Kein Anspruch auf Preisgleitklausel! Losentscheid bei Preisgleichstand zulässig! (VK Bund, Beschl. v. 19.10.2022 – VK 1-85/22)
Nachdem es bei der Vergabe von Lieferleistungen kein allgemeines Verbot für öffentliche Auftraggeber mehr gibt, den Bietern ungewöhnliche Wagnisse aufzubürden, ist eine Preisanpassungsklausel nur dann anzuordnen, wenn den Bietern eine vernünftige kaufmännische Kalkulation unzumutbar ist. Die Hürden für die Unzumutbarkeitsgrenze liegen hoch. Dass der öffentliche Auftraggeber bei Preisgleichstand von Angeboten über den Zuschlag durch Los entscheiden will (sog. Stichentscheid), ist nicht vergaberechtswidrig.
§ 131 BGB; §§ 97 Abs. 1, 127 Abs. 1, 4 GWB
Sachverhalt
Die Antragsgegnerin führt europaweit ein offenes Verfahren zur Vergabe einer Rahmenvereinbarung über die Lieferung von Klebebändern durch. Der ausgeschriebene Vertrag soll drei Jahre laufen und kann um weitere 12 Monate verlängert werden. Die Preise gelten für die gesamte Laufzeit des Vertrags. Gemäß § 16 Abs. 1 des Vertragsentwurfs kann jede Partei den Vertrag jeweils zum Ablauf eines Kalenderjahres unter Einhaltung einer Frist von drei Monaten erstmalig zum 31.12.2023 kündigen. Die Qualität der ausgeschriebenen Produkte ist durch detaillierte Lieferbedingungen festgeschrieben. Alleiniges Zuschlagskriterium ist der Preis. Sofern mehrere Bieter zu einem Los denselben Gesamtpreis (Menge x Einzelpreis) anbieten, soll das Los über den Zuschlag entscheiden (sog. Stichentscheid).
Die Antragstellerin rügte mehrere vermeintliche Vergaberechtsverstöße und stellte nach Rügezurückweisung sodann einen Nachprüfungsantrag. Zur Begründung führte sie u.a. aus, dass es ihr mangels Preisanpassungsklausel unmöglich sei, ein kaufmännisch kalkuliertes Angebot abzugeben. Des Weiteren meinte sie, der von der Antragsgegnerin vorgesehene Losentscheid, der dann durchgeführt werden solle, wenn mehrere Bieter denselben Netto-Gesamtpreis anböten, verstoße gegen den vergaberechtlichen Wettbewerbsgrundsatz und das Willkürverbot. So verpflichte der Wettbewerbsgrundsatz (§ 97 Abs. 1 GWB) öffentliche Auftraggeber dazu, im Wettbewerb zu beschaffen bei einem Losverfahren als Auswahlmechanismus für das wirtschaftlichste Angebot erfolge die Bieterauswahl jedoch nach Glück.
Die Entscheidung
Ohne Erfolg!
1. Kein Anspruch auf eine Preisanpassungsklausel
Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf eine Preisanpassungsklausel. Die Antragsgegnerin durfte auf eine solche verzichten. Nachdem es bei der Vergabe von Lieferleistungen kein allgemeines Verbot für öffentliche Auftraggeber mehr gibt, den Bietern ungewöhnliche Wagnisse aufzubürden, wäre eine Preisanpassungsklausel nur dann anzuordnen, wenn den Bietern eine vernünftige kaufmännische Kalkulation unzumutbar wäre (siehe u.a. auch OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21.12.2020 zum Az. Verg 36/20 m.w.N.). Die diesbezüglich hohen rechtlichen Anforderungen sind hier nicht erfüllt. Im Einzelnen weist die Vergabekammer auf Folgendes hin:
Zwar weist die Antragstellerin zu Recht auf die besondere aktuelle Wirtschaftslage hin (die aktuellen Kriegsereignisse in der Ukraine, große Preissteigerungen bei vielen Produkten (insbesondere Gas und Rohöl), Lieferverzögerungen etc.). Dass die Preise ihrer eigenen Zulieferer in den letzten Monaten mehrfach erheblich gestiegen sind, hat die Antragstellerin anhand entsprechender Preiserhöhungsverlangen belegt. Da die Angebotsfrist derzeit noch läuft, braucht die Antragstellerin jedoch keine Preisanpassungsklausel, um diese Situation kalkulatorisch „abzufangen“: Vielmehr kann sie die jüngsten Preissteigerungen bereits jetzt bei der Kalkulation ihres Angebotspreises berücksichtigen.
