OZG 2.0 – ein Scheitern mit (vergaberechtlicher) Ansage?

Für den Erfolg der Verwaltungsdigitalisierung in Deutschland ist die Berücksichtigung kommerzieller Fachverfahren und privater IT-Dienstleister unerlässlich. Das macht das Vergaberecht außerhalb der Inhouse-Regelungen und dessen handwerklich richtige Anwendung zur notwendigen Voraussetzung zur Erreichung der Ziele des OZG 2.0.

Die Ausgangslage

Ab dem 01.01.2029 haben Nutzer gem. § 1a Abs. 2 Satz 1 OZG von 2024 „einen Anspruch auf einen elektronischen Zugang zu den Verwaltungsleistungen des Bundes“. § 1a Abs. 1 Satz 2 OZG 2024 schreibt vor, dass bestimmte Verwaltungsleistungen ab dem 01.01.2030 „ausschließlich elektronisch angeboten werden“. Das OZG 2017 hatte ebenfalls eine fünfjährige Frist zur verpflichtenden Einführung digitaler Verwaltungsleistungen in Lauf gesetzt. Danach sollten 575 Verwaltungsleistungen ab dem 01.01.2023 digital abrufbar sein. Bekanntlich wurde dieses Ziel nicht erreicht. Im August 2025 hat der Bitkom auf Basis von Daten der EU-Kommission zur Digitalisierung der Mitgliedsländer ermittelt, dass Deutschland sich im EU-Vergleich etwas verbessert hat. Deutschland belegt und nunmehr Platz 14 von 27 Mitgliedstaaten (siehe https://www.bitkom.org/Presse (Abruf am 16.10.2025). Für die „Digitalisierung der Verwaltung“ weist die gleiche Auswertung Deutschland Platz 21 von 27 Mitgliedstaaten zu. Dies ist der schlechteste Wert für Deutschland unter den Kategorien der Auswertung.

Während die datierte Pflicht des § 1a Abs. 1 Satz 2 OZG ausschließlich für Verwaltungsangebote gilt, die der Ausführung von Bundesgesetzen dienen und Unternehmen betreffen, verpflichtet § 1a Abs. 1 Satz 1 OZG Bund und Länder allgemein, „ihre Verwaltungsleistungen auch elektronisch über Verwaltungsportale anzubieten“. Die Norm enthält keine Umsetzungsfrist; die Verpflichtung gilt allerdings gem. Artikel 9 OZG-Änderungsgesetzes seit dem 24.07.2024.

Ungeachtet der gesetzlichen Verpflichtung dürfte unbestritten sein, dass eine umfassende Digitalisierung sämtlicher Verwaltungsleistungen als Standortfaktor für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschland unverzichtbar ist. Ebenso unverzichtbar ist die Digitalisierung sämtlicher Verwaltungsleistungen, damit Bund, Länder und Kommunen ihre Aufgaben trotz des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels mittel- und langfristig überhaupt noch bewältigen können.

Bund und Länder koordinieren und steuern Ihre Aktivitäten über den IT-Planungsrat (https://www.it-planungsrat.de; Abruf am 16.10.2025), u.a. um die Verwaltungsportale von Bund, Ländern und Kommunen intelligent zu verknüpfen (Portalverbund), Konten für Bürgerinnen, Bürger und Organisationen zur Nutzung von Verwaltungsleistungen vorzubereiten (Nutzerkonten) und Verwaltungsleistungen auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene zu digitalisieren (Digitalisierungsprogramme). Dabei koordiniert die „Föderale IT-Kooperation“ (FITKO; https://www.fitko.de/; Abruf am 16.10.2025) als Anstalt des öffentlichen Rechts in Trägerschaft aller Länder und des Bundes die Produkte des IT-Planungsrates, unterstützt ihn bei der Umsetzung seiner Projekte und übernimmt für ausgewählte Projekte zudem die Projektleitung und die operative Umsetzungssteuerung, unter anderem für den FIT-Store und FIT-Connect.

