jeweils drei einmonatigen Verlängerungsoptionen bis März 2022 europaweit aus (EU-Abl. 2021/S 186-484720 vom 24. September 2021). Die Antragstellerin und die Beigeladene reichten neben weiteren Bietern Angebote ein. Das Angebot der Antragstellerin wurde vom Verfahren ausgeschlossen. Zur Begründung führte das Land Berlin aus, die eingereichten Referenzen seien nicht ausreichend, weil sie die in den Vergabeunterlagen geforderten Voraussetzungen nicht erfüllten.
In der Bekanntmachung hieß es unter dem Abschnitt Teilnahmebedingungen, dass „Referenzen gemäß Vordruck über 2 vergleichbare Aufträge“ einzureichen waren. Der streitgegenständliche Vordruck forderte mindestens zwei vergleichbare Referenzen für den gleichzeitigen Betrieb von mindestens sechs stationären Teststationen mit einer Kapazität von täglich mindestens 500 Tests.
Die Antragstellerin leitete vor der Vergabekammer des Landes Berlin ein erfolgreiches Nachprüfungsverfahren ein, da sie sich durch den Ausschluss ihres Angebots in ihren Rechten verletzt sah (VK Berlin, Beschluss vom 18.01.2022, VK-B1-43/21; Vergabeblog.de vom 17/05/2022, Nr. 49781). Das Land Berlin hatte in der Zwischenzeit zur Überbrückung drohender Versorgungslücken der Beigeladenen interimsweise den Zuschlag jeweils monatlich für Dezember 2021 bis März 2022 erteilt. Diese Interimsvergabe erklärte die Vergabekammer des Landes Berlin ebenfalls für unzulässig (VK Berlin, Beschluss vom 18.01.2022, VK-B1-52/21; Vergabeblog.de vom 17/05/2022, Nr. 49781).
Hiergegen wandte sich das Land Berlin mit einer sofortigen Beschwerde an das Kammergericht. Die Beschwerde blieb ohne Erfolg, weil der Ausschluss des Angebots der Antragstellerin vergaberechtlich ungerechtfertigt gewesen sei. Entgegen der Ansicht des Auftraggebers hielt das Gericht die Referenzen für ausreichend. Dass die Antragstellerin lediglich Erfahrungen bei dem Betrieb „freier“, vom Land zertifizierter Testzentren habe nachweisen können, sei nach den in der Ausschreibung vom Land Berlin selbst formulierten Anforderungen ausreichend gewesen.
Darüber hinaus stellte das Kammergericht klar, dass die interimsweise monatliche Beauftragung zum Betrieb der Testzentren von Dezember 2021 bis März 2022 zur Schließung der Versorgungslücke während des laufenden Nachprüfungsverfahrens gegen ein bestehendes Zuschlagsverbot verstoßen habe.
Die Entscheidung
Aus Sicht des Kammergerichts war es ausreichend, dass sich die Referenzen der Antragstellerin hinsichtlich der Zulassung für den Betrieb von Teststellen auf die durch die Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung gemachten Angaben bezog.
Der Vergabesenat des Kammergerichts führte dazu aus, dass nach § 57 Abs. 1 VgV Angebote von Unternehmen von der Wertung ausgeschlossen werden, die die Eignungskriterien nicht erfüllen, insbesondere auch solche, die die geforderten Nachweise nicht enthalten, vgl. § 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV. Maßgeblich seien insoweit allein die in der Auftragsbekanntmachung festgelegten Eignungskriterien und Nachweise. Dies folge für die Eignungskriterien aus § 122 Abs. 4 Satz 2 GWB und für die Nachweise aus § 48 Abs. 1 VgV. Der Auftraggeber kann demnach lediglich das fordern, was sich der Ausschreibung nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen gemäß §§ 133, 157 BGB aus Sicht der Bieter bzw. angesprochenen Unternehmen entnehmen lässt.
Diese Vorgaben habe die Antragstellerin erfüllt und die vom Land Berlin geforderten Eignungskriterien im Hinblick auf eine vorangegangene Beauftragung im Rahmen der Referenzen ausreichend dargelegt, da in der Auftragsbekanntmachung die „Referenzen gemäß Vordruck über 2 vergleichbare Aufträge“ gefordert waren. Die Antragstellerin konnte darlegen, dass sie die Vorgaben für den gleichzeitigen Betrieb von mindestens sechs stationären Teststationen mit einer Kapazität von mindestens 500 Tests erfüllt. Ob die Referenzen den Anforderungen von Eignungsnachweisen im Sinne des § 46 Abs. 3 Nr. 1 VgV standhalten, sei nach Auffassung des Vergabesenats unerheblich, weil sich dieser Umstand weder aus der Auftragsbekanntmachung noch dem Vordruck für die Anforderungen an die Referenzen ergebe.
Ferner vertrat das Kammergericht die Auffassung, dass weder dem Begriff „Referenz“ noch den sonstigen in der Bekanntmachung und dem Vordruck genannten Ausführungen zu entnehmen sei, dass die dort aufgeführten Leistungen Gegenstand eines zivilrechtlichen Vertrages hätten sein müssen. Es sei nach Ansicht des Vergabesenats für die Eignung zur Erbringung der Leistung unerheblich, welche rechtliche Konstruktion für die Referenztätigkeit gewählt worden sei.
Weiterhin führte der Vergabesenat aus, dass bei der Wertung des Begriffs „Referenz“ die Anforderungen laut § 46 Abs. 3 Nr. 1 VgV maßgeblich seien, wonach als Beleg der erforderlichen technischen und beruflichen Leistungsfähigkeit des Bieters der öffentliche Auftraggeber je nach Art, Verwendungszweck und Menge oder Umfang der zu erbringenden Liefer- oder Dienstleistungen die Vorlage von geeigneten Referenzen über früher ausgeführte Liefer- und Dienstleistungsaufträge verlangen kann.
