Kein Kontrahierungszwang mittels Zwangsvollstreckung
Öffentliche Auftraggeber können und dürfen nicht im Wege der Zwangsvollstreckung dazu gezwungen werden, einen Auftrag an einen geeigneten Bieter zu erteilen. Dies gebietet der auch im Bereich der Vollstreckung von Vergabekammerentscheidungen bedeutsame Grundsatz der Privatautonomie.
§ 168 Abs. 3 Satz 2 GWB i.V.m. § 19 ThürVwZVG; Art. 2 Rechtsmittelrichtlinie
Leitsatz
- Die bestandskräftige Entscheidung einer Vergabekammer, die dem öffentlichen Auftraggeber aufgibt, die Leistung bei fortbestehender Beschaffungsabsicht unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer in einem vergaberechtskonformen Verfahren auszuschreiben, kann nicht mit einem Zwangsgeld vollstreckt werden, wenn der Auftraggeber nicht zeitnah die entsprechende Ausschreibung beginnt.
- Aufgrund der Vertragsfreiheit kann und darf der öffentliche Auftraggeber grundsätzlich nicht dazu gezwungen werden, einen Auftrag an einen geeigneten Bieter zu erteilen.
Sachverhalt
Die zuständige Vergabekammer führte aufgrund des Nachprüfungsantrags eines Bieters in Bezug auf eine europaweit ausgeschriebene Interimsvergabe von Winterdienst- und Störungsbeseitigungsleistungen für den Zeitraum Oktober 2024 bis Oktober 2025 ein Nachprüfungsverfahren. Da die Interimsvergabe aus Sicht der Vergabekammer intransparent war, verpflichtete diese den öffentlichen Auftraggeber bei fortbestehender Beschaffungsabsicht das Vergabeverfahren in den Stand vor Auftragsbekanntmachung zurückzuversetzen und dieses unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer zu wiederholen. Der Vergabekammerbeschluss enthielt wie üblich keine Frist für die Wiederholung der Interimsvergabe. Zuvor hatte der gleiche Bieter in einem anderen Beschwerdeverfahren vor dem OLG Jena ein weiteres Vergabeverfahren Winterdienst und Störungsbeseitigung 2022-2027 desselben öffentlichen Auftraggebers erfolgreich angefochten.
Der Auftraggeber führte sodann ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb als sog. Dringlichkeitsvergabe hinsichtlich Winterdienstleistungen durch und erteilte den Zuschlag an ein drittes Unternehmen. Bei dieser Dringlichkeitsvergabe handelte es sich nach Auskunft des Auftraggebers nicht um die Fortführung des durch die Vergabekammer als rechtswidrig festgestellten Interimsvergabeverfahrens, sondern um ein davon unabhängiges Verfahren. Der Leistungszeitraum war jedoch derselbe wie im Rahmen der zunächst als Interimsvergabe durchgeführten Ausschreibung. Die im Rahmen der Dringlichkeitsvergabe geschlossenen Verträge sahen zudem ein jederzeitiges Kündigungsrecht des öffentlichen Auftraggebers vor, um bei einer erfolgreichen Auftragsvergabe in den zurückzuversetzenden Interimsvergaben oder dem parallel ebenfalls in die Wege geleiteten Vergabeverfahren Winterdienst und Störungsbeseitigung auf Bundes- und Landesstraßen 2022 bis 2027″ diese Verträge kurzfristig zu beenden und auf anderer vertraglicher Basis die Leistungen abzurufen.
Der Antragssteller des Vergabenachprüfungsverfahrens beantragte daraufhin bei der Vergabekammer, dem Auftraggeber für den Fall der Zuwiderhandlung gegen die im Vergabekammerbeschluss auferlegte Verpflichtung zur Wiederholung des Interimsvergabeverfahrens, ein Zwangsgeld in Höhe von mindestens 1.000 EUR und höchstens 10.000 EUR anzudrohen und für den Fall der anhaltenden Nichterfüllung festzusetzen. Diesen Vollstreckungsantrag begründete der Antragssteller damit, dass der Auftraggeber seiner mit dem Vergabekammerbeschluss auferlegten Zurückversetzungs- und Ausschreibungsverpflichtung bislang nicht nachgekommen sei.
