DVNW-Standpunkte: Abschaffung des Unterschwellenvergaberechts in NRW – sinnvoll oder problematisch?
In unserer neuen Rubrik DVNW-Standpunkte beleuchten wir aktuelle Entwicklungen im öffentlichen Beschaffungswesen aus unterschiedlichen Perspektiven. Ob Gesetzesreformen, neue Vorgaben oder praktische Herausforderungen – wir bringen Argumente auf den Punkt und geben Raum für kontroverse, fundierte Debatten. Diese Ausgabe: Abschaffung des Unterschwellenvergaberechts in NRW – sinnvoll oder problematisch? Eine Gegenüberstellung der Standpunkte von Dr. Marc Pauka, Fachanwalt für Vergaberecht und Partner bei gunnercooke, und Dr. Christoph Kins, Fachanwalt für Vergaberecht und Partner bei abante Rechtsanwaltsgesellschaft.
Nordrhein-Westfalen plant eine grundlegende Neuausrichtung des kommunalen Vergaberechts. Mit dem am 11. Februar 2025 vom Landeskabinett beschlossenen Gesetzentwurf zur Änderung kommunalrechtlicher Vorschriften soll die Pflicht zur Anwendung der Unterschwellenvergabeordnung (UVgO) und der VOB/A im kommunalen Bereich entfallen. Künftig wären Kommunen erst ab Erreichen der EU-Schwellenwerte verpflichtet, förmlich auszuschreiben. Die Landesregierung verspricht sich davon einen spürbaren Bürokratieabbau und mehr Handlungsspielraum für die kommunale Ebene. Ist die Abschaffung der landesrechtlichen Vorgaben ein Schritt in Richtung Vereinfachung und Selbstverantwortung? Oder führt sie zu mehr Unsicherheit und ungleichen Standards in der Vergabepraxis? Ein Pro und Contra.
PRO – Dr. Marc Pauka: Weniger Bürokratie und mehr Mut zur Verantwortung
Das Vergaberecht ist ein taugliches Instrument, um öffentliche Beschaffungsmärkte zu öffnen, transparente und wirtschaftliche Beschaffungsmaßnahmen durchzuführen und innovative, umweltbezogene oder soziale Akzente im staatlichen Einkauf zu setzen. Wenn man es beherrscht. Leider sind die vergaberechtlichen Regelungen sehr komplex.
Das Nebeneinander von VOB, UVgO und Landesvergabegesetzen im Unterschwellenbereich machen es unübersichtlich. Die Abweichungen im EU-Vergaberecht durch GWB, VgV, VSVgV, KonzVgV und SektVO sind verwirrend. Die Verweise vom Unterschwellenvergaberecht ins EU-Vergaberecht verwischen die Grenzen. Die völlig unüberschaubare Rechtsprechung zum EU-Vergaberecht (unterschwellig analog anwendbar?) lässt das Vergaberecht kafkaesk wirken. Die zum Teil völlig überzogenen Dokumentationspflichten, die vor allem von der Rechtsprechung aufgestellt werden, machen es teilweise absurd bürokratisch.
Das ist keine neue Erkenntnis. Seit der Schaffung der VOB im Jahre 1926 und den ersten EU-Richtlinien zur Bauvergabe 1973 gab es keine Vergaberechtsreform, die nicht unter dem Motto „Entbürokratisierung und Vereinfachung“ stand. Das Ergebnis war stets, dass die Regelungsdichte zunahm, die Strukturen komplexer und die Handhabung schwieriger wurden.
Die Vergabestelle muss sich aber nicht nur mit den sich ständig ändernden und komplexer werdenden Regelungen herumschlagen. Sie steht stets unter dem Druck, möglichst schnell und einfach zu beschaffen. Bedarfe sollen am besten gestern schon gedeckt sein, für sorgfältige Planung von Vergabeverfahren fehlt die Zeit. Es fehlt häufig an tauglichen Mustern für Leistungsbeschreibungen und Verträge, für Eignungs- und Zuschlagskriterien oder an Bewertungsmatrizen einer Qualitätswertung. Die Folge: Die öffentliche Ausschreibung (das offene Verfahren) mit 100 % Preiswertung wird in aller Regel angewendet, weil alles andere zu aufwändig, zu langwierig und zu risikoreich ist.
Der Vorschlag aus NRW, den Vergabestellen mit der Machete einen Weg in den verwachsenen Dschungel aus vergaberechtlichen Regelungen zu schlagen, ist daher zu begrüßen. Wenn wir „Deutschland-Tempo“ in der Verwaltung wollen, braucht es solche Maßnahmen. Es ist richtig, die Zielvorgaben der Beschaffung vorzugeben, den einzelnen Kommunen aber selbst zu überlassen, wie sie diese erreichen. Deutschland braucht weniger Bürokratie und mehr Mut zur Verantwortung. Vor allem im Vergaberecht.
CONTRA – Dr. Christoph Kins: NRW braucht Ockham’s razor – und keine Mileische Kettensäge
Die Vorstellungen der nordrhein-westfälischen Landesregierung sind von bemerkenswerter Schlichtheit. Das Ziel sei „die vollständige Freigabe der Unterschwellenvergabe“, wenn auch „europa-, bundes- und landesrechtliche Vorschriften zu beachten“ seien. Ein rundes Quadrat. Betrachtet man die beabsichtigten Neuregelungen etwas näher, begegnen alte Bekannte. § 75a Abs. 1 GO NRW n.F. zitiert fünf bedeutsame Vergabegrundsätze:
- Wirtschaftlichkeit
- Sparsamkeit
- Effizienz
- Gleichbehandlung
- Transparenz
Diese Grundsätze sind auf Konkretisierung angewiesen. Denn es sind Prinzipien, keine Regeln. Das heißt: Aus sich heraus sind sie nicht anwendbar. Wirtschaftlichkeit und Effizienz, Gleichbehandlung und Transparenz erfordern es gerade, nach einheitlichen Regeln zu vergeben.