Hinzu kommt ein weiterer erheblicher Umstand, der dazu führt, dass der Antragstellerin eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation ihres Angebots im o.g. Sinne nicht unzumutbar ist: Anders als die Antragstellerin vorträgt, ist sie mit den fix anzubietenden Preisen nicht für die gesamte Vertragslaufzeit von drei Jahren (mit einem weiteren Jahr als Verlängerungsoption) gebunden. Sollte sie während der Vertragslaufzeit feststellen, dass das Festhalten an ihren Preisen unwirtschaftlich ist, kann sie den Vertrag vielmehr gemäß § 16 Abs. 1 des Vertrags zum Ablauf eines jeden Kalenderjahrs kündigen. Eine solche Kündigung ist ohne Weiteres, also insbesondere ohne irgendwelche inhaltlichen Anforderungen, zulässig.
Sollte sich die wirtschaftliche Situation dennoch so dramatisch verschlechtern, wie es die Antragstellerin befürchtet, erscheint eine Preisanpassung gemäß § 313 BGB jedenfalls nicht ausgeschlossen. Denn auch wenn ausweislich der von der Antragstellerin zitierten Erlasse u.a. des BMWSB bereits heute aufgrund des Ukraine-Kriegs erhebliche Preissteigerungen bestehen und auch weiter zu erwarten sind, dürfte die Anwendbarkeit des § 313 BGB nicht generell mit dem Argument ausgeschlossen sein, alle zukünftigen negativen (welt-)wirtschaftlichen Entwicklungen seien angesichts der heutigen Erkenntnisse nicht unvorhersehbar. Gerade was die weitere Preisentwicklung angeht, betont die Antragstellerin selbst, dass diese derzeit von niemandem und nicht einmal für wenige Wochen im Voraus abgeschätzt werden könne.
Wenn die Antragstellerin so wie voraussichtlich die weiteren Bieter auch, die denselben wirtschaftlichen Umständen ausgesetzt sind, Risikoaufschläge kalkuliert, um etwaige Preissteigerungen auch ohne die Möglichkeit einer späteren Preisanpassung zu berücksichtigen, führt dies – anders als die Antragstellerin meint – auch nicht dazu, dass die Angebote in vergaberechtlich bedenklicher Weise nicht vergleichbar wären. Denn wie die Bieter ihre Preise kalkulieren, beruht auf deren Kalkulationsfreiheit. Unterschiedliche Risikoannahmen der einzelnen Unternehmen sind daher nicht auf ein möglicherweise vergaberechtswidriges Verhalten der Antragsgegnerin zurückzuführen, sondern auf die unternehmerische Freiheit der Bieter.
2. Stichentscheid mittels Los bei Preisgleichheit vergaberechtskonform
Dass die Antragsgegnerin bei Preisgleichstand von Angeboten über den Zuschlag durch Los entscheiden will, ist nicht vergaberechtswidrig.
Da sich der wertungserhebliche Preis eines Angebots hier aus der Summe der Preise zahlreicher Einzelpositionen des Leistungsverzeichnisses ergibt, ist die Durchführung eines solchen Losentscheids zunächst bereits sehr unwahrscheinlich.
