Sturm im Wasserglas – VG verneint Anwendbarkeit der Bereichsausnahme Gefahrenabwehr in Niedersachsen!?
Im Widerspruch zu diversen obergerichtlichen Entscheidungen bundesweit verneint das VG Lüneburg überraschenderweise die Anwendbarkeit der Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst für Niedersachsen und wendet GWB-Vergaberecht an. Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Das VG Lüneburg statuiert eine Kündigungspflicht für bestimmte bestehende Verträge im Rettungsdienst. Es ordnet ein Auswahlverfahren nach GWB-Vergaberecht an.
§§ 107 Abs. 1 Nr. 4, 133, 135, 151, 179 Abs. 2 GWB 2016, NRettDG, §§ 52, 55 AO, § 17a GVG, §§ 52, 113 VwGO
Sachverhalt
Ein Landkreis im Nordosten Niedersachsens organisiert den regionalen Rettungsdienst seit langen Jahren unter Mitwirkung zweier Hilfsorganisationen. Die Bestandsverträge reichen bis in das Jahr 1993 zurück und wurden teilweise angepasst und erweitert. Ausschreibungen nach GWB fanden nicht statt.
Die Klägerin, eine nicht gemeinnützige GmbH, gehört einem großen Rettungsdienstkonzern mit ausländischer Mutter an und hat seit 2020 mehrfach ihr Interesse gegenüber dem Landkreis als Träger bekundet, im Rettungsdienst mitwirken zu wollen. Sie beantragte im Mai 2023 Nachprüfung. Vergabekammer Lüneburg (Beschl. v. 13.07.2023, VgK 14/23; nicht online abrufbar) und Vergabesenat beim OLG Celle (Beschl. v. 03.01.2024, 13 Verg 6/23) hielten die Bereichsausnahme für anwendbar. Das OLG verwies den Rechtsstreit entsprechend § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG an das VG Lüneburg, weil aufgrund der Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst (§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB) der Rechtsweg zu den Vergabenachprüfungsinstanzen unzulässig sei.
Die Entscheidung
Das VG Lüneburg hält im Gegensatz zum Vergabesenat und weiteren Obergerichten die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst (§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB) für nicht anwendbar. Es verpflichtet den Auftraggeber, die (teilweise bestandskräftigen) Verträge ordentlich zu kündigen und ein „Auswahlverfahren unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des erkennenden Gerichts durchzuführen“. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen.
Rechtliche Würdigung
Die Bereichsausnahme bewegt weiter die Gerichte und Gemüter (s. dazu diverse Beiträge auf dem Vergabeblog zur Bereichsausnahme). Diverse Obergerichte haben seit der wegweisenden Entscheidung des EuGH im Jahre 2019 (s. kritisch dazu Friton, vergabeblog.de vom 06.05.2019 – Nr. 40577) und das damalige Interview mit den Prozessvertretern beider Seiten in Vergabeblog.de vom 29.01.2019 Nr. 39637) auch national die Bereichsausnahme bestätigt. Ob die aktuelle Entscheidung des VG Lüneburg vom Januar 2025 Bestand haben wird, wird sich zeigen. Nachfolgend auszugsweise eine Bewertung zentraler Aussagen des VG.
1. Bereichsausnahme in Niedersachsen nicht anwendbar?
Nach dem grundlegenden Beschluss des BGH im Rahmen einer Divergenzvorlage (BGH, Beschl. v. 01.12.2008, X ZB 31/08) musste der Rettungsdienst seit 2009 grundsätzlich nach GWB ausgeschrieben werden. Dies hat zu diversen Fehlsteuerungen geführt. Dies erzeugte wiederum eine Gegenreaktion und führte dazu, dass mit der Vergaberechtsreform 2014 auf europäischer Ebene die Bereichsausnahme eingeführt und national 2016 ins GWB umgesetzt wurde.
Diverse Landesgesetzgeber haben auf diese Wechsel im Rechtsrahmen unterschiedlich reagiert. Vor 2009 waren in vielen Landesrettungsdienstgesetzen Privilegierungsklauseln enthalten. Auf dieser Basis durften freigemeinnützige Hilfsorganisationen in unterschiedlichem Ausmaß bei der Vergabe von Leistungen des Rettungsdienstes bevorzugt werden.
Fachlicher Hintergrund: Die Hilfsorganisationen leisten aufgrund ihrer ehrenamtlichen Helfer und sonstiger Strukturen wertvolle Redundanz im Bevölkerungsschutz. Diverse Bundesländer „neutralisierten“ das Landesrecht nach der Entscheidung des BGH und entfernten die Privilegierungsmöglichkeit formal. Nach der Einführung der Bereichsausnahme setzte spätestens seit 2016 eine Gegenbewegung ein: Wo landesrechtlich die Bereichsausnahme (u.a. aufgrund der vorherigen „Neutralisierung“ im jeweiligen Landesrettungsdienstrecht) nicht oder nur unsicher anwendbar schien, wurde im jeweiligen Landesparlament reagiert. So haben beispielsweise Sachsen und Niedersachsen die Rettungsdienstgesetze angepasst; s. dazu Vergabeblog.de vom 15.01.2024 Nr. 55520, instruktiv v.a. zur Rechtslage und zur Novellierung in Niedersachsen Duhme, Vergabeblog.de vom 14.06.2021 Nr. 47124). In Nordrhein-Westfalen wird eine Novellierung aktuell vorbereitet (Stellungnahme der PKV dazu). In Niedersachsen gilt ab 24.03.2021 der novellierte § 5 NRettDG (mit Bezugnahme auf die Bereichsausnahme in § 5 Abs. 2 Satz 2 NRettDG):
„(1) Der Träger des Rettungsdienstes kann Dritte mit der Durchführung der Leistungen des Rettungsdienstes nach § 2 Abs. 2 und der Einrichtung und der Unterhaltung der Einrichtungen nach § 4 Abs. 4 ganz oder teilweise beauftragen. Dabei ist sicherzustellen, dass der Beauftragte die ihm übertragene Aufgabe so erfüllt, wie dies der Träger des Rettungsdienstes selbst nach diesem Gesetz oder nach den aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Verordnungen tun müsste. Bei der Auswahl der Beauftragten können die Eignung und Bereitschaft zur Mitwirkung am Katastrophenschutz sowie zur Bewältigung von Großschadensereignissen berücksichtigt werden.