OZG 2.0 durch die vergaberechtliche Brille betrachtet

Liest man als Vergabepraktiker im Jahre 2025 die Beschlüsse und Tätigkeitsberichte des IT-Planungsrates und Veröffentlichungen der FITKO zum Thema OZG, vermisst man die Einordnung kommerzieller Fachverfahrens-Lösungen zur Erreichung der Ziele des OZG 2.0. Auf den ersten Blick verursachen die Beschlüsse und Tätigkeitsberichte des IT-Planungsrates und Veröffentlichungen der FITKO zum Thema OZG zwei Zerrbilder:

1. Es entsteht der Eindruck, als würde Verwaltungsdigitalisierung operativ vorrangig oder gar ausschließlich durch Anwendungen erreicht werden können, die von Organisationen der öffentlichen Verwaltung nach dem EfA-Prinzip („Einer-für-Alle“) erstellt und anderen Körperschaften aus Bund, Ländern und Kommunen kostenfrei zur Nachnutzung überlassen werden.

2. Es scheint, als sei die Regelung zur Inhouse-Vergabe und zur öffentlich-öffentlichen Zusammenarbeit, § 108 GWB, für das OZG 2.0 das einzige oder zumindest wichtigste vergaberechtliche Gestaltungsinstrument.

Zumindest das erste Zerrbild lässt sich bei näherer Betrachtung leicht widerlegen. Ohne Frage schaffen IT-Planungsrat und FITKO Transparenz zu den in der Entwicklung befindlichen Online-Services, zur Zuordnung zum sogenannten LeiKa-Schlüssel (vgl. https://informationsplattform.ozg-umsetzung.de; Abruf am 16.10.2025), zu Schnittstellen und zu Gremien, über die die Anregungen kommerzieller Unternehmen in die Umsetzungsmaßnahmen einfließen können. Möglicherweise bringt der „Deutschland-Stack“ und das Beteiligungsverfahren bis zum 30.11.2025 (vgl. https://deutschland-stack.gov.de/beteiligung/; Abruf am 25.10.2025) den entscheidenden Impuls zur Berücksichtigung kommerzieller Fachverfahren und privater IT-Dienstleister. Alle Maßnahmen, die IT-Planungsrat und FITKO bisher ergriffen haben, erscheinen zweckmäßig und auf ihre praktische Wirksamkeit ausgerichtet zu sein. Mit diesem Beitrag sollen nicht die ergriffenen Maßnahmen kritisiert werden.

Stattdessen stellt dieser Beitrag die Behauptung auf, dass das OZG 2.0, d.h. die Verwaltungs­digitalisierung in einem feststehenden Zeitrahmen, scheitern wird, wenn die Verantwortlichen nicht zusätzlich die richtigen vergaberechtlichen Prozesse initiieren und diesen rechtzeitig die angemessene Aufmerksamkeit verschaffen.

These 1: OZG 2.0 wird nur gelingen, wenn erstens kommerzielle Fachverfahrens-Lösungen von Anfang an konzeptionell einbezogen werden

Verwaltungsdigitalisierung startet 2025 nicht beim Zettelkasten mit Papier-Karteikarten. Die meisten Verwaltungen des Bundes, der Bundesländer und ca. 11.000 Kommunen wenden bereits heute IT-basierte Fachverfahren an, die in den meisten Fällen von kommerziellen IT-Dienstleistern entwickelt wurden und fortlaufend nach Kundenbedürfnissen weiterentwickelt werden. Bestandteil dieser Entwicklung ist die Anpassung an landesspezifische Anforderungen oder spezifische Anforderungen der jeweiligen Kommune(n). Zudem muss für nahezu jede Software aus Gründen der IT-Sicherheit eine IT-Betriebs-Unterstützung durch den Software-Ersteller dauerhaft sichergestellt werden.

Perspektivisch dürfte die Digitalisierung sämtlicher Fachverfahren mit interoperablen Anwendungen, Ende-zu-Ende Digitalisierung und einer möglichst einmaligen Eingabe von Nutzerdaten (National-Once-Only-Technical-System (NOOTS)) erstrebenswert sein.

Dies kann jedoch in der Fläche allein aus Kapazitätsgründen nicht durch Fachanwendungen geschehen, die von inhouse-fähigen IT-Dienstleistern der Verwaltung erstellt und gepflegt werden. Erst recht funktioniert dies nicht für Anwendungen, die (wie die Leistungen des § 1a Abs. 1 Satz 2 OZG) zu einem Stichtag „ausschließlich elektronisch angeboten werden“ müssen.

Auch wirtschaftspolitisch dürfte es verfehlt sein, komplette kommerzielle Fachanwendungen in der Fläche durch Anwendungen inhouse-fähiger IT-Dienstleister ersetzen zu wollen.