So könne eine Referenz auch auf einen bestimmten Leistungsgegenstand und den Umstand, dass bestimmte Leistungen nachweislich erbracht worden sind, bezogen sein. Dass das Land Berlin die in § 46 Abs. 3 Nr. 1 VgV vorgenommene Ausrichtung der Referenzen auf „Liefer- und Dienstleistungsaufträge“ im Sinne dieser Vorschrift verengen wollte, hat weder in der Auftragsbekanntmachung noch in dem mit ihr in Bezug genommenen Vordruck Ausdruck gefunden. Maßgeblich sei der Empfängerhorizont der an dem ausgeschriebenen Auftrag potenziell interessierten Unternehmen gemäß §§ 133, 157 BGB.
Zur unzulässigen Interimsvergabe führte der Vergabesenat aus, dass der Auftraggeber durch die Interimsvergaben gegen das im Nachprüfungsverfahren gemäß § 169 Abs. 1 GWB geltende Zuschlagsverbot verstoßen habe. Das Land Berlin hat durch diese Herangehensweise sukzessiv Leistungen vergeben, die Gegenstand des mit der Ausschreibung eingeleiteten Vergabeverfahrens waren, ohne dass der vergaberechtlich vorgeschriebene Teilnahmewettbewerb stattfand. Aus diesem Grund war die monatliche interimsweise Vergabe des Betriebs der Testzentren durch das Land Berlin an die Beigeladene, um eine mögliche Versorgungslücke während des Nachprüfungsverfahrens zu schließen, vergaberechtswidrig; hinzu kommt, dass das Land Berlin die Umstände der Dringlichkeit selbst zu verschulden hatte:
„Die vom Land Berlin in Anspruch genommene zeitliche Drucksituation könne – so der Vergabesenat des Kammergerichts – nicht zur Rechtfertigung dienen, da nach dem maßgeblichen EU-Recht die zur Begründung der besonderen Dringlichkeit angeführten Umstände auf keinen Fall dem öffentlichen Auftraggeber zuzuschreiben sein dürften, hier aber die Versorgungslücke notwendige Folge des vom Land Berlin selbst fehlerhaft betriebenen Vergabeverfahrens gewesen sei.“
Rechtliche Würdigung
Der Vergabesenat des Kammergerichts bestätigt die Anforderungen zu den Vorgaben in der Auftragsbekanntmachung hinsichtlich einzureichender Referenzen. Der Auftraggeber muss klar definieren, welche Angaben er bei der Einreichung von Referenzen von den Bietern erwartet. Fehlen ausdrückliche Vorgaben, geht dies zu Lasten des Auftraggebers. Das bedeutet, dass der Auftraggeber regelmäßig auch solche Referenzen berücksichtigen muss, die seinen gewünschten Anforderungen nicht entsprechen, sofern er seine Vorstellungen nicht explizit in der Bekanntmachung zum Ausdruck bringt. Diese Sichtweise steht im Einklang mit den Vorschriften des § 122 Abs. 4 Satz 2 GWB und § 48 VgV. Sowohl die Eignungskriterien als auch die Vorgaben zu Referenzen sind in der Auftragsbekanntmachung genau auszuführen. Versäumt der Auftraggeber, entsprechende Formulierungen zu wählen, so ist der Ausschluss eines Angebots wegen fehlender Nachweise über die Referenzen vergaberechtswidrig, da diese nicht wirksam gefordert worden sind (vgl. auch VK Nordbayern, Beschluss vom 15.02.2018, Az. RMF-SG-3194-31; Vergabeblog.de vom 15/04/2018, Nr. 36784).
Zu den Anforderungen der Interimsvergabe hat sich der Vergabesenat klar dazu positioniert, dass der Auftraggeber Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nur dann vergeben kann, wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen bestehen, die er nicht voraussehen konnte. Voraussetzung ist jedoch auch, dass der öffentlichen Auftraggeber die äußerste Dringlichkeit nicht selbst verschuldet hat (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV). Dies sei bei einem rechtswidrig durchgeführten Vergabeverfahren aber gerade der Fall.
Praxistipp
Für die Vergabe öffentlicher Aufträge sollten Auftraggeber die gewünschten Eignungskriterien in der Auftragsbekanntmachung möglichst konkret benennen. Implizite Herleitungen oder Vorgaben, die der Adressat den Ausschreibungsunterlagen nicht entnehmen kann, scheiden bei der Prüfung und Wertung der Angebote aus. Wünscht der Auftraggeber bestimmte Aufträge und Vorgaben als Referenzen, so muss er die zu veröffentlichende Auftragsbekanntmachung (bestenfalls) gleichlautend formulieren.
Weiterhin zeigt die klare Positionierung des Kammergerichts in Bezug auf Interimsvergaben, dass Auftraggeber sehr genau prüfen müssen, ob die einschlägigen Voraussetzungen bzw. restriktiven Anforderungen zur Interimsvergabe tatsächlich erfüllt sind. Der bloße Hinweis auf eine drohende Versorgungslücke reicht während eines laufenden Nachprüfungsverfahrens nicht aus. In Corona- und Kriegszeiten verschafft die Interimsvergabe grundsätzlich den Vorteil einer flexiblen Beschaffung. Allerdings bestehen hierfür auch in Krisenzeiten vergaberechtliche Grenzen. Eine davon ist in der hier vorgestellten Entscheidung des Vergabesenats zu sehen, wonach eine Interimsvergabe dann unzulässig ist, wenn der Auftraggeber die drohende Versorgungslücke durch ein fehlerhaftes Vergabeverfahren selbst zu verantworten hat.