(2) Die Beauftragung nach Absatz 1 erfolgt innerhalb eines Rettungsdienstbereiches einheitlich entweder
- durch die Erteilung eines Dienstleistungsauftrages oder mehrerer Dienstleistungsaufträge oder
- durch die Erteilung einer Dienstleistungskonzession oder mehrerer Dienstleistungskonzessionen.
§ 107 Abs. 1 Nr. 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen bleibt unberührt. (…)“
[Anmerkung der Redaktion: Hervorhebung in Fettschrift nur hier.]
Das VG vertritt die Auffassung, dass aufgrund der fehlenden Privilegierung von Hilfsorganisationen in § 5 Abs. 2 S. 2 NRettDG die Bereichsausnahme in Niedersachsen nicht anwendbar sei.
Insoweit „folgt die Kammer den grundsätzlichen Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht im Beschluss vom 12. Juni 2019 – 13 ME 164/19 -, juris, Rn. 5f. an, wonach die gesetzlich in § 5 Abs. 1 NRettDG vorgesehene Gleichrangigkeit von gemeinnützigen und gewerblichen Anbietern der Anwendbarkeit der Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB entgegensteht.“ (III.1.a., S. 15/31 des Beschlussumdrucks)
Das VG erkennt, dass die Ausführungen des OVG Celle sich auf die vorherige Rechtslage beziehen. Dort war bis 23.03.2021 die o.g. klarstellende Ergänzung noch nicht im NRettDG vorhanden. Die Kammer führt aus: „Entscheidend ist, dass die Einfügung der „Unberührtheitsklausel“ des § 5 Abs. 2 Satz 2 NRettDG keine Privilegierung gemeinnütziger Anbieter gegenüber gewerblichen bedeutet, wie sie auch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht grundsätzlich fordert, damit die Bereichsausnahme zur Anwendung kommen kann. Die Gleichrangigkeit von gewerblichen und gemeinnützigen Anbietern nach § 5 Abs. 1 NRettDG bleibt durch die neue Gesetzeslage, namentlich die Einfügung der Unberührtheitsklausel des Abs. 2 Satz 2, unangetastet.“
Damit unterliegt das VG einer Fehlinterpretation. Der logische Fehler ist wie folgt: Das Gesetz nennt „Dritte“, die beauftragt werden können. Damit sind sowohl die freigemeinnützigen Hilfsorganisationen gemeint als auch sonstige private Akteure/Unternehmen. Das aktuelle Landesrecht ermöglicht, beide Gruppen potenzieller Beauftragter auszuwählen.
Der Landesgesetzgeber konnte sich insoweit auf Sinn und Zweck der in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB geregelten Bereichsausnahme berufen. Die Schaffung der Bereichsausnahme Rettungsdienst zielt nach dem Willen des Richtliniengebers v.a. darauf ab, die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems national und europaweit (Gefahrenabwehr mit Schwerpunkt Medizin und Betreuung) auch für größere Schadenslagen künftig gewährleisten zu können. Da es in erster Linie gemeinnützige Organisationen sind, deren Mitwirkung erst die Bewältigung dieser Aufgaben ermöglicht, sollten die Auftraggeber ermächtigt werden, an diese Organisationen Aufträge und Konzessionen im Rettungsdienst auch ohne umfassend formalisierte wettbewerbliche Verfahren zu vergeben.
Dies ist letztlich auch eine im verfassungsrechtlichen Sinne verhältnismäßige Lösung, die den Trägern auf kommunaler Ebene eine freie Entscheidung (im Rahmen der üblichen Ermessensgrenzen im Verwaltungsrecht, dazu weiter unten mehr) überlässt, ob sie aktuell a) nach GWB ausschreiben wollen (und damit nicht gemeinnützige Unternehmen grds. als Bieter zulassen) oder ob sie b) angesichts der konkreten Rahmenbedingungen vor Ort mit der Bereichsausnahme in einem wie auch immer gearteten verwaltungsrechtlichen Auswahlverfahren sich auf gemeinnützige Bieter beschränken.
CAVE: Wenn man nur auf die formale steuerrechtliche Gemeinnützigkeit abstellt, erzeugt das im Ergebnis keinen realen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz: Mittlerweile sind bundesweit alle relevanten privaten Unternehmen formal gemeinnützig. Auch in der internationalen Unternehmensgruppe der Klägerin gibt es diverse (deutsche) Gesellschaften, von denen einige gemeinnützig sind. Zur Thematik allgemein Kieselmann/Pajunk: Bestätigung der Bereichsausnahme Rettungsdienst, NZBau 2021, 174, 177.
Wenn man wie das VG forderte, dass im Landesrecht eine zwingende Privilegierung vorgesehen sein müsse, wäre dies im Ergebnis möglicherweise ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Mit einer pauschalen Bevorzugung der Hilfsorganisationen könnten sonstige Private (unabhängig vom Status „gemeinnützig“) komplett von einer Tätigkeit im Rettungsdienst ausgeschlossen sein. Insofern wäre de lege ferenda eine verfassungsrechtlich verhältnismäßige Lösung im Landesrettungsdienstrecht (z.B. NRettDG) sinnvoll, die vorsieht:
- Nutzen der Bereichsausnahme als Soll-Vorgabe (Abweichen mit Begründung möglich)
- Bieter sollen für einen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz (u.a. ehrenamtliche Kapazitäten) belohnt werden
- langfristige Anreize für Qualität, Resilienz und Wirtschaftlichkeit
Das VG schreibt: „Die Gleichrangigkeit von gewerblichen und gemeinnützigen Anbietern nach § 5 Abs. 1 NRettDG bleibt durch die neue Gesetzeslage, namentlich die Einfügung der Unberührtheitsklausel des Abs. 2 Satz 2, unangetastet.“ – auch das ist ein logischer Fehlschluss. Das VG differenziert nicht, ob die „Gleichrangigkeit“ zwingend oder (wie vom Gesetzgeber intendiert) fakultativ ist: Dass im Gesetz aktuell „Dritte“ genannt werden, die beauftragt werden können, heißt nicht, dass alle Organisationen/Unternehmen gleich behandelt werden müssten oder in jedem Falle „gleichrangig“ sind! Dies wird schon de lege lata in mehreren Vorschriften des NRettDG deutlich (s.u. die Aufzählung unter „4. Verwaltungsrecht …“). Sehr deutlich ist bereits § 5 Abs. 1 Satz 3 NRettDG: „Bei der Auswahl der Beauftragten können die Eignung und Bereitschaft zur Mitwirkung am Katastrophenschutz sowie zur Bewältigung von Großschadensereignissen berücksichtigt werden“. Damit kann seit langem ein Mehrwert für den Bevölkerungsschutz in Auswahlverfahren belohnt werden – mit der Bereichsausnahme außerhalb des GWB oder (in Grenzen) in GWB-Ausschreibungen.