Soweit OZG-Ziele – wie etwa im Bereich der Authentifizierung von Nutzerinnen/Nutzern – eine landes- oder bundesweite Standardisierung erfordern, steht es öffentlichen Auftraggebern frei, kommerziellen Fachverfahrensherstellern für konkrete Komponenten oder Funktionen der Software konkrete EfA-Anwendungen (vgl. https://www.digitale-verwaltung.de/; Abruf am 16.10.2025) als Beistellung vorzugeben oder Schnittstellen vorzuschreiben, die sicherstellen, dass das Standardisierungsziel erreicht werden kann. Den Weg in das Vergabeverfahren finden solche Vorgaben über das Leistungsbestimmungsrecht des öffentlichen Auftraggebers.

These 2: OZG 2.0 wird nur gelingen, wenn öffentliche Auftraggeber Vergaberecht richtig verstehen und anwenden

Legislative und Exekutive in Deutschland fremdeln mit dem Vergaberecht. Symptomatisch dafür ist etwa, dass der Gesetzgeber als Reflex auf Krisen häufig die Wertgrenzen anhebt, die für die Anwendung vergaberechtlicher Vorschriften maßgeblich sind (vgl. Entwurf des Vergabebeschleunigungsgesetzes, über den das Bundeskabinett am 06.08.2025 beschlossen hat, siehe Vergabeblog.de vom 26/08/2025 Nr. 71979).

Vergaberecht richtig verstehen und anwenden“ klingt oberlehrerhaft und wie eine Berater-Plattitüde. Inhaltlich jedoch können zwei Erkenntnisse und deren konsequente Beachtung aus der vergaberechtlichen Beschaffung ein sehr ergebniswirksames Instrument machen.

Wenn Sie eine Entscheidungsträgerin/ein Entscheidungsträger eines öffentlichen Auftraggebers sind, lade ich Sie zu folgendem Gedankenexperiment ein. Bitte entscheiden Sie spontan, welcher der beiden Aussagen Sie eher zustimmen würden.

a. Unsere Behörde führt Vergabeverfahren nach §§ 97 ff. GWB vorrangig deswegen durch, weil wir dazu gesetzlich verpflichtet sind.

b. Unsere Behörde führt Vergabeverfahren nach §§ 97 ff. GWB vorrangig deswegen durch, weil wir dadurch hervorragende Leistungen für unsere Behörde zu angemessenen Preisen erzielen können.

Ich vermute, die meisten Leserinnen/Leser tendieren zu lit. a. Die Antwort lit. a. ist selbstverständlich „auch“ zutreffend.

Vergaberecht hat die unangenehme Eigenschaft, als übersteuernd wahrgenommen zu werden. Das verstellt in der Praxis den Blick darauf, dass Auftraggeber mittels Wettbewerbs hervorragende Ergebnisse erzielen können.

Ergo: Erst wenn Entscheidungsträgerinnen/Entscheidungsträger öffentlicher Auftraggeber verstehen, welch mächtiges Instrument das Vergaberecht (unabhängig von der rechtlichen Verpflichtung zur Durchführung) ist, können sie die Ertragskraft von Vergabeverfahren für ihre Behörde ausschöpfen. Das Ertragspotential von Vergabeverfahren steckt somit ausschließlich in der Antwort lit. b. Nur auf diese Weise kann die erforderliche intrinsische Motivation über alle Hierarchie-Ebenen der betreffenden Behörde entstehen und genutzt werden. Ansonsten droht eine „unmotivierte Abarbeitung der Rechtspflichten“. Dieser Appell richtet sich zuerst an die oberste Leitungsebene von Behörden und öffentlich-rechtlichen IT-Dienstleistern. Wenn eine Ministerin oder die Geschäftsführerin eines kommunalen IT-Dienstleisters die Ertragskraft von Vergabeverfahren für ihre Organisation beziehungsweise ihre Kunden ausschöpfen will, wird sie überrascht sein, wie groß die Chancen sind, die sich daraus ergeben. Wenn diese Erkenntnis konsequent praktisch umgesetzt wird, werden Vergabeverfahren nicht mehr wegen der rechtlichen Verpflichtung, sondern zur Erreichung der technischen und wirtschaftlichen Ziele durchgeführt werden – mit drastisch besseren Ergebnissen als zuweilen in der Praxis zu beobachten sind.