Sollte es dennoch zu einem Losentscheid kommen, ist dies nicht vergaberechtswidrig, vor allem widerspricht diese Vorgehensweise nicht den rechtlichen Vorgaben an Zuschlagskriterien oder dem Wettbewerbsgrundsatz. Denn das wirtschaftlichste Angebot i.S.d. § 127 Abs. 1 GWB hat die Antragsgegnerin im Fall des Gleichstands bereits anhand ihres Zuschlagskriteriums Preis ermittelt. Auch der Angebotswettbewerb hat zu diesem Zeitpunkt bereits stattgefunden. Hier allerdings mit der Folge, dass sich im Wettbewerb nicht nur ein wirtschaftlichstes“ Angebot ergeben hat, sondern mehrere, die gleichermaßen wirtschaftlich sind und sich unter denselben Bedingungen im Wettbewerb untereinander behaupten konnten. Wie § 127 Abs. 1 S. 4 GWB zeigt, ist es dennoch nicht vergaberechtswidrig, den Zuschlag nur aufgrund des Preises oder der Kosten der ausgeschriebenen Leistungen zu erteilen. Die Antragsgegnerin hat also bereits alle einschlägigen vergaberechtlichen Vorschriften beachtet, um das wirtschaftlichste Angebot im Wettbewerb zu ermitteln – führt dies wie im Fall des Preisgleichstands nicht zum Erfolg (weil nicht das wirtschaftlichste Angebot ermittelt wurde), kommt praktisch kein anderes Kriterium in Betracht, das ebenso eine hinreichende Objektivität, Transparenz, Diskriminierungsfreiheit gewährleistet und Manipulationsmöglichkeiten ausschaltet, wie der Losentscheid (vgl. auch OLG Hamburg, Beschluss vom 20.03.2020 zum Az. 1 Verg 1/19 m.w.N. [Herten-Koch in: Vergabeblog.de vom 04/06/2020, Nr. 44191]).
Da eine Vergabe allein anhand des Preises vergaberechtlich zulässig und der Auftraggeber grundsätzlich in seiner Entscheidung frei ist, anhand welcher Kriterien er über den Zuschlag entscheidet, kann von der Antragsgegnerin auch nicht verlangt werden, allein für den Fall des Preisgleichstands weitere Zuschlagkriterien vorzusehen. Das gilt erst recht in Fällen wie hier, in denen die Qualität der ausgeschriebenen Produkte durch Lieferbedingungen bereits umfassend beschrieben und vorgegeben ist.
Rechtliche Würdigung
Im Hinblick auf die Zulässigkeit des Stichentscheids mittels Los überzeugt die Argumentation der VK Bund. Entgegen der sich hierzu noch kritisch äußernden VK Baden-Württemberg (Beschl. v. 22.07.2019 zum Az. 1 VK 34/19) schließt sich die VK Bund weitgehend dem Beschluss des OLG Hamburg vom 20.03.2020 zum Az. 1 Verg 1/19 an. Dies ist nachvollziehbar und überzeugend, da die VK Bund betont, dass der Angebotswettbewerb zu dem Zeitpunkt des Stichentscheids bereits vollumfänglich und vergaberechtkonform (anhand der im Vorfeld festgelegten Zuschlagskriterien) stattgefunden hat, so dass der Weg (ausnahmsweise) frei sei, für eine Entscheidung mittels Stichentscheid. Dabei betont die VK Bund zutreffend den Ausnahmecharakter dieses Letztentscheids und die im Einzelfall ggf. zu belegende Unwahrscheinlichkeit, dass es dazu tatsächlich kommt.
Im Übrigen ist dem Vergaberecht der Stichentscheid nicht gänzlich fremd. Bei der Vergabe von Architekten- und Ingenieurleistungen kann gemäß § 75 Abs. 6 VgV die Auswahl als ultima ratio unter den verbleibenden Bewerbern im Teilnahmewettbewerb durch Los getroffen werden, wenn mehrere zu viele Bewerber die Anforderungen gleichermaßen erfüllen. Diese Regelung widerspricht nicht der Zulassung des Stichentscheids, da sich diese auf die Konstellation der Bewerberauswahl im Teilnahmewettbewerb bei Architekten- und Ingenieurleistungen beschränkt und keinerlei Aussagekraft dazu enthält, ob eine entsprechende Auswahlentscheidung bei der Wertungsentscheidung zulässig ist oder nicht.
Im Ergebnis ist eine Letztentscheidung via Losentscheid mithin immer dann vergaberechtlich unbedenklich, wenn dem Wettbewerbsgrundsatz (zuvor) mittels Festlegung angemessener Zuschlagskriterien mit hinreichendem Differenzierungspotential Rechnung getragen worden ist.
