Übergriffiges Vergaberecht? Verweise auf Zivilnormen bei Vergaben bergen Risiken für öffentliche Auftraggeber
Der EuGH hat entschieden, dass öffentliche Auftraggeber sich bei der Auftragsausführung nicht auf nationale Zivilvorschriften wie das BGB berufen dürfen, wenn diese nicht ausdrücklich in den Vergabeunterlagen angegeben sind. Dies gilt insbesondere, wenn die rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen für Bieter aus anderen Mitgliedstaaten nicht hinreichend klar und vorhersehbar sind. Das Urteil betont die Notwendigkeit, alle Bedingungen und Modalitäten eines Vergabeverfahrens klar und eindeutig zu formulieren, um während der Vertragsphase keine Rechte und Ansprüche zu verlieren. Damit stellt der Richterspruch ein erhebliches Risiko für öffentliche Auftraggeber dar und wirkt über das Vergaberecht hinaus.
§ 97 Abs.1 Satz 1 GWB, Art. 18 Abs.1 RL 2014/24/EU, Art. 36 Abs. 1 RL 2014/25/EU.
Leitsatz
Die Grundsätze der Gleichbehandlung und Transparenz verbieten es, nationale Rechtsvorschriften über Garantien aus Kaufverträgen analog auf Bauverträge anzuwenden, wenn diese nicht ausdrücklich in den Ausschreibungsunterlagen oder im Bauvertrag angegeben sind. Dies gilt dann, wenn die Anwendbarkeit dieser Bestimmungen für einen durchschnittlich fachkundigen Bieter bei Anwendung der üblichen Sorgfalt nicht hinreichend klar und vorhersehbar ist.
Sachverhalt
Im Rahmen eines offenen Vergabeverfahrens beauftragte ein polnischer Auftraggeber eine internationale Bietergemeinschaft, unter der Federführung von Veolia Water Technologies, mit dem Bau einer thermischen Behandlungsanlage für Klärschlamm. Der Vertrag sah eine Garantiezeit von 36 Monaten vor und verwies ergänzend auf die Geltung des polnischen Rechts, insbesondere des Zivilrechts.
Innerhalb der Garantiezeit behob der Auftragnehmer zwei Mängel, verweigerte jedoch die Beseitigung eines dritten Mangels mit der Begründung, die Garantiefrist sei abgelaufen. Der Auftraggeber vertrat hingegen die Auffassung, dass das polnische Kaufrecht analog anzuwenden sei, wonach die Garantiefrist mit der Lieferung einer mangelfreien Sache oder der Rückgabe der reparierten Sache erneut zu laufen beginne. Diese Anwendbarkeit ist in Polen sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur umstritten.
Der zur Vorabentscheidung angerufene EuGH musste klären, ob die europäischen Vergabegrundsätze der Gleichbehandlung und Transparenz es verbieten, während der Auftragsausführung nationales ziviles Kaufrecht über die Garantie analog anzuwenden, das in den Vergabeunterlagen, insbesondere im Bauvertrag, nicht ausdrücklich angegeben wurde.
Die Entscheidung
Die Luxemburger Richter erinnern daran, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz im EU-Vergaberecht verlangt, dass Bieter bei der Vorbereitung ihrer Angebote gleichbehandelt werden, um einen gesunden und effektiven Wettbewerb zu fördern. Alle Bieter müssen daher bei der Angebotserstellung die gleichen Chancen haben, was der Fall ist, wenn die Angebote den gleichen Bedingungen unterworfen sind (Rdnr. 31 f.).
Der Transparenzgrundsatz fordert zudem, dass alle Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens klar, genau und eindeutig in der Bekanntmachung oder in den Vergabeunterlagen formuliert sind. Dies soll sicherstellen, dass alle durchschnittlich fachkundigen Bieter bei Anwendung der üblichen Sorgfalt deren genaue Bedeutung erkennen und sie in gleicher Weise verstehen können (Rdnr. 33).
Die beiden Vergabegrundsätze gebieten, dass die materiell- und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen einer Teilnahme an einem Vergabeverfahren, insbesondere die Pflichten der Bieter, im Voraus eindeutig festgelegt und öffentlich bekannt gegeben werden. Dies soll sicherstellen, dass die Bieter genau verstehen, welche Bedingungen sie beachten müssen, und die Gewissheit haben, dass für alle Wettbewerber die gleichen Bedingungen gelten (Rdnr. 34).
Zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit der Vergabegrundsätze und der mit ihnen verfolgten Ziele müssen das Gleichbehandlungsprinzip und das Transparenzgebot aber auch in der Phase der Auftragsausführung beachtet werden (Rdnr. 36). Der öffentliche Auftraggeber muss die von ihm selbst festgelegten Kriterien strikt einhalten, nicht nur im Vergabeverfahren selbst, sondern bis zum Ende der Auftragsausführung (Rdnr. 37). Würde er die Vergabebedingungen während der Auftragsausführung nach Belieben ändern, würden die ursprünglich vereinbarten Bestimmungen verzerrt (Rdnr. 38).
Was die Dauer der Garantie und die wesentlichen Bedingungen für ihre Inanspruchnahme betrifft, müssen diese vorab klar definiert und veröffentlicht werden. Dies soll sicherstellen, dass die Bieter die rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen, von denen die Auftragsvergabe und die Modalitäten seiner Ausführung abhängen, genau verstehen und die Gewissheit haben, dass für alle Wettbewerber die gleichen Bedingungen gelten. Dies gilt insbesondere für Bauaufträge, bei denen die Geltendmachung einer Garantie für den Zuschlagsempfänger ein erhebliches finanzielles Risiko darstellen kann (Rdnr. 41). Ein durchschnittlich fachkundiger Bieter muss bereits in der Vergabephase in der Lage sein, die Ereignisse, die gegebenenfalls die Garantiefrist verlängern können, sowie den Umfang der Verpflichtungen, die ihm im Rahmen der Auftragsausführung obliegen können, zu erkennen (Rdnr. 41).
Wenn sich die Anwendung einer Frist oder wesentliche Modalitäten für die Geltendmachung einer Frist nicht ausdrücklich aus den Vergabeunterlagen einschließlich des Vertrages ergeben, sondern aus Bestimmungen folgen, die nicht unmittelbar auf diesen Vertrag anwendbar sind und nur durch eine Auslegung des nationalen Rechts oder eine Praxis der nationalen Behörden analog angewendet werden können, ist dies für Bieter, die ihren Sitz in anderen Mitgliedstaaten haben, besonders benachteiligend (Rdnr. 42).
Zwar ist ein Verweis auf Rechts- und Verwaltungsvorschriften hinsichtlich bestimmter technischer Spezifikationen nach der Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich zulässig, wenn er praktisch unvermeidbar ist. Ein Verweis auf nationales Recht, wie im vorliegenden Fall hinsichtlich der Garantiezeit, ist jedoch ungeeignet, dass ein durchschnittlich fachkundiger Bieter bei Anwendung der üblichen Sorgfalt im Stadium des Vergabeverfahrens hinreichend klar erkennt, dass die Geltendmachung der Garantie innerhalb der im Vertrag ursprünglichen Frist zur Auslösung einer neuen Garantiefrist führen kann. Erst recht ermöglicht der Verweis es ihm nicht, die Verpflichtungen zu erkennen, die ihm im Rahmen der Auftragsausführung obliegen können (Rdnr. 47 f.).
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung des EuGH beleuchtet die Auswirkungen auf die Anwendung und Auslegung des nationalen Vertragsrechts bei öffentlichen Aufträgen. Der Gerichtshof betont, dass die Grundsätze der Gleichbehandlung und Transparenz auch in der Vertragsphase gelten. Öffentliche Auftraggeber dürfen sich nicht auf nationale Zivilvorschriften berufen, die nicht klar und vorhersehbar in den Vergabeunterlagen angegeben sind. Obwohl die EU keine ausschließliche Regelungskompetenz für das Vertragsrecht der Mitgliedstaaten hat, kann sie in Bereichen wie dem Binnenmarkt Regelungen erlassen, die das Vertragsrecht beeinflussen. Vergaberechtliche Vorschriften fördern den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr innerhalb der EU und haben daher indirekte Auswirkungen auf das Vertragsrecht.