Auch die zweite Erkenntnis zum Postulat „Vergaberecht richtig verstehen und anwenden“ erscheint auf den ersten Blick trivial: Im Interesse des öffentlichen Auftraggebers ist es sachdienlich, die Organisation und Durchführung eines Vergabeverfahrens als handwerkliche Leistung zu betrachten, die handwerklich gut oder schlecht ausgeführt werden kann. Das gilt unabhängig davon, ob das Vergabeverfahren zu 100% von Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern der Behörde oder mit Unterstützung externen Beratungsunternehmen durchgeführt wird. So wird etwa in der Praxis die Bedeutung einschlägiger Erfahrung häufig drastisch unterschätzt.  Zu den häufigsten handwerklichen Fehlern vgl. Vergabeblog.de vom 23/03/2023 Nr. 52773 (Abruf am 16.10.2025). Da Vergabeverfahren ein wiederkehrendes Geschäft sind, sollten öffentliche Auftraggeber das Potential von Lernkurven gezielt nutzen, also die Wiederholung von Fehlern in künftigen Vergabeverfahren durch operative Maßnahmen vermeiden. Dies dürfte sich mit dem Befund der Europäischen Kommission decken, die eine stärkere Professionalisierung des Beschaffungspersonals fordert (vgl. COMMISSION STAFF WORKING DOCUMENT EVALUATION of Directive 2014/23/EU on Concessions, Directive 2014/24/EU on Public, https://eur-lex.europa.eu/ Kap. 5.2; Abruf am 24.10.2025).

Was das mit OZG 2.0 zu tun hat?

Wenn die Annahme zutrifft, dass auch im Jahr 2031 Fachanwendungen der öffentlichen Verwaltung

  • überwiegend oder jedenfalls in großem Umfang von kommerziellen Anbietern erstellt/erweitert und
  • von kommerziellen Anbietern gepflegt werden (Aufrechterhaltung IT-Sicherheit und Betriebsbereitschaft),

ist es zwingend notwendiger Bestandteil der Digitalisierungsstrategie, kommerzielle Lösungen privater IT-Dienstleister und damit deren Beschaffung als Lösungsinstrument anzusehen und als Lösungsinstrument zu gestalten.

Dies gilt umso mehr, als eine verbreitete handwerkliche Schwäche von Vergabeverfahren nach §§ 97 ff. GWB ist, dass sie operativ zu spät gestartet werden: Der Zeitbedarf für Vergabeverfahren sowie für die technischen Prozesse vor dem Produktivbetrieb (Erstellung, Konfiguration, Migration, Testen, Schulung) werden in der Praxis regelmäßig unterschätzt und ohne Pufferzeiträume geplant.

Mit den zu berücksichtigenden EfA-Anwendungen kommen zusätzliche Rahmenbedingungen ins Spiel, die in einer vorausschauenden Zeitplanung berücksichtigt werden müssen.

Wenn „OZG 2.0-Anwendungen“ zu definierten Zeitpunkten vorliegen sollen, müssen zwei handwerklich anspruchsvolle Prozesse zeitlich und inhaltlich aufeinander abgestimmt werden:

a. Die Entwicklung der EfA-Anwendungen und Bereitstellung zur Nachnutzung.

b. Das Vergabeverfahren für die kommerzielle Fachverfahrens-Software, in dem die in lit. a. genannte EfA-Anwendung Bestandteil der technischen Lösung sein soll.

Wenn man für den Moment unterstellt, dass die o.g. Zerrbilder bei öffentlichen Auftraggebern in nennenswertem Umfang zutreffend sind, vereiteln sie das „vergaberechtlich gebotene“ Vorgehen.

Geboten“ ist eine langfristige Planung für jeweils mindestens die kommenden fünf Jahre. Um organisieren zu können, sollte jeder öffentliche Auftraggeber für diesen Zeitraum wissen,

  • welche Bestandsverträge für Fachverfahren wann enden und
  • welcher Entwicklungszeitraum vor Produktiveinsatz der Folgelösung zu berücksichtigen ist.

Dies sollte eine sehr grobe Rückwärtsplanung ermöglichen und helfen, die zeitlich vordringlichen Fachanwendungen zu identifizieren.