Etwas zwiespältiger fällt die Würdigung der Entscheidung im Hinblick auf den seitens der VK Bund verneinten Anspruch auf Aufnahme einer Preisanpassungsklausel aus. Es mag in Anbetracht des Regelungsinhalt von GWB und VgV bzw. SektVO richtig sein, dass eine Preisanpassungsklausel grundsätzlich nur dann anzuordnen ist, wenn den Bietern eine vernünftige kaufmännische Kalkulation unzumutbar wäre. Die von der Vergabekammer zur Begründung angeführten Aspekte lassen unter Berücksichtigung der Angaben der Antragstellerin daran vorliegend allerdings gerade erhebliche Zweifel aufkommen.
War es den Bietern vorliegend tatsächlich möglich eine vernünftige kaufmännische Kalkulation zu erstellen?
Ich meine nach den bekannten Sachverhaltsinformationen wohl eher nicht. Dass die Bieter ihre Preise aufgrund ihrer Kalkulationsfreiheit kalkulieren können (und müssen), ändern daran nichts. In Anbetracht der Marksituation im Oktober 2022 waren die Bieter voraussichtlich schlicht überfordert, ihre unternehmerische Freiheit zur belastbaren Preiskalkulation zu nutzen. Der Blick in die sprichwörtliche Glaskugel war nicht geeignet ein halbwegs klares Bild zu ergeben. Der Rettungsanker bestand für die VK Bund offenbar darin, dass der Vertrag zum Ablauf eines jeden Kalenderjahrs gekündigt werden kann. Dies ist für den Bieter freilich nur ein schwacher Trost. Zum einen können die Preise bereits innerhalb eines Jahres – wie die letzten 12 Monate anschaulich belegen – verrücktspielen. Zum anderen soll sich der Aufwand für die Teilnahme an einem Vergabeverfahren amortisieren. Die Möglichkeit zur Verkürzung der vorgesehenen Laufzeit bei einer offenen Rahmenvereinbarung über Lieferleistungen von drei Jahren wirkt kalkulatorisch daher eher abschreckend als förderlich.
Schließlich lohnt ein Blick in den Baubereich. Da hier (weiterhin) das Verbot der Aufbürdung ungewöhnlicher Wagnisse statuiert ist (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A bzw. § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A), geht z.B. die VK Westfalen davon aus, dass eine Kalkulation unter Verzicht auf eine Preisgleitklausel in unsicheren Zeiten regelmäßig als unzumutbar für die Bieter zu erachten ist (Beschluss vom 12.07.2022 – VK 3-24/22; zutreffend Dörr in: Vergabeblog.de vom 01/09/2022, Nr. 50595). Unzumutbar ist eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation danach immer dann, wenn Preis- und Kalkulationsrisiken über das Maß, das Bietern typischerweise obliegt, hinausgehen – unabhängig davon, ob das Wagnis beherrschbar ist.
Praxistipp
Auftraggeber tun gut daran, die konkrete Marktsituation bei einer in Rede stehenden Vergabe in den Blick zu nehmen und anhand des Prüfungsergebnisses zu entscheiden, ob es den Bietern zugemutet werden kann, die Preise ohne eine flexible, ggf. indexbasierte, Preisanpassungsklausel anzubieten. Ungeachtet der nachvollziehbaren Zielsetzung, feste Preise über einen gewissen Vertragszeitraum zu erhalten, sollte im Zweifel eine Anpassungsklausel ernstlich in Erwägung gezogen werden. Die Einräumung einer auftragnehmerseitigen Kündigungsmöglichkeit anstatt einer Anpassungsklausel ändert an diesem Befund nichts. Zum einen ist dem Auftraggeber regelmäßig nicht daran gelegen, dass der Bieter eine EU-weit vergebene Rahmenvereinbarung vorfristig kündigt. Zum anderen sollten spätere Konfliktpotentiale im Vertragsverhältnis vorausschauend möglichst vermieden werden. Diskussionen um eine Preisanpassung gemäß § 313 BGB wegen Störung der Geschäftsgrundlage erübrigen sich, wenn der Vertrag in Bezug auf Unwägbarkeiten oder Erschwernisse bei der Auftragsausführung bereits Preisanpassungsklauseln/Force Majeure-Klauseln ausdrücklich vorsieht oder explizit ausschließt. Die Parteien haben dann eine konkrete, von beiden Parteien akzeptierte, Risikozuweisung für das Preis- und Leistungsrisiko bereits unverrückbar getroffen.