Richtigerweise greift das VG zunächst die Auslegung des NRettDG nach dem Wortlaut auf. Dabei problematisiert die Kammer den Ausdruck „bleibt unberührt“:
„Die Gleichrangigkeit von gewerblichen und gemeinnützigen Anbietern nach § 5 Abs. 1 NRettDG bleibt durch die neue Gesetzeslage, namentlich die Einfügung der Unberührtheitsklausel des Abs. 2 Satz 2, unangetastet. Insofern schließt sich die Kammer den entsprechenden, im Gesetzgebungsverfahren geäußerten Bedenken des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes des Niedersächsischen Landtags an (Niedersächsischer Landtag, Drucksache 18/8749, Ausführungen zu Nummer 1 (§ 5 Abs. 2)).“
Unter Bezugnahme auf das Dokument „Bundesministerium der Justiz, Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 4. Auflage 2024, S. 159“ kommt die Kammer zum Schluss:
„Der Wortlaut spricht – den Ausführungen des Bundesministeriums der Justiz folgend – für ein Nebeneinander von § 5 Abs. 1 NRettDG und § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB und nicht dafür, dass § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB die Regelungen des § 5 Abs. 1 NRettDG dergestalt beeinflussen soll, dass die Gleichrangigkeit gemeinnütziger und gewerblicher Anbieter aufgehoben werden soll.“
(III.1.a., S. 17/31 des Beschlussumdrucks)
Darin wird der logische Fehlschluss deutlich: Wenn die Normen im Bundesrecht und Landesrecht richtigerweise nebeneinander Geltung haben sollen, kann man das Landesrecht nicht so auslegen, dass daraus eine absolute (!) Gleichrangigkeit entsteht – nach der Interpretation des VG Lüneburg besteht ja gerade kein Nebeneinander der beiden Normen mehr: Durch eine zu enge Auslegung des NRettDG wird pauschal verhindert, dass höherrangiges Bundes- und Europarecht mit der Bereichsausnahme Gefahrenabwehr angewendet wird.
Das VG argumentiert im Folgenden:
„Gegen die Privilegierung gemeinnütziger Anbieter spricht die Systematik des Gesetzes: Die Gleichrangigkeit von gemeinnützigen und gewerblichen Anbietern ist in § 5 Abs. 1 NRettDG geregelt, indem das Gesetz nicht zwischen diesen Gruppen differenziert, sondern pauschal von „Dritten“ spricht. In diesem Absatz wird der potentielle Bewerberkreis festgelegt, also die Frage, „ob“ man als Auftragnehmer in Betracht kommt. Abs. 2 – der in Satz 2 den Verweis auf die Bereichsausnahme enthält – regelt hingegen die Frage des „Wie“, nämlich die Beauftragung; diese Frage ist der Regelung, welche Bieter überhaupt in Betracht kommen, logisch nachgelagert. Systematisch liegt die Annahme fern, dass eine Regelung zur Beauftragung in Abs. 2 den in Abs. 1 definierten Bewerberkreis betreffen soll. Dies gilt umso mehr, als dass § 5 Abs. 1 mit Satz 3 NRettDG eine Regelung enthält, wonach bestimmte Eignungen und Bereitschaften bei der Auswahl des Dritten berücksichtigt werden können. Hätte die Eigenschaft der Gemeinnützigkeit eines Anbieters bevorzugt werden sollen, wäre eine Regelung dieses Auswahlkriteriums in § 5 Abs. 1 NRettDG erforderlich gewesen. Tatsächlich spricht aber auch das geänderte Gesetz nicht von einer Privilegierung gemeinnütziger Anbieter.“
(III.1.a., S. 17/31 des Beschlussumdrucks)
Dies geht an der Sache vorbei. Der niedersächsische Gesetzgeber wollte klar die Bereichsausnahme ermöglichen. Einzelheiten zu verwaltungsrechtlichen Auswahlverfahren hat er bewusst nicht geregelt.
Die Kammer führt weiter aus:
„Durch eine Wahlmöglichkeit – wohlgemerkt auf Ebene des „Wie“ – wird die Gleichrangigkeit, die den Bewerberkreis betrifft, durch den Gesetzgeber nicht aufgehoben und die Privilegierung gemeinnütziger Anbieter nicht vorgegeben. Mit den Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (Beschluss vom 12. Juni 2019 – 13 ME 164/19 juris, Rn. 5 und 6) bedarf es einer Privilegierung der gemeinnützigen Anbieter, damit § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB im Rettungsdienstrecht Anwendung finden kann. Umgekehrt bedeutet dies: Die Einfügung von § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB selbst in § 5 Abs. 2 Satz 2 NRettDG kann nicht die erforderliche Privilegierung sein, setzt die Anwendbarkeit doch eine zuvor erfolgte Privilegierung gemeinnütziger gegenüber gewerblicher [sic] Anbieter voraus.“
(III.1.a., S. 18/31 des Beschlussumdrucks).