Für die in diesem Sinne vordringlichen Anwendungen könnte der öffentliche Auftraggeber klären,

  • ob EfA-Anwendungen erkennbar sind, die
    • die Bestandslösung vollständig ersetzen können oder
    • als Module in einer ansonsten kommerziellen Software in Betracht kommen und
  • zu welchen Zeitpunkten für eine solche EfA-Anwendung
    • eine Testnutzung beziehungsweise
    • der Produktiveinsatz

geplant ist.

Liegen diese Informationen vor, kann der betreffende Auftraggeber geplante EfA-Anwendungen in seiner Beschaffungsstrategie und -organisation berücksichtigen. Fehlen diese Informationen, drohen Blindflug und Scheitern der wünschenswerten Verzahnung von kommerziellen Fachverfahrens-Anwendungen mit EfA-Anwendungen.

Roadmap EfA-Anwendungen

IT-Planungsrat und FITKO sollten eine Roadmap geplanter EfA-Anwendungen mit den beiden o.g. Planterminen (Testnutzung; Produktiveinsatz) zur Verfügung stellen und fortlaufend aktualisieren („Roadmap EfA-Anwendungen“).

Öffentliche Auftraggeber haben ein Interesse daran, dass kommerzielle Fachverfahrenshersteller

a. OZG-Anforderungen weitestgehend in ihre eigene Produktentwicklungs-Planung einbeziehen, also insbesondere

b. Schnittstellen zu EfA-Anwendungen anbieten können und

c. als Rückfall-Lösung ein „kommerzielles Substitut“ für den Fall beziehungsweise Zeitraum bereithalten, um den sich die Betriebsbereitschaft der EfA-Anwendung verzögert.

Eine öffentlich zugängliche „Roadmap EfA-Anwendungen“ begünstigt im Zweifel die Investitionsfreudigkeit von Fachverfahrens-Herstellern und sollte insofern auch wirtschaftspolitisch sinnvoll sein. Öffentliche Auftraggeber sollten von der FITKO eine solche „Roadmap EfA-Anwendungen“ fordern.

Rechtlich ist es unproblematisch, die o.g. OZG-Anforderungen im Vergabeverfahren für eine kommerzielle Fachverfahrens-Software berücksichtigen zu können. Die Schnittstellen-Vorgabe (lit. b.) dürfte eine zwingende Anforderung der Leistungsbeschreibung werden. Die Verfügbarkeit eines „kommerziellen Substituts“ wie vorstehend beschrieben (lit. c.), ließe sich problemlos in qualitativen Zuschlagskriterien im Sinne des § 58 Abs. 2 VgV abbilden. Notwendige Voraussetzung ist jedoch, dass sich der Auftraggeber seines Bedarfs bewusst sowie in der Lage ist, den Bedarf eindeutig und erschöpfend zu beschreiben (§ 121 Abs. 1 GWB) – und Zuschlagskriterien hinreichend bestimmt festzulegen (§ 127 Abs. 4 GWB).

Die vorstehend erwähnte Rückfall-Lösung (lit. c) ist als Anschauungs-Beispiel gemeint, das verdeutlichen soll, dass die Zielsetzungen des OZG 2.0 operativ (und handwerklich) Niederschlag in der Gestaltung konkreter Vergabeverfahren haben können. Viele weitere Vorgaben und Zuschlagskriterien, die die Zielsetzungen des OZG 2.0 begünstigen, sind vorstellbar.

Zusammenspiel von EfA-Anwendungen und kommerziellen Fachverfahren

Soweit kommerzielle Anbieter künftig EfA-Anwendungen an Fachverfahrens-Software anbinden sollen, wird zu klären sein,

  • ob der kommerzielle Anbieter Anpassungen an der EfA-Anwendung vornehmen können und
  • wer in dem Fall die Verantwortung für die Betriebsbereitschaft der EfA-Anwendung tragen

soll. Dies muss technisch bestmöglich konzipiert und vertragsrechtlich richtig ausgestaltet sein, um Verantwortungs-Konflikte („Fingerpointing“) nach Zuschlagserteilung zu vermeiden.