Diese Richtlinien will NRW nun aber aufheben. Mehr noch, NRW möchte ein Vorgehen nach einheitlichen Regeln nur noch bei Vorliegen einer allererst zu schaffenden satzungsrechtlichen Grundlage erlauben. Richtlinien aufheben, die Neuschaffung von Richtlinien erschweren und gleichzeitig –implizit – anordnen, nach einheitlichen Richtlinien vorzugehen. Welchen Sinn soll das haben?
Die Verteidiger der Mileischen Kettensäge nordrhein-westfälischer Bauart bringen vor, die Kommunen dürften sich per Satzung ja nun selbst die dringend benötigten Regeln geben. Dadurch wird jedoch ein weiterer wichtiger Vergabegrundsatz auf spektakuläre Weise verfehlt: die Einheitlichkeit. Praktisch gewendet: Der Bauunternehmer muss dort die einen und hier die anderen Regeln beachten, nachzulesen in jeweils unterschiedlichen kommunalen Satzungen, die er nachts im Ratsinformationssystem sucht.
Die Neuregelung, in Wahrheit: der Regelungsverzicht, wird auch die Kommunen mehr überfordern als ihnen nützen. Kommunale Beschaffer haben zu tun. Deshalb sind sie dankbar für klare Mitteilungen und vorlagenbasiertes Arbeiten. Ihre Neigung, über den Ausgleich von Vergabegrundsätzen im Einzelfall nachzusinnen, ist schon aus Zeitgründen nicht sonderlich ausgeprägt. NRW erlegt ihnen jedoch genau dies auf. Sie sollen wägen, welcher Vergabegrundsatz sich durchsetzt. Immer schön im Einzelfall.
Leider verlagert sich das Problem nur, wenn man auf die Satzungshoheit der Kommunen hinweist. Solche Satzungen müssen erstellt und erprobt werden. Die schützende Form verschwindet. Aus Rechts- werden wieder Machtfragen. Anstatt einen Regelungsbefehl zu befolgen, soll über weiche Grundsätze nachgesinnt werden.
Die Verteidiger der Neuregelungen verweisen auf vermeintlich gute Erfahrungen z.B. zahlreicher Sektorenauftraggeber. Ich kann nur empfehlen, mit diesen Sektorenauftraggebern zu sprechen und sich die dortige Unterschwellenbeschaffungspraxis in aller Ruhe anzuschauen. Eine ABM für Anwälte.
Es gäbe noch vieles weiteres einzuwenden: konfligierende Normbefehle bei öffentlicher Förderung, unklare Vorgehensweise bei Binnenmarktrelevanz, Rechtsunsicherheiten infolge des Satzungszwangs, Rückkehr zur Vielfalt der Policeyordnungen der frühen Neuzeit etc. Doch legen wir die Kettensäge einmal beiseite. Greifen wir nach Ockham’s razor. Ein neues vergaberechtliche Sparsamkeitsprinzip. Dazu habe ich drei Vorschläge:
- Auf eine Verfahrensordnung festlegen. Es braucht kein Nebeneinander von VOB/A und UVgO.
- Umfassende Verfahrenswahlfreiheit einführen. Wenn eine Kommune die Verhandlungsvergabe ohne Teilnahmewettbewerb als Regelvergabe haben möchte, soll man sie lassen.
- Verfahrensordnung entrümpeln und einkürzen.
Ockham`s Razor scheint mir allemal besser zu sein als die Mileische Kettensäge. Und er ist vielleicht gar nicht so weit von Paukas Machete entfernt.

Dr. Christoph Kins
Der Autor Dr. Christoph Kins ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht. Er ist Partner bei der Rechtsanwaltskanzlei abante in Leipzig, die sich auf Vergabe- und Vertragsrecht vor allem für öffentliche Auftraggeber spezialisiert hat. Herr Kins berät öffentliche Auftraggeber, Bieter, Bewerber und Zuwendungsempfänger. Er führt Seminare und Schulungen durch und veröffentlich regelmäßig Fachbeiträge zum Thema Vergaberecht.

Dr. Marc Pauka
Dr. Marc Pauka ist ein seit mehr als 20 Jahren Anwalt im Vergaberecht sowie im öffentlichen Preisrecht und Fachanwalt für Vergaberecht. Er ist Leiter des Teams „Public Procurement Law“ der BWI GmbH, dem IT-Systemhaus der Bundeswehr. Im Laufe seiner Berufszeit war er viele Jahre sowohl als Anwalt für Auftraggeber und Auftragnehmer als auch als Inhouse-Jurist bei öffentlichen Auftraggebern tätig. Dr. Pauka hat besondere Erfahrungen mit komplexen und umfangreichen Vergabeverfahren, besonders im IT-Bereich und im militärischen Umfeld. Er ist Herausgeber des Buches „Praxis der IT-Vergaben“ und Autor einer Vielzahl von Beiträgen in Büchern, Zeitschriften und Kommentaren zum Vergaberecht und zum öffentlichen Preisrecht.