Diese enge Auslegung macht den Fehlschluss deutlich, der überdies den klaren Willen des Richtlinien-/Gesetzgebers – sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene – in bedenklicher Weise negiert. Der Ansatz zu einer (vermutlich) systematischen Auslegung geht fehl: Das NRettDG trennt nicht klar zwischen dem „Ob“ und dem „Wie“ bei der Auswahl der Dritten, die nach § 5 NRettDG beauftragt werden können:
- Absatz 1 stellt klar, dass der Sicherstellungsauftrag auf Dritte übertragen werden kann und macht dabei gewisse inhaltliche Vorgaben (Aufgabenerfüllung durch Dritte so, „wie dies der Träger des Rettungsdienstes selbst […] tun müsste.“; ebenfalls können „Eignung und Bereitschaft zur Mitwirkung am Katastrophenschutz sowie zur Bewältigung von Großschadensereignissen berücksichtigt werden“.
- Absatz 2 behandelt Fragen der Organisationsstruktur (Konzessions- oder Submissionsmodell einheitlich im Zuständigkeitsbereich), des Verfahrens (Hinweis auf die Bereichsausnahme) und des Handelns im Namen des Trägers
- Absatz 3 weist den Rettungsdienst grundsätzlich dem öffentlich-rechtlichen System zu und ermöglicht darüber hinaus ergänzende Konzessionen im qualifizierten Krankentransport nach §§ 19 ff. NRettDG.
Wer schlussendlich im Rettungsdienst tätig sein kann, wird somit in allen drei Absätzen von § 5 NRettDG thematisiert. Strukturell passt die Ergänzung durch die 2021 neu eingefügte Unberührtheitsklausel in Absatz 2, weil dort Strukturfragen behandelt werden (Submissions- oder Konzessionsmodell, Bereichsausnahme als Vorfrage für Auswahlverfahren). Das Gesetz sagt: „Die Beauftragung nach Absatz 1 erfolgt […] durch […]“; danach kommt der Hinweis auf die Bereichsausnahme, die unberührt (also sicher auch anwendbar) sein soll. Regelungstechnisch hätte man die Unberührtheitsklausel auch im Absatz 1 unterbringen können. Daraus den Schluss zu ziehen, dass nach NRettDG keine Privilegierung möglich sei, ist ein Fehlschluss und schon semantisch und systematisch gewagt.
Das VG lässt bedauerlicherweise die aktuelle Rechtsprechung anderer Obergerichte und den Willen des niedersächsischen Gesetzgebers außer Acht: Angesichts der Rechtsprechung u.a. des OLG Düsseldorf (Beschl. v. 22.03.2023, VII-Verg 28/22), des OLG Jena (Beschl. v. 12.06.2024 – Verg 1/24, Besprechung in Vergabeblog.de vom 10.02.2025 Nr. 69503) und u.a. des OVG NRW (Beschl. v. 16.12.2022 – 13 B 839/22) ist eine Privilegierung, wonach der Träger die Vergabe auf gemeinnützige Hilfsorganisationen begrenzen kann (oder muss, wie in Bayern aktuell), landesrechtlich nicht notwendig, um die Bereichsausnahme anzuwenden.
Richtig ist, dass die Rechtsprechung früher teilweise eine landesrechtliche ausdrückliche Privilegierungsmöglichkeit für gemeinnützige Organisationen nach § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB forderte (s. z.B. Nachprüfungsinstanzen und Verwaltungsgerichte in Niedersachsen, Hamburg, Brandenburg und Schleswig-Holstein – OLG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 28.03.2022 – 54 Verg 1/22; OLG Brandenburg vom 26.07.2021 – Verg 3/21; OLG Hamburg, Beschluss vom 16.04.2020 – Verg 2/20; VG Hamburg, Beschluss vom 16.05.2021 – 14 K 3698/20; OVG Lüneburg, Beschluss vom 12.06.2019 – 13 ME 164/19; OLG Celle, Beschluss v. 25.06.2019 – 13 Verg 4/19).
Diese Rechtsprechung basiert vermutlich auf dem Fehlschluss, dass diverse Landesgesetzgeber eine ausdrückliche Privilegierung gestrichen hatten, weil bis zur Bereichsausnahme selbige angegriffen worden war. Damit wollten die jeweiligen Landesgesetzgeber soweit ersichtlich nur sicherstellen, dass Landesrecht mit höherrangigem Recht konform ist. Ein Gegenschluss, dass damit zwingend auch nach der Bereichsausnahme eine Privilegierung landesrechtlich ausgeschlossen sei, ist unzutreffend.
Das VG Lüneburg stützt sich v.a. auf die mittlerweile überholte Rechtsprechung des Niedersächsischen OVG (OVG Lüneburg, Beschluss vom 12.06.2019 – 13 ME 164/19). Die Verwaltungsgerichtsbarkeit legte zugrunde, dass „die gesetzlich in § 5 Abs. 1 NRettDG vorgesehene Gleichrangigkeit von gemeinnützigen und gewerblichen Anbietern der Anwendbarkeit der Bereichsausnahme […] entgegensteht“ (III.1.a., S. 15/31 des Beschlussumdrucks).
Das OLG Düsseldorf stellte 2023 fest (Beschluss vom 22.03.2023, VII-Verg 28/22): Die im Bundesgesetz (§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB) festgeschriebene Befugnis zur Privilegierung der Hilfsorganisationen kann nicht durch eine landesrechtliche Regelung modifiziert oder gar aufgehoben werden. Hierzu fehle es dem Landesgesetzgeber an der Gesetzgebungskompetenz. Der Bund habe mit der Umsetzung der Bereichsausnahme im GWB von der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11, Nr. 16 und Nr. 1 GG) Gebrauch gemacht. Unerheblich ist aus Sicht des OLG Düsseldorf in diesem Zusammenhang auch, dass die Länder über die Gesetzgebungskompetenz für die Struktur im Rettungsdienst verfügen. Maßgeblich ist vielmehr, dass § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB das Verfahren zur Beschaffung der rettungsdienstlichen Leistungen und die Organisation der Rettungsdienste regelt. Dies wurde jüngst durch das OLG Thüringen (B. v. 12.06.2024 – Verg 1/24, vgl. Kieselmann/Pajunk, vergabeblog.de v. 10.02.205 Nr. 699503) bestätigt. Das dortige Verfahren ist aktuell vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit anhängig.