Verträge über Fachverfahrens-Software kommerzieller Anbieter müssen aus rechtlichen Gründen immer befristet und im Abrufvolumen gedeckelt sein; diese Verträge enden zumeist zu einem definierten Termin. Zu diesem Termin muss die Nachfolgelösung mit migrierten Produktivdaten und für den Produktiveinsatz getestet betriebsbereit zur Verfügung stehen. Selbst im konzeptionell „einfachsten“ Fall, dass eine EfA-Anwendung eine Fachverfahrens-Software eines kommerziellen Anbieters vollständig ersetzt, muss der öffentliche Auftraggeber somit sicherstellen, dass die EfA-Anwendung zum vorgenannten Termin betriebsbereit zur Verfügung steht. Abhängig von der Bedeutung der Software braucht er eine Rückfall-Lösung für den Fall von Verzögerungen. Erwartbar ist für „Verzögerungs-Fälle“, dass Verfahren nach § 14 Abs. 4 VgV mit dem Anbieter der Bestandssoftware als „Interims-Lösung“ einen starken Aufschwung erleben werden. Ein geplanter Verlauf sollte das allerdings nicht sein, zumal die „Interims-Lösungen“ sehr teuer werden dürften.

VgV-OZG-Initiative

Öffentliche Auftraggeber sind nicht gezwungen, die Verfügbarkeit von EfA-Anwendungen abzuwarten. Soweit kommerzielle Fachverfahrens-Anbieter bereits heute Lösungen anbieten, die Bürgerinnen und Bürgern über ein Nutzerkonto gem. § 2 Abs. 5 OZG Zugriff auf ihre Verwaltungsverfahren ermöglichen, wäre eine OZG-nahe Lösung bereits 2026 erreichbar. Mit einem Bewertungskriterium

  • Zugriff über Nutzerkonto im Sinne des § 2 Abs. 5 OZG zum Zeitpunkt der Angebotsabgabe betriebsbereit implementiert = 5 Punkte (Idealerfüllung)
  • Zugriff über Nutzerkonto im Sinne des § 2 Abs. 5 OZG wird 12 Monate nach Zuschlagserteilung betriebsbereit implementiert sein = 3 Punkte
  • Zugriff über Nutzerkonto im Sinne des § 2 Abs. 5 OZG nicht geplant = 0 Punkte

können öffentliche Auftraggeber in Vergabeverfahren bereits heute die OZG-Ausrichtung „belohnen“ und das Verhalten der Bieter-Unternehmen beeinflussen. Mit einer Markterkundung gem. § 28 VgV können öffentliche Auftraggeber bereits vor dem Vergabeverfahren mit geringem Aufwand klären, welche OZG-Komponenten kommerzielle Fachverfahrens-Anbieter bereits realisiert haben oder planen.

Eine derartige Berücksichtigung der OZG-Ziele in regulären Wettbewerbsverfahren, die als „VgV-OZG-Initiative“ bezeichnet werden könnte, ist

  • bereits in Vergabeverfahren 2025 und 2026 möglich und
  • mindestens bis zur Verfügbarkeit der o.g. „Roadmap EfA-Anwendungen“ sinnvoll.

Sobald die Berücksichtigung der OZG-Ziele in regulären Wettbewerbsverfahren („VgV-OZG-Initiative“) in nennenswertem Umfang in EU-Auftragsbekanntmachungen gem. § 37 VgV wahrnehmbar sind, könnte dies einen sich selbst verstärkenden Prozess in Gang setzen. Der desolate Zustand der Verwaltungsdigitalisierung in Deutschland könnte auf diese Weise sogar eine nützliche Wirkung entfalten, da Investitionen privater Fachverfahrenshersteller in Verwaltungsdigitalisierung nach den Vorgaben des OZG eine sehr hohe Amortisationssicherheit und Rendite versprechen.

Die Berücksichtigung der OZG-Ziele in Vergabeverfahren verursacht Auftraggebern wie Bietern einen sehr geringen Aufwand bei potentiell großem Ertrag – und repräsentiert damit anschaulich das Gestaltungspotential von Wettbewerb.

Die zu Beginn des Beitrags genannten Umsetzungsfristen des OZG von 2024 dürften eine preiserhöhende Nachfragewelle in Bezug auf IT-Dienstleistungen spätestens ab dem Jahr 2028 bewirken, deren Risikopotential öffentliche Auftraggeber durch eine vorausschauende Zeitplanung und Entzerrung Ihrer Bedarfe entgegensteuern können.

