Kein automatischer Ausschluss beim Ausscheiden von Bietergemeinschaftsmitgliedern! (EuGH, Urt. v. 26.09.2024 – C-403/23 – Luxone)

Entscheidung-EUDer Verhältnismäßigkeitsgrundsatz schränkt den Gestaltungsspielraum der Mitgliedsstaaten und den Entscheidungsspielraum der öffentlichen Auftraggeber dahingehend ein, dass nicht generell jede Veränderung in der Zusammensetzung einer Bietermeinschaft als Ausschlussgrund angesehen werden darf. Das Thema, wie vergaberechtlich mit Änderungen der Bietergemeinschaftszusammensetzung umzugehen ist, ist von hoher praktischer Relevanz, weil derartige Fälle gerade bei komplexeren oder länger dauernden Verfahren immer wieder auftreten und Auftraggeber wie Bieter in schwierige Entscheidungssituationen bringen. Mit dem Rückgriff auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat der EuGH allen starren Lösungen eine Absage erteilt und den am Vergabeverfahen Beteiligten die Möglichkeit gegeben, praxisgerechte Lösungen zu finden.

Richtlinie 2004/18/EG Art. 47 Abs. 3, Art. 48 Abs. 4; § 97 Abs.1 S. 2 GWB

Leitsatz

Art. 47 Abs. 3 und Art. 48 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18/EG  in Verbindung mit dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es den ursprünglichen Mitgliedern einer Bietergemeinschaft verwehrt, aus dieser Bietergemeinschaft auszutreten, wenn die Gültigkeitsdauer des von dieser Bietergemeinschaft eingereichten Angebots abgelaufen ist und der öffentliche Auftraggeber um die Verlängerung der Gültigkeit der bei ihm eingereichten Angebote ersucht, sofern zum einen erwiesen ist, dass die übrigen Mitglieder dieser Bietergemeinschaft die von dem Auftraggeber festgelegten Anforderungen erfüllen, und zum anderen, dass ihre weitere Teilnahme an diesem Verfahren nicht zu einer Beeinträchtigung der Wettbewerbssituation der übrigen Bieter führt.

Sachverhalt

Das der Entscheidung des EuGH zugrundeliegende Vergabeverfahren betraf ein im Jahr 2015 in Italien eingeleitetes Verfahren zur Vergabe eines Beleuchtungsauftrags. Eine aus vier Gesellschaften bestehende Bietergemeinschaft (BIEGE) gab im Jahr 2016 ein Angebot  ab. Das Vergabeverfahren, das eigentlich bis zum 18. April 2017abgeschlossen werden sollte, wurde achtmal verlängert, um dem Auftraggeber „die für den Abschluss des Verfahrens erforderliche Zeit zu gewähren“. Jede dieser Verlängerungen hatte zur Folge, dass die zwischenzeitlich abgelaufenen Angebote bestätigt werden mussten. Nachdem die BIEGE im Jahr 2020 die siebte Bestätigungsaufforderung zu ihrem Angebot erhalten hatte, bestätigten nur zwei der vier Mitglieder der BIEGE das Angebot. Die beiden anderen Bietergemeinschaftsmitglieder wiesen im Wesentlichen darauf hin, dass die im Jahr 2016 abgegebenen Angebote wegen der langen Dauer der Vorbereitungen für die Vergabe des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Auftrags aus unternehmerischer Sicht und unter dem Gesichtspunkt einer ordnungsgemäßen und umsichtigen Unternehmensführung nicht mehr tragfähig seien. Auch auf die achte Bestätigungsaufforderung hin bestätigten wiederum nur dieselben zwei der vier Mitglieder das Angebot aus dem Jahr 2016. Daraufhin schloss der öffentliche Auftraggeber das Angebot der BIEGE vom Verfahren aus. Die BIEGE focht diese Ausschlussentscheidung gerichtlich an. Das angerufene Gericht legte dem EuGH die Frage vor, ob die im italienischen Vergaberecht enthaltene Regelung, dass der öffentliche Auftraggeber verpflichtet ist, eine BIEGE im Falle des Austritts einzelner Mitglieder aus der Gemeinschaft vom Verfahren auszuschließen, mit Europarecht vereinbar sei.