Wie auch in Nordrhein-Westfalen scheint noch unklar zu sein, wie Landesrecht beschaffen sein muss, um die Bereichsausnahme anwendbar zu machen. Nach der aktuellen Linie der maßgeblichen Oberlandesgerichte und Oberverwaltungsgerichte ist das Landesrecht nicht ausschlaggebend: Bundesrecht bricht Landesrecht (Art. 31 GG).
Benötigt man nun für die Bereichsausnahme landesrechtlich eine ausdrückliche (zwingende?) Privilegierung oder nur eine fakultative Privilegierungsmöglichkeit, darf ein Träger nach seinem Ermessen die zu beauftragenden Dritten nach Maßgabe der Bereichsausnahme auswählen oder ist zwingend eine Gleichrangigkeit zwischen „Privaten“ und Hilfsorganisationen umzusetzen, wenn das Gesetz nichts ausdrücklich sagt?
Hier sollte man denklogisch abschichten: EU-Recht und GWB ermöglichen die Bereichsausnahme und gehen dem Landesrecht grds. vor.
In Niedersachsen ist de lege lata klar: Der Träger des Rettungsdienstes kann „Dritte“ beauftragen. Damit wird nicht zwischen Hilfsorganisationen und sonstigen Privaten differenziert.
Das VG bewertet richtig: „eröffnet § 5 Abs. 1 NRettDG dem Auftraggeber grundsätzlich die Möglichkeit, auch gewerbliche Anbieter zu beteiligen.“ Allerdings stellt das NRettDG auch klar: „Bei der Auswahl der Beauftragten können die Eignung und Bereitschaft zur Mitwirkung am Katastrophenschutz sowie zur Bewältigung von Großschadensereignissen berücksichtigt werden.“
Wieso diese Gesetzeskonstruktion verbunden mit der klaren Absicht des Gesetzgebers, die Bereichsausnahme ermöglichen zu wollen, nicht ausreichen soll, um § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB anzuwenden, bleibt unklar. Die Begründungen sind eher kursorisch:
Das VG Lüneburg verweist auf einen Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aus dem Jahr 2019 (Beschl. v. 26.04.2019, 12 C 19.621). Es übersieht dabei, dass sowohl das bayerische Landesrecht mittlerweile geändert ist als auch dass diverse Obergerichte zum Thema „Privilegierung“ in der Zwischenzeit anders entschieden haben.
Die aktuelle Fassung von Art. 13 BayRDG lautet: „(…) Die Vergabe erfolgt nach § 107 Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 GWB ausschließlich an gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen.“ – damit haben wir ein Beispiel, wo landesrechtlich zwingend nur gemeinnützige Organisationen beauftragt werden können. „Marktrelevant“ ist das faktisch nicht mehr, weil mittlerweile über Bayern hinaus fast alle „Privaten“ formal gemeinnützig sind.
Rechtsfehlerhaft dürfte auch die folgende Beurteilung des VG Lüneburg sein: „Gegen eine rechtmäßigerweise durchgeführte Direktvergabe spricht auch die in § 5 Abs. 2 Satz 1 NRettDG statuierte Einheitlichkeit des Rettungsdienstes.“ (III.1.b.(1)., S. 20/31 des Beschlussumdrucks).
Das VG führt u.a. aus: „Demnach ist die Direktvergabe nach § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB – sofern überhaupt anwendbar, was die Kammer hier nicht für gegeben hält – ein „dritter Weg“ neben der Beauftragung nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 NRettDG“.
Das VG verkennt, dass es über Niedersachsen hinaus zwei Strukturmodelle für den Rettungsdienst gibt, wenn dieser nicht kommunal durchgeführt wird, nämlich das „Konzessionsmodell“ und das „Submissionsmodell“. Diese beiden Modelle werden in Niedersachsen ergänzt durch die Möglichkeit, unabhängig vom gewählten Grundmodell ergänzend Konzessionen für den qualifizierten Krankentransport nach §§ 19 ff. NRettDG auszugeben. Die Frage, welches Modell man wählt, ist unabhängig von der Frage, wie, in welchem Verfahren und mit welchen Rahmenbedingungen „Dritte“ als Beauftragte ausgewählt werden.
Zwischenbemerkung: weit überwiegend wird in Niedersachsen das Submissionsmodell genutzt – die Konzession war nur eingeführt worden, um eine „Flucht aus dem Vergaberecht“ zu ermöglichen, weil lange Zeit Konzessionen nicht formal ausschreibungspflichtig waren (die primärrechtliche Diskussion zum Thema wird hier aus Platzgründen nicht eröffnet).
Bei der Konzession verhandeln die Beauftragten ihr Budget direkt mit den Krankenkassen und bekommen von dort ihre Vergütung. Im Submissionsmodell verhandelt nur der Träger mit den Kassen (sinnvollerweise mit den Beauftragten zusammen am Tisch). Die Beauftragten verhandeln ihre Kosten nur mit dem Träger und bekommen von ihm das Geld. Der Träger refinanziert sich wiederum nach SGB V bei den Kassen.
Es gibt also neben der kommunalen Leistungserbringung nur zwei Regelungsmodelle. Für eines davon (i.d.R. die Submission) muss sich der Träger entscheiden. Ergänzt wird diese Grundentscheidung von der weiter bestehenden Möglichkeit von Konzessionen im qualifizierten Krankentransport nach §§ 19 ff. NRettDG. Insofern gibt es schon de lege lata keine durchgehende „Einheitlichkeit“, zumal auch eines der beiden Hauptmodelle parallel zu einer kommunalen Leistungserbringung im Rettungsdienst stattfinden kann.
Ebenfalls im Irrtum ist die Kammer des VG Lüneburg, wenn sie die Bereichsausnahme nach § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB mit dem Begriff der „Direktvergabe“ verknüpft. Bereichsausnahme bedeutet nur, dass das GWB nicht mehr anwendbar ist. Damit befindet man sich im Verwaltungsrecht. Dort sind wiederum verschiedene Modi der Beauftragung (oder Konzessionsvergabe) denkbar: Vom umfangreichen Auswahlverfahren ähnlich einer GWB-Ausschreibung über ein schlankes verwaltungsrechtliches Verfahren bis hin zu einer (sauber begründeten) direkten Vergabe beispielsweise von Auftragserweiterungen an Bestandsdienstleister. Grundlage im sich entwickelnden Verwaltungsvergaberecht sind grds. nur die jeweils anwendbaren Gesetze incl. der Grundsätze der Transparenz und Willkürfreiheit.