Die Vergabekammer wies den Vollstreckungsantrag als unzulässig zurück, weil dieser auf die Durchführung eines künftigen Vergabeverfahrens gerichtet sei.
Hiergegen wandte sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde zum OLG. Er begründete die Beschwerde damit, dass sich der Vollstreckungsantrag nicht auf die Durchführung eines künftigen Vergabeverfahrens richte, sondern der Umsetzung des Vergabekammerbeschlusses diene.
Die Entscheidung
Das OLG Jena wies die Beschwerde des Antragsstellers als unbegründet zurück und entschied, dass der Auftraggeber nicht durch ein Zwangsgeld dazu angehalten werden könne, das Interimsvergabeverfahren binnen einer bestimmten Frist zu wiederholen. Durch die Vollstreckung des Vergabekammerbeschlusses dürfe aufgrund des Grundsatzes der Vertragsfreiheit kein Kontrahierungszwang für den Auftraggeber geschaffen werden. Aus der Entscheidung der Vergabekammer ergebe sich keine sofort oder in irgendeiner Weise zeitlich bestimmte, durchsetzbare Verpflichtung des Auftraggebers, ein Vergabeverfahren einzuleiten. Es liege auch nicht in der Kompetenz der Vergabekammer, zur Beseitigung einer Rechtsverletzung eine Maßnahme zu treffen, die einen rechtlichen oder tatsächlichen Kontrahierungszwang bedeuten würde.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung verdeutlicht in Bestätigung von bereits zuvor ergangener obergerichtlicher Rechtsprechung (BayObLG, Beschluss vom 14.03.2023 Verg 1/23) die herausragende Bedeutung des Grundsatzes der Privatautonomie auch im Bereich der Vollstreckung von Vergabekammerentscheidungen gem. § 168 Abs. 3 GWB. Während allerdings in dem Verfahren vor dem Bayerischen Obersten kein neues Vergabeverfahren eingeleitet wurde, liegt hier der Sonderfall vor, dass ein neues aber jedenfalls nach Darstellung des Auftraggebers anderes Verfahren (Dringlichkeitsvergabe) eingeleitet wurde.
In Artikel 2 Abs. 8 der EU-Rechtsmittelrichtlinie ist vorgesehen, dass Entscheidungen der Nachprüfungsstellen wirksam durchgesetzt werden. Mit diesem europarechtlich verankerten Gebot der Vollstreckbarkeit von Entscheidungen der Nachprüfungsstellen scheint die hiesige Entscheidung zu konfligieren. Tatsächlich aber war der unterlegene Bieter nicht rechtsschutzlos gestellt, sondern hat nur das falsche Verfahren gewählt.
Um effektiven Rechtsschutz zu erlangen, hätte der Bieter gegen das als Dringlichkeitsvergabe durchgeführte Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vorgehen müssen, wodurch ggf. die Rechtsfolgen der ex tunc Unwirksamkeit des Auftrags gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 1 GWB ausgelöst worden wären.
Praxistipp
Der öffentliche Auftraggeber hatte vor dem OLG Jena letztendlich Glück – ein gutes Ergebnis, aber keine zuverlässige Strategie. Vielmehr sollten öffentliche Auftraggeber auf eine langfristige Vergabeplanung setzen, um nicht am Ende durch Nachprüfungsverfahren in zeitliche Bedrängnis zu kommen.
Bieter hingegen sollten vor der Stellung von Vollstreckungsanträgen sorgfältig prüfen, ob die Entscheidung überhaupt vollstreckbar ist. Sollte dies nicht der Fall sein, dürfte es ratsam sein, alternative Rechtsschutzmöglichkeiten zu suchen. Eine gründliche Überprüfung der Vollstreckbarkeit einer Entscheidung kann dazu beitragen, unnötige Verfahren zu vermeiden und sicherzustellen, dass angemessene rechtliche Schritte eingeleitet werden, sodass der effektivste Rechtsschutz erreicht wird.