Mit der Erteilung des Zuschlags durch den öffentlichen Auftraggeber endet das Vergabeverfahren und es entsteht ein zivilrechtlicher Vertrag zwischen ihm und dem Unternehmen. Dieser Vertrag unterliegt hauptsächlich den Vorschriften des BGB sowie der VOL/B (§ 29 Abs. 2 Satz 1 VgV, § 10 Abs. 3 VSVgV) und der VOB/B (§ 8a EU Abs. 1 Satz 1 VOB/A, § 8a Abs. 1 Satz 1 VS VOB/A). Während der Vertragslaufzeit genießen die Parteien weitgehend Privatautonomie und können den Vertrag nach ihren Vorstellungen gestalten. Diese Freiheit wird jedoch durch das Vergaberecht eingeschränkt, insbesondere bei Auftragsänderungen gemäß § 132 GWB (Art. 72 RL 2014/24/EU bzw. Art. 89 RL 2014/25/EU). Die generelle Übergriffigkeit vergaberechtlicher Grundsätze auf die Vertragsphase hat der EuGH hingegen schon vor mehr als 20 Jahren in der Rechtssache KOM/CAS Succhi di Frutta (Urt. v. 29.4.2004 C-496/99 P, Rdnr. 115) beschrieben.
Das vorliegende Urteil bezieht sich zwar auf die vergaberechtlichen Vorgänger-RL 2004/18/EG und 2004/17/EG, die keine eigenständigen Kapitel zur Auftragsausführung enthielten, wie es bei den aktuellen RL 2014/24/EU und 2014/25/EU der Fall ist. Diese sind vor allem in den §§ 128, 132 und 133 GWB umgesetzt. Dennoch verwiesen auch die alten RL auf die Vertragsausführung, etwa in Art. 26 RL 2004/18/EG und Art. 38 RL 2004/17/EG. Daher dürfte das Urteil auch unter der aktuellen Rechtslage nicht wesentlich anders ausfallen, da die Vergabeprinzipien der Gleichbehandlung und Transparenz weiterhin gelten. Scheinbar hat der EuGH die vertraglichen Verpflichtungen jedoch nicht als Ausführungsbedingungen i.S.d. § 128 Abs. 2 GWB eingeordnet, wie dies noch in den Schlussanträgen von GA Sanchez-Bordona (6.2.2025, Veolia Water Technologies u.a., Rdnr. 48) angeklungen ist. Denn diese müssen sich ohnehin zwingend aus der Auftragsbekanntmachung oder den Vergabeunterlagen ergeben.
Es bleibt aber fraglich, ob die Luxemburger Richter den vergaberechtlichen Rahmen hier überspannt haben. Ihre Rechtsansicht führt dazu, dass öffentliche Auftraggeber während der Vertragsphase keine vertraglichen Verpflichtungen des Auftragnehmers geltend machen können, deren Vorhersehbarkeit sich nicht aus dem Vertrag selbst ergibt, auch wenn dieser in Verbindung mit allgemeinen anwendbaren Rechtsvorschriften ausgelegt wird (vgl. GA Sanchez-Bordona, Schlussanträge vom 6.2.2025, Veolia Water Technologies u.a., Rdnr. 78). Das Prinzip der Vorhersehbarkeit spielt bei der Auslegung von öffentlichen Aufträgen somit eine zentrale Rolle, insbesondere wenn ausländische Bieter bzw. Auftragnehmer betroffen sind. Dies führt dazu, dass Auftraggeber, die verhältnismäßig knappe Vertragsregelungen bei öffentlichen Auftragsvergaben wählen und davon ausgehen, dass im Vertrag nicht geregelte Themen durch das Zivilrecht geklärt werden, gezwungen werden können, möglichst alle Fragen im Vertrag selbst festzulegen. Diese Vorgehensweise entspricht zwar angloamerikanischen oder häufig auch internationalen Rechtsgepflogenheiten, wäre aber schwer mit den Rechtstraditionen in vielen kontinentalen Unionstaaten zu vereinbaren.
Gegen die Sichtweise des EuGH spricht, dass die vergaberechtlichen RL in eigenständigen Kapiteln (Art. 70 bis 73 RL 2014/24/EU bzw. Art. 87 bis 90 RL 2014/25/EU) die Implikationen während der Vertragsphase regeln. Diese Kapitel behandeln ausschließlich Ausführungsbedingungen, Unteraufträge, Auftragsänderungen und Kündigung. Andere für die vertragliche Abwicklung relevante Aspekte wie Garantien, Gewährleistung, Haftung und Vertragsstrafen werden nicht besonders erwähnt. Außerdem verlangen die RL, dass technische Spezifikationen (Art. 42 RL 2014/24/EU bzw. Art. 60 RL 2014/25/EU) ausdrücklich in den Auftragsunterlagen angegeben werden. Es gibt jedoch keine Vorgaben zur expliziten Bekanntgabe der anzuwendenden zivilvertraglichen Rechtsnormen. Daher griff der EuGH auf die allgemeinen Vergabegrundsätze der Transparenz und Gleichbehandlung zurück, um seine Entscheidung zu untermauern. Dabei hat er jedoch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 18 Abs. 1 RL 2014/24/EU bzw. Art. 36 Abs. 1 RL 2014/25/EU) unbeachtet gelassen.
