Regionalgruppe Leipzig: Sitzung am 15. Juni

Am 15.06.23 findet die 3. Sitzung der Regionalgruppe Leipzig des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW) vor Ort in Leipzig statt, zu der wir Sie recht herzlich einladen.

Unter der Leitung des Regionalgruppenvorsitzenden Karsten Köhler, Fachanwalt für Vergaberecht und Partner der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft, erwartet Sie wieder ein abwechslungsreiches Programm rund um Vergaberecht und Beschaffung.

Nach der Begrüßung durch den Gruppenvorsitzenden hält Jenny Tsynn, Rechtsanwältin bei der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft, den ersten Vortrag über den „Planerpool“ als Hilfsmittel im täglichen Kampf um Ressourcen. Im Anschluss spricht Linda Märtens, Senior Projektleiterin bei Drees & Sommer, darüber, wie Planer öffentliche Ausschreibungen wahrnehmen. Danach legt Sophie Schulz, Rechtsanwältin bei der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft, dar, warum Nachforderungen auch immer Herausforderungen sind. Zu guter Letzt stellt Ihnen der Gruppenvorsitzende Karsten Köhler noch ein aktuelles Highlight-Vergabeprojekt der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft vor.

Die Sitzung findet ab 16:30 Uhr in Präsenz statt. Kommen Sie vorbei, tauschen Sie sich aus und lernen Sie die VergabepraktikerInnen aus der Region Leipzig kennen.

Die Teilnahme ist wie immer kostenlos, eine Anmeldemöglichkeit und weitere Informationen zur Sitzung finden Sie unter folgendem Link im Mitgliederbereich des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW). Noch kein Mitglied im DVNW? Dann geht es hier zur Mitgliedschaft.




Inhouse-Schulungen der DVNW Akademie: Maßgeschneiderte Weiterbildung für Sie

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Sicheres Datenschutzversprechen trotz US-amerikanischer Mutter (VK Bund, Beschl. v. 13.02.2023 – VK2-114/22)

EntscheidungAbermals beschäftigt sich eine Vergabekammer mit der Frage, ob deutsche Tochterunternehmen mit US-amerikanischer Muttergesellschaft allein wegen dieser Verflechtung vom Vergabeverfahren auszuschließen sind. Klar und deutlich entschied die VK Bund, dass eine solche Verflechtung allein nicht zum Ausschluss führen kann, wenn das Tochterunternehmen ausreichend Sicherheiten für die konforme Leistungsausführung bietet.

Die Entscheidung enthält außerdem Ausführungen zu Rechtsanwälten als Beschaffungsdienstleistern und zu § 7 VgV sowie zu Quervergleichen in der Konzeptbewertung. Diese bleiben an dieser Stelle unberücksichtigt, da der Fokus auf die Frage des möglichen Ausschlusses von Datenverarbeitungsangeboten deutscher Tochterunternehmen mit US-amerikanischer Muttergesellschaften gelegt wird.

Leitsätze

  1. Grundsätzlich kann der öffentliche Auftraggeber davon ausgehen, dass ein Bieter seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllen wird. Erst bei konkreten Anhaltspunkten, kann er ergänzende Informationen einholen, um die Leistungsversprechen zu überprüfen.
  2. Die Einbindung einer in Deutschland ansässigen Tochtergesellschaft eines US-amerikanischen Unternehmens als Hosting-Dienstleisterin durch einen Bieter muss den Auftraggeber nicht zwangsläufig an der Erfüllbarkeit des Leistungsversprechens zweifeln lassen. (Anschluss an OLG Karlsruhe, Beschluss vom 07.09.2022 – 15 Verg 8/22).

Sachverhalt

Mehrere gesetzliche Krankenkassen führten ein europaweites Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb für den Abschluss von Rahmenvereinbarungen für technische Anwendungen für die elektronische Patientenakte durch. Das Verfahren war in zwei Lose aufgeteilt: Los 1 umfasste die Entwicklung und Überlassung von ePA-Anwendungen im Frontend und Backend, während Los 2 den Betrieb dieser Anwendungen sowie die Erfüllung delegierter Aufgaben beinhaltete. Die Verträge sollten am 1. Januar 2023 beginnen und am 30. Juni 2027 enden.

Es werden verschiedene Details und Anforderungen bezüglich des Datenschutzes in den Ausschreibungsunterlagen beschrieben. Es wird deutlich gemacht, dass die Betriebsumgebungen der ePA-Anwendungen in einem EU-Mitgliedstaat oder dem EWR liegen müssen. Es wird betont, dass sämtliche Leistungen, die einen Zugriff auf Sozialdaten oder personenbezogene Daten ermöglichen, innerhalb der EU, des EWR oder eines Drittstaats mit angemessenem Datenschutzniveau durchgeführt werden müssen. Zudem wird festgelegt, dass keine Daten an Dritte weitergegeben oder diesen Zugriff gewährt werden dürfen, es sei denn, es liegt entsprechende Weisung oder Zustimmung seitens der Auftraggeber vor. Die Leistungsbeschreibung enthielt detaillierte Vorgaben hinsichtlich der Datenschutzbestimmungen. Die Vertragsentwürfe enthielten außerdem Klauseln zum Datenschutz und zur Datensicherheit. Abgesichert war dies mit einer Vertragsstrafenregelung.

Die Antragstellerin und die Beigeladene nahmen am Teilnahmewettbewerb teil und gaben Angebote ab. Im Ergebnis entschied die Vergabekommission der Auftraggeberinnen auf der Grundlage des ausgearbeiteten Bewertungsvorschlags am 5. Dezember 2022, den Zuschlag an die Beigeladene zu erteilen. Mit Schreiben vom 9. Dezember 2022 informierten die Auftraggeberinnen die Antragstellerin gemäß § 134 GWB, sie beabsichtigten, die Zuschläge für die Lose 1 und 2 auf das Kombinationslos-Angebot der Beigeladenen zu erteilen.