Resumée: Die Bereichsausnahme ist weiter konform mit höherrangigem Recht, insbesondere dem Grundgesetz und dem Europarecht (s. zur Verfassungsmäßigkeit u.a. schon Kieselmann/Pajunk: Bestätigung der Bereichsausnahme Rettungsdienst, NZBau 2021, 174, 177).
2. Kündigungspflicht für bestehende Rettungsdienstverträge über den verwaltungsrechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch?
Das VG hat den beklagten Träger verurteilt, „die „Vereinbarung über die Übertragung der Durchführung des Rettungsdienstes und des qualifizierten Krankentransports im Landkreis […] vom 21. Dezember 1993 einschließlich sämtlicher Änderungs- und Ergänzungsverträge nach Maßgabe des in […] dieser Vereinbarung enthaltenen Kündigungsrechts zu kündigen.“.
Das VG wendet trotz der klaren Aussage des Vergabesenates im Verwaltungsprozess das GWB als Rechtsrahmen an – aus Sicht des VG folgerichtig, wenn auch inhaltlich u.E. unzutreffend. Die Verweisung über § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG in analoger Anwendung bindet das VG materiell nicht, auch wenn das Ergebnis skurril wirkt.
Folgerichtig bewertet das VG mit Verweis auf die Position der VK Lüneburg diverse Erweiterungen der Verträge als bestandskräftig i.S.d. GWB. Da die „absolute Ausschlussfrist“ von sechs Monaten nach Vertragsschluss nach § 135 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz GWB verstrichen war, konnten die Erweiterungen nicht unwirksam sein. Die Kammer des VG konnte damit diese Aufträge nicht mehr prüfen.
Unklar ist, warum das VG einerseits GWB anwendet und wie Nachprüfungsinstanzen die Bestandskraft (vermeintlich) vergaberechtswidriger Verträge abschließend nach § 135 GWB prüft. Andererseits statuiert das VG über den verwaltungsrechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch eine Kündigungspflicht und unterminiert damit die Bestandkraft.
Bemerkenswerterweise beschreitet das VG genau diesen Weg. Es verweist auf den aus seiner Sicht bestehenden öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch der Klägerin. Dieser ist in § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO nur vorausgesetzt und auch sonst nicht ausdrücklich geregelt. Er ergibt sich aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bzw. folgt unmittelbar aus den Grundrechten und ist jedenfalls gewohnheitsrechtlich anerkannt.
Das VG befasst sich mit Art. 12 GG und sieht zu Recht den Schutzbereich als eröffnet. Die Berufsfreiheit gibt zwar kein Recht auf Erfolg im Wettbewerb und sichert auch keine künftigen Erwerbsmöglichkeiten, es „sichert aber die Teilhabe am Wettbewerb nach Maßgabe seiner Funktionsbedingungen (BVerfG, Beschl. v. 13. Juni 2006, 1 BvR 1160/03, juris Rn. 60 f. m.w.N.).“
Dass in casu ein Bieterwettstreit stattfand, ist nach Ansicht des VG „eine schwere Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Interessen der Klägerin“ ((2), S. 26/31 des Beschlussumdrucks mit Verweis auf VG Hamburg, Urteil vom 26. Mai 2021 – 14 K 3698/20 -, juris Rn. 80). Das VG blendet allerdings die weitere Argumentation des zitierten VG Hamburg (Urteil vom 26. Mai 2021 – 14 K 3698/20) aus, welches – mittlerweile durch OVG und BVerwG (BVerwG, Beschl. v. 21.09.2023 – 3 B 44.22, s. dazu die Besprechung in Vergabeblog.de vom 15.01.2024 Nr. 55520) bestätigt – die Beschränkung mit Verweis auf das überragend wichtige Gemeinschaftsgut Leben und Gesundheit rechtfertigt (VG Hamburg aaO., Rn. 81ff).
Die bisherige Vergabepraxis vergleicht die Kammer des VG Lüneburg mit einer Regelung, die „in ihrer Wirkung vergleichbar mit einer objektiven Berufszugangsvoraussetzung auf gesetzlicher Ebene ist.“ Dass die Klägerin auch im einfachen (nicht qualifizierten) Krankentransport (andere Termini: Krankenfahrten, Patientenfahrten, Liegendtaxi etc.) tätig sein kann, sei nicht relevant. Diese Bewertung erscheint nachvollziehbar – auch wenn die aktuelle Vergabepraxis des beklagten Landkreises verwaltungsrechtlich zu rechtfertigen sein mag.
Dann zeigt das VG den strengen Rechtfertigungsmaßstab für diese objektiven Berufszugangsvoraussetzungen auf, allerdings ohne dazu ausführlich Quellen zu nennen.
Diverse aktuelle Entscheidungen über die o.g. „Hamburger Entscheidungen“ hinaus zitiert das VG Lüneburg nicht.
3. Was tun in aktuellen/bevorstehenden Auswahlverfahren?
Angesichts der mäandernden Rechtsprechung ist in Niedersachsen jedenfalls aktuell die Rechtslage nicht mehr „sicher“. Aus unserer Sicht ist die Entscheidung des VG rechtsfehlerhaft und dürfte keinen Bestand haben.
Es bestehen verschiedene Optionen für Träger des Rettungsdienstes. Diese haben wie üblich diverse Vor- und Nachteile:
- Interimsbeauftragung – eine Interimsbeauftragung bietet sich an, wenn Verträge auslaufen und man die Entwicklung der Rechtsprechung abwarten will. Dabei dokumentiert man sinnvollerweise den bestehenden Rechtsrahmen und den Bedarf im Rettungsdienst und Katastrophenschutz und bezieht sich auf die Bereichsausnahme.
- Verlängerung bei bestehenden Verträgen – soweit bestehende Verträge eine Verlängerung vorsehen, sollten diese – wenn machbar und sinnvoll – verlängert werden bzw. nicht gekündigt werden, bis die Rechtslage wieder klarer ist. Auch dafür empfiehlt sich ein entsprechend angepasster Vergabevermerk.