Vergaberechtlich ist es nachvollziehbar, dass Gleichbehandlung und Transparenz nur dann gewährleistet sind, wenn alle Unternehmen den Inhalt und Umfang der Vertrags- und Ausführungsbedingungen gleichermaßen verstehen. Was in einem Mitgliedstaat klar und vorhersehbar ist, gilt nicht unbedingt für ein Unternehmen in einem anderen Mitgliedstaat. Es wäre jedoch unverhältnismäßig, von öffentlichen Auftraggebern zu verlangen, alle anwendbaren Rechtsvorschriften vertraglich oder anderweitig präzisieren zu müssen, um alle rechtlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen einer Vertragserfüllung klarzumachen. Alle Bieter, ob in- oder ausländisch, haben die gleichen Möglichkeiten, rechtlichen Rat einzuholen. Es ist daher nicht schlüssig, wenn die Luxemburger Richter unterstellen, dass die Kenntnis und Auslegung des nationalen Rechts ausländischer Bieter nicht mit derjenigen inländischer Bieter gleichgesetzt werden kann. Auch bei inländischen Bietern unterscheiden sich die Rechtskenntnisse und das Wissen um die Spruchpraxis der Gerichte erheblich. Öffentliche Auftraggeber sollten daher erwarten können, dass sich alle Anbieter gleichermaßen mit den Rechts- und Vertragsgrundlagen sowie deren möglichen Folgen während der Auftragsausführung vor der Angebotsabgabe auseinandersetzen. Dies schließt auch umstrittene Rechtsmeinungen und -anwendungen in Rechtsprechung und Literatur ein, die aufgrund ihrer Dynamik auch von den öffentlichen Auftraggebern nicht ohne weiteres vorhergesehen werden können.
Das Luxemburger Urteil kann schließlich nicht durch eine missverstandene Privatautonomie gerechtfertigt werden, wonach nur das gilt, was positivvertraglich geregelt ist. Die Tatsache, dass individuelle Vertragslücken durch allgemeine gesetzliche Regeln gefüllt werden, stellt keinen Eingriff in die Privatautonomie der Beteiligten dar. Vielmehr ist dies in Deutschland ein integraler Bestandteil des zivilrechtlichen Systems, das sowohl öffentlichen Auftraggebern als auch Auftragnehmern zum Vor- oder Nachteil gereichen kann.
Praxistipp
Das Urteil stellt öffentliche Auftraggeber vor neue Herausforderungen. Bestimmte Vorschriften des BGB, die üblicherweise auf Verträge Anwendung finden, könnten nicht mehr automatisch für öffentliche Aufträge gelten. Dies erschwert es öffentlichen Auftraggebern, bei der Erstellung der Vergabe- und Vertragsunterlagen abzuschätzen, ob ein durchschnittlich fachkundiger und sorgfältiger Bieter, insbesondere aus dem Ausland, die rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen klar erkennen kann. Diese Bedingungen ergeben sich oft aus ergänzenden Verweisen auf zivile Rechtsnormen wie BGB, VOL/B und VOB/B, deren Auslegung und Anwendbarkeit mitunter umstritten sind.
Bis zu weiteren konkretisierenden und möglicherweise anderslautenden Urteilen erscheint es daher ratsam, Vertragsregelungen in den Vergabe- und Vertragsunterlagen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, die die Angebotskalkulation der Bieter besonders betreffen. Dazu gehören insbesondere Regelungen zu Pflichtverletzungen, Haftung und Vertragsstrafen des Auftragnehmers sowie Mängelansprüche, Verjährung und Kündigung. Werden zu diesen Vertragsthemen vor allem Analogien zur jeweiligen vertraglichen Problemlösung rechtlich angewandt, sollten öffentliche Auftraggeber erwägen, ob generelle Normverweise durch die gesonderte Aufnahme entsprechender Regelungen in den Vergabe- und Vertragsunterlagen ergänzt werden sollten.