Notwendige Voraussetzung jedweder Gestaltungsentscheidung eines öffentlichen Auftraggebers im Kontext der Verwaltungsdigitalisierung ist, dass der Auftraggeber seinen konkreten Bedarf in Bezug auf die Verzahnung kommerzieller Fachverfahrens-Lösungen mit EfA-Anwendungen

  • rechtzeitig kennt und
  • rechtzeitig und präzise in Vergabeunterlagen abbilden kann.

Zusammenfassung und Handlungsempfehlungen

IT-Planungsrat und FITKO sowie künftig das Bundesministerium für Digitales und Staatsmodernisierung sollten

1. kommerzielle Fachverfahren als konzeptionell notwendigen und erwünschten Bestandteil der Verwaltungsdigitalisierung sichtbar machen,

2. für Vergabeverfahren und für die Umsetzung technischer Lösungen (kommerziell ebenso wie inhouse) praxisnahe Zeitpläne, d.h. mit Pufferzeiträumen, zugrunde legen,

3. eine Roadmap für EfA-Anwendungen („Roadmap EfA-Anwendungen“) erstellen, die insbesondere

3.1. den Funktionsumfang der EfA-Anwendung für öffentliche Auftraggeber,

3.2. die technischen Schnittstellen für öffentliche Auftraggeber und kommerzielle Anbieter,

3.3. den Plantermin für die Testnutzung der EfA-Anwendung (durch öffentliche Auftraggeber und kommerzielle Anbieter) und

3.4. den Plantermin für den Produktiveinsatz der EfA-Anwendung (durch öffentliche Auftraggeber und kommerzielle Anbieter)

transparent macht und

4. damit die Ergebniswirksamkeit ihrer OZG-Maßnahmen zum 01.01.2029 sowie davor erhöhen.

Öffentliche Auftraggeber sollten

1. in künftigen Vergabeverfahren für kommerzielle IT-Fachverfahren Leistungszusagen der Bieter zu OZG-Komponenten positiv in der Leistungsbewertung zur Feststellung des wirtschaftlichsten Angebotes gem. § 127 Abs. 1 Satz 1 GWB berücksichtigen („VgV-OZG-Initiative“),

2. die interne Übersicht über die Laufzeiten ihrer Bestandsverträge mindestens auf die kommenden fünf Jahre erstrecken,

3. frühzeitig eine Grobplanung ihrer Folgebeschaffungen unter Berücksichtigung mutmaßlich verfügbarer EfA-Anwendungen beginnen,

4. auf Basis der o.g. „Roadmap EfA-Anwendungen“ klären, ob Bietern in Vergabeverfahren die Schnittstellen zu EfA-Anwendungen in Vergabeunterlagen offengelegt werden können,

5. klären, wer die Betriebsverantwortung über den Lebenszyklus des zu beschaffenden Fachverfahrens tragen soll und ob die dafür erforderlichen technischen Bearbeitungsrechte sichergestellt sind,

6. in allen Planungen ausreichende Zeitpuffer für technische und/oder organisatorische Verzögerungen berücksichtigen,

7. Rückfall-Lösungen für den Fall vorsehen, dass Planannahmen zur Betriebsbereitschaft von Fachverfahren verfehlt werden,

8. sicherstellen, dass die Verzahnung kommerzieller Leistungen mit EfA-Anwendungen in den durchzuführenden Vergabeverfahren handwerklich „richtig“ ausgerichtet auf den Lebenszyklus des zu beschaffenden Fachverfahrens umgesetzt werden und

9. Vergabeverfahren gem. §§ 97 ff. GWB ergebniswirksam durchführen.

Verwaltungsdigitalisierung wird nur gelingen, wenn kommerzielle Fachverfahren und private IT-Dienstleister konzeptionell einbezogen werden. 2025 könnte für die Umsetzung der o.g. Empfehlungen noch rechtzeitig genug sei. Die vorgeschlagene „VgV-OZG-Initiative“ ist dafür ein sehr niederschwelliger Einstieg.

Allen Unkenrufen zum Trotz liegt darin eine Chance für Wettbewerbsverfahren und damit für die Verwaltungsdigitalisierung in Deutschland: Wenn Entscheiderinnen/Entscheider das Gestaltungspotential und die Ertragschancen von Wettbewerb für sich erkennen und umsetzen, ist eine nutzerfreundliche digitale Verwaltung zu angemessenen Kosten in greifbarer Nähe.

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