- Auswahlverfahren mit der Bereichsausnahme – eine Entscheidung eines Verwaltungsgerichts ist nicht in Stein gemeißelt. Mit plausibler Begründung können laufende oder bevorstehende verwaltungsrechtliche Auswahlverfahren weitergeführt werden. Dabei muss man sich bewusst sein, dass das „Klagerisiko“ nach der aktuellen Entscheidung größer geworden ist. Dies sollte nicht schrecken. Vermeidung von Rechtsstreit sollte nicht primäres Handlungsmotiv sein, sondern eine leistungsfähige und resiliente Gefahrenabwehr auch über den Rettungsdienst hinaus.
- Ausschreibung nach GWB – wer formal ganz sicher gehen will, schreibt bei Bedarf nach GWB aus. Dabei ist jedoch verwaltungsrechtlich zu beachten, dass man die Fehler der letzten Jahre nicht perpetuiert (s. zu schlecht gesetzten Stellschrauben für den Wettbewerb s. u.a. Vergabeblog.de vom 18.02.2019, Nr. 39856).
Klar ist: Rettungsdienst und Gefahrenabwehr müssen weiter funktionieren.
4. Verwaltungsrecht/Völkerrecht: Verknüpfung von Rettungsdienst und Bevölkerungsschutz zwingend notwendig
Auch wenn die Bereichsausnahme mit der aktuellen Entscheidung des VG Lüneburg scheinbar wackelt, sollten Träger nicht in Angststarre verfallen und nüchtern analysieren, was ihre Aufgabe ist: Sicherstellung von Rettungsdienst und Katastrophen-/Bevölkerungsschutz.
Dies ergibt sich für Niedersachsen mit einem einfachen Blick in die Landesgesetze zur Gefahrenabwehr:
- § 2 NRettDG – Der Sicherstellungsauftrag umfasst den Rettungsdienst. Dieser betrifft sowohl die Notfallrettung als auch den qualifizierten Krankentransport. Das Gesetz stellt klar, dass man sich auch auf Großschadensereignisse vorbereiten muss („Bewältigung von Notfallereignissen mit einer größeren Anzahl von Verletzten oder Kranken“), § 2 Abs. 2 Nr. 1 NRettDG. Auch wenn formal dies nur bis zur Schwelle einer Katastrophe gilt (dort sind die Katastrophenschutzbehörden zuständig, die aber i.d.R. beim gleichen Träger verortet sind), sind Aufwachsressourcen mit vielen Ehrenamtlichen besetzt, die nicht nur im Katastrophenfall tätig sind. Dies wird auch in § 7 Abs. 5 NRettDG deutlich: Dort werden Schutzvorschriften für ehrenamtliche Helfer im Katastrophenschutz auch auf den Rettungsdienst erstreckt.
- Die interkommunale Zusammenarbeit für den Sicherstellungsauftrag in der Gefahrenabwehr wird in § 4 NRettDG betont.
- § 5 NRettDG stellt ebenfalls klar, dass Träger die Möglichkeit haben, den Bevölkerungsschutz in Auswahlverfahren jeglicher Couleur zu fokussieren: „Bei der Auswahl der Beauftragten können die Eignung und Bereitschaft zur Mitwirkung am Katastrophenschutz sowie zur Bewältigung von Großschadensereignissen berücksichtigt werden.“ (Abs. 1 Satz 3).
- § 7 NRettDG konkretisiert die Planung und Vorhaltung für Großschadensereignisse, und schützt (auch für die Spezialrettungsbereiche Bergrettung und Wasserrettung, s. § 7a NRettDG) ehrenamtliche Helfer. Auch dies zeigt die Vernetzung zwischen Rettungsdienst und Katastrophenschutz
In fast allen anderen Bundesländern ergibt sich aus der Gesamtschau der jeweiligen Gesetze zu Rettungsdienst und Katastrophenschutz Ähnliches.
Die Träger des Rettungsdienstes haben es somit in der Hand, mit lokal/regional angepassten schlanken Auswahlverfahren nach Verwaltungsrecht (oder auch mit Verfahren nach GWB) rechtssicher das Gesamtsystem der gesundheitlichen Gefahrenabwehr zu stärken. Wirtschaftlichkeit erzielt man nicht mit einem Preiswettbewerb, sondern mit einer konstruktiven Diskussion über ausreichende Vorhaltung. Dabei sollte der Bevölkerungsschutz gestärkt werden. Insbesondere ehrenamtliches Engagement über das hauptamtlich tätige Personal hinaus stärkt die Resilienz. Ebenfalls sind die Hilfsorganisationen nach Maßgabe des DRKG und des Völkerrechts (Genfer Konventionen) zu berücksichtigen (s. hierzu zusammenfassend Spieker u.a. in Johann, DRK-Gesetz, 2019, § 1 Rn. 36 ff.; ebenso Kieselmann/Pajunk/Liefländer/Stadler/Böth in Lüder/Stahlhut, Gesamtverteidigung in Gefahr!?, S. 157ff.). Das heißt sicher nicht, dass „Hilfsorganisation XY“ den gesamten Rettungsdienst betreiben muss. Allerdings sind Verfahren kritisch, welche den Hilfsorganisationen große Teile des Rettungsdienstes entziehen – dieser ist schlussendlich eine wichtige Grundlage dafür, dass Ehrenamtliche Helfer qualifiziert und motiviert bleiben und die Gesellschaft auf große Schadenslagen besser reagieren kann.
5. Prozessuale Formalia, Kartellrecht
Das VG hat zu Recht die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 124a Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zugelassen. Die Frage, ob die Bereichsausnahme in Niedersachsen zur Anwendung kommt, „weil der neu eingefügte § 5 Abs. 2 Satz 2 NRettDG diese Bereichsausnahme ausdrücklich unberührt lässt, bedarf im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtseinheit der Klärung im Berufungsverfahren“.