Die Entscheidung

Der EuGH stellt zunächst fest, dass die Richtlinien nur Regelungen zur Bildung, nicht aber zur Veränderung von Bietergemeinschaften treffen. Er prüft die in Frage stehende italienische Regelung eines automatischen Ausschlusses der BIEGE vom Verfahren, wenn Mitglieder ausscheiden, daher am Maßstab der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts (u.a. Gleichbehandlung, Transparenz und Verhältnismäßigkeit). Der EuGH verweist dabei zunächst auf sein Urteil vom 24. Mai 2016, MT Højgaard und Züblin (C-396/14, EU:C:2016:347, Rn. 44 und 48), wonach Art. 47 Abs. 3 und Art. 48 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18 dahin auszulegen sind, dass die Mitglieder einer BIEGE ohne Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung aus dieser Bietergemeinschaft austreten können, sofern zum einen erwiesen ist, dass die übrigen Mitglieder dieser Bietergemeinschaft die von dem Auftraggeber festgelegten Anforderungen für die Teilnahme am Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags erfüllen, und zum anderen, dass ihre weitere Teilnahme an diesem Verfahren nicht zu einer Beeinträchtigung der Wettbewerbssituation der übrigen Bieter führt. Vor diesem Hintergrund kommt er zu dem Schluss, dass die italienische Regelung, die die Aufrechterhaltung der rechtlichen und tatsächlichen Identität einer Bietergemeinschaft strikt vorschreibt, offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt. Dies gelte umso mehr, als keine Ausnahme für den Fall vorgesehen sei, dass der öffentliche Auftraggeber wiederholt um die Verlängerung der Gültigkeit der Angebote ersucht. Eine solche Verlängerung erfordert aber von allen Mitgliedern einer BIEGE Ressourcen im Hinblick auf einen etwaigen Zuschlag vorzuhalten, was insbesondere für ein KMU eine erhebliche Belastung darstellen könne.

Rechtliche Würdigung

In europarechtlicher Hinsicht interessant an der aktuellen Entscheidung des EuGH ist zunächst, dass sie – ohne dies auch nur mit einem Wort zu erwähnen – eine Abkehr von einer genau entgegengesetzten Entscheidung aus dem Jahr 2003 bedeutet. Damals hatte der EuGH aus dem Umstand, dass die Richtlinien keine Regelungen zur Veränderung von Bietergemeinschaften enthalten, geschlossen, dass die Regelung der Zusammensetzung von Bietergemeinschaften deshalb in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle. Die europäischen Richtlinien stünden daher einer nationalen Regelung nicht entgegen, die es untersagt, die Zusammensetzung einer Bietergemeinschaft, die an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags teilnimmt, nach Abgabe der Angebote zu ändern (EuGH, Urteil vom 23. 1. 2003 – Rs. C-57/01 Makedoniko Metro u. Michaniki AE/Elliniko Dimosio, Rn. 63). Weiter ist spannend, dass der EuGH seine im Urteil zitiert Entscheidung aus dem Jahr 2016, die in der deutschen Kommentierung immer wieder eher als Ausnahmeentscheidung aufgefasst wurde, offensichtlich für durchaus verallgemeinerungsfähig hält.

Praxistipp

Öffentliche Auftraggeber, die mit der Frage von Änderungen innerhalb einer Bietergemeinschaft konfrontiert sind, sollten mit Blick auf die Rechtsprechung des EuGH schematische Entscheidungen vermeiden und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Blick behalten. Zwar gibt es in Deutschland keine der Entscheidung des EuGH zugrundeliegenden italienischen Regelung vergleichbare Norm, dennoch finden sich in Verfahrensbedingungen immer wieder pauschale Ausschlussdrohungen für den Fall von Veränderungen innerhalb von Bietergemeinschaften. Gerade bei langwierigen Verfahren ist ein solcher Automatismus regelmäßig aber auch nicht im Sinne des Auftraggebers, der beim Festhalten an den teils noch anzutreffenden Ausschlussvorgaben ggf. ein erfolgversprechendes Angebot einer weiter geeigneten BIEGE ausschließen und so unnötig den Wettbewerb ebschränken müsste.