Praxistipp
In Anlehnung an diverse Veröffentlichungen nicht nur im Vergabeblog sollen die folgenden Praxishinweise den Akteuren helfen, die gesetzliche Aufgabe der Gefahrenabwehr bestmöglich zu erfüllen:
- Auftraggeber wie Landkreise, Städte und auch Zweckverbände sollten weiter das Gesamtsystem der gesundheitlichen Gefahrenabwehr stärken. Das ist – verwaltungsrechtlich gesehen – ihre Aufgabe nach Landesrecht (s.o.); dies ermöglicht eine Stärkung des Bevölkerungsschutzes i.d.R. problemlos. Ebenfalls müssen völkerrechtliche Verpflichtungen (s. Genfer Konventionen, DRKG) berücksichtigt werden, sonst drohen Ermessensfehler. Dazu gehört zunächst, den Rettungsdienst nach SGB V nicht solitär zu betrachten. Die Schnittstellen zu angrenzenden Bereichen wie dem Bevölkerungsschutz/Katastrophenschutz mit dem dort wichtigen Ehrenamt für Großschadenslagen müssen zwingend berücksichtigt werden. Die Handlungsoptionen sind oben unter Ziff. 3 aufgezeigt. Wichtig ist auch, dass man Aufwachsbedarf kritisch hinterfragt. Allerdings ist ein Aufwuchs von bis zu 20% selbst nach GWB ohne weiteres ohne ergänzende Ausschreibung umzusetzen.
- Landesgesetzgeber dürfen angesichts der Spruchpraxis überlegen, ob und wie die Bereichsausnahme landesrechtlich weiter gesichert werden kann. Sinnvoll ist eine Leitlinie in den Rettungsdienstgesetzen, die langfristig Anreize für Sicherheit, Qualität und v.a. Resilienz setzt. Je nach Fortgang der Entscheidungspraxis wird ggf. landesrechtlich nachgeschärft werden müssen, um den Bevölkerungsschutz zu stärken. Es sollte die Chance genutzt werden, das Gesamtsystem der gesundheitlichen Gefahrenabwehr zu stärken, insbesondere die Resilienz dadurch zu stärken, dass man ehrenamtlich qualifiziertes Engagement in Auswahlverfahren transparent und willkürfrei belohnt.
- Hilfsorganisationen sollten weiter die Chance nutzen, die ihnen die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst bietet und die mit Erfahrung bei Rettungsdienstausschreibungen auch in GWB-Verfahren umgesetzt werden kann: Viele engagierte ehrenamtliche Helfer sind Ressourcen, die für die Gesellschaft in Notsituationen wichtig sind und die Resilienz stärken. Notwendig ist, nachweisbar Aktive im Ehrenamt vorzuhalten, sie zu motivieren und auszubilden. Dies ist eine gemeinsame Aufgabe aller Akteure und wird durch diverse landesrechtliche Regelungen in den einzelnen Bundesländern bestätigt und normiert. Auch gemeinnützige sonstige private Unternehmen können diese Aufgabe annehmen und damit ihre Geschäftstätigkeit langfristig absichern.
- Krankenkassen/Kostenträger sollten im Dialog mit den weiteren Beteiligten Strukturfragen besprechen. In Zeiten klammer Kassen ist wichtig, den Aufwuchs an Fahrzeugen nicht ausufern zu lassen, sondern im Dreieck Träger – Leistungserbringer – Kostenträger gemeinsam zu diskutieren, wie das System qualitativ gut, wirtschaftlich und resilient gestaltet werden kann. Dies dient allen Beteiligten und der Bevölkerung. Ein Preiswettbewerb ist meist untauglich, verstößt ggf. gegen Verwaltungsrecht in der Gefahrenabwehr und erzeugt Kollateralschäden im Gesamtsystem sowie den Anreiz, sich mit Unterkostenangeboten einen „Marktanteil“ zu sichern und später über Kostenverhandlungen rentabel zu werden. Wirtschaftlichkeit wird über kritische Diskussion über Strukturen gesichert, nicht über unrealistische Preisangebote.
- Private Rettungsdienstunternehmen sollten sich nicht auf das aus der Reihe fallende Urteil verlassen. Sie können sich auch an die Bereichsausnahme anpassen, wenn sie langfristig weiter im Rettungsdienst tätig sein wollen: Formal haben viele „Private“ bereits den Wechsel in die Gemeinnützigkeit vollzogen. Dies ist aber kein inhaltliches Unterscheidungskriterium, welches den Bevölkerungsschutz stärkt. Im Rahmen der Bereichsausnahme – die immer mehr Träger zu Recht anwenden – wird der Bevölkerungsschutz wichtiger werden und sollte in Auswahlverfahren berücksichtigt werden (Auswahlkriterien Qualität und Resilienz). Kleineren gemeinnützigen Privaten gelingt es regional immer wieder (so auch im besprochenen Fall), auch Ehrenamtliche vorzuhalten und zu motivieren, die nicht hauptamtlich im Rettungsdienst beschäftigt sind.
Kontribution
Dieser Beitrag wurde zusammen mit Dr. Mathias Pajunk und Dr. Karin Deichmann, LL.M. verfasst. SKW Schwarz war im Verfahren nicht beteiligt. Die Entscheidung ist (Stand Februar 2025) nicht rechtskräftig und noch nicht veröffentlicht. Bei Interesse kann die anonymisierte Entscheidung bei den Autoren angefordert werden (vergabe@skwschwarz.de).
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Dr. Mathias Pajunk
Dr. Mathias Pajunk ist Rechtsanwalt und Associated Partner in der Sozietät SKW Schwarz Rechtsanwälte. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt in der Beratung von öffentlichen Auftraggebern bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Dienstleistungskonzessionen. Zu seinen weiteren Tätigkeitsfeldern zählt die Bearbeitung komplexer Fragestellungen auf den Gebieten des Beihilfen- und Kartellrechts.
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Dr. Karin Deichmann, LL.M.
Dr. Karin Deichmann, LL.M. ist Rechtsanwältin in der Sozietät SKW Schwarz Rechtsanwälte. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt in der Beratung von öffentlichen Auftraggebern sowie Unternehmen in allen Fragen des Vergaberechts. Ein Fokus liegt dabei in der Begleitung von IT-Ausschreibungen. Daneben berät Dr. Karin Deichmann Bieter bei vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren. Sie befasst sich zusätzlich mit Fragen rund um das Beihilfen- und Zuwendungsrecht.