Die Antragstellerin rügte die beabsichtigte Bezuschlagung, u.a. in Bezug auf die Datenschutzanforderungen und trug folgende Hauptargumente vor:

Nach der Antragstellerin bestände das Risiko, dass US-Geheimdienste Zugriff auf sensible Daten von Versicherten erhalten könnten, wenn diese von einem Unternehmen mit einem US-Mutterkonzern verarbeitet werden. Weiterhin, dass ein Verstoß gegen § 80 Abs. 2 SGB X vorliege, wenn ein deutsches Tochterunternehmen eines US-amerikanischen Mutterkonzerns Sozialdaten verarbeitet, ohne dass ein Angemessenheitsbeschluss nach Art. 45 DSGVO vorliegt. § 80 SGB X sei außerdem restriktiv, um auch abstrakte Risiken der Datenverarbeitung zu verhindern und Grundrechtsgefährdungen auszuschließen. Auch existieren nach Ansicht der Antragstellerin keine technischen und organisatorischen Maßnahmen oder Verschlüsselung die einen Datenabfluss in die USA verhindern, da US-Geheimdienste selbst bei Ende-zu-Ende-Verschlüsselung in der Lage wären, die Personen anhand ihrer Daten zu identifizieren. Die Antragstellerin bezweifelt zudem, dass die Zulassung der Nachunternehmerin und ihrer Komponenten der gematik GmbH Gewähr dafür biete, dass die Datenverarbeitung datenschutzkonform erfolge.

Die Auftraggeberinnen argumentieren, dass der von der Antragstellerin vorgebrachte Ausschlussgrund, das Angebot der Beigeladenen genüge nicht den datenschutzrechtlichen Anforderungen, nicht greife. Sie führen aus, dass die datenschutzrechtlichen Anforderungen lediglich Vertragsbedingungen seien und diese Ausgestaltung keine durch die Nachprüfungsinstanzen zu prüfenden, vergaberechtlichen Vorschriften verletze. Die Beigeladene habe die datenschutzrechtlichen Vorgaben erfüllt und biete hinreichende Garantien nach Art. 28 DSGVO

Begründetheit

Der Nachprüfungsantrag ist zulässig, aber unbegründet.

Innerhalb der Antragsbefugnis geht die VK Bund davon aus, dass nach dem Vortrag der Antragstellerin die von ihr behaupteten Unvereinbarkeiten mit § 80 Abs. 2 SGB X den Ausschlusstatbestand nach § 57 VgV verwirklichen soll und damit den gebotenen vergaberechtlichen Anknüpfungstatbestand darstelle. Dies begründe die Berufung auf die Einhaltung von „Bestimmungen über das Vergabeverfahren“ gemäß § 97 Abs. 6 GWB und genüge damit der Antragsbefugnis.

Die VK Bund führt hinsichtlich der Begründetheit aus, dass vergaberechtliche Verstöße weder hinsichtlich des datenschutzrechtlichen Vortrags der Antragstellerin festzustellen seien.

Ein Ausschluss des Angebots der Beigeladenen im Hinblick auf die von der Antragstellerin behaupteten datenschutzrechtlichen Verstöße kommt nach Ansicht der VK Bund nicht in Betracht. Denn die Auftragsdatenverarbeitung erfolgt nach dem Angebot der Beigeladenen ausschließlich in Deutschland. Bezüglich des Verstoßes gegen § 80 Abs. 2 SGB X greift nach Ansicht er VK Bund bereits die 1. Alternative, die Verarbeitung im Inland. Aus diesem Grund bedürfe es auch keines Angemessenheitsbeschlusses für die USA. Diesen bedürfte es nur, wenn eine Datenverarbeitung in den USA stattfände, was aufgrund der alleinigen Verarbeitung im Inland gerade nicht der Fall sei. Auf das Leistungsversprechen der Beigeladenen dürfen die Auftraggeberinnen vertrauen, denn es gäbe keinen Anlass, anzunehmen, die Nachunternehmerin könnte nicht in der Lage sein, ihre Zusagen einzuhalten, die Auftragsdatenverarbeitung dem Zweck der zugrunde liegenden Vereinbarung zwischen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen angebotsgemäß auszuführen. Die VK Bund führt aus, dass eine Art von eigenmächtigem, zwangsweisen Datenzugriff amerikanischer Behörden– ungeachtet dessen, wie wahrscheinlich ein solches Ansinnen in der Praxis überhaupt sein könne – mangels US-amerikanischer Staatsgewalt in Deutschland nicht realisierbar sei. Ebenso wenig könne die Unterauftragnehmerin der Beigeladenen über ihre Muttergesellschaft gezwungen werden, Daten an diese herauszugeben. Denn in der Übermittlung an die in den USA ansässige amerikanische Muttergesellschaft der Unterauftragnehmerin läge nicht nur eine im Verhältnis zu den Auftraggeberinnen weisungs- und damit vertragswidrige Datenherausgabe, sondern daneben ein Verstoß gegen § 80 Abs. 2 SGB X. Eine Datenübermittlung an die amerikanische Muttergesellschaft wäre nach dieser Vorschrift rechtswidrig, denn die Datenübermittlung stellt eine Form der Verarbeitung dar, die nur nach der 4. Variante von § 80 Abs. 2 SGB X zulässig sei. Nach der VK Bund wäre eine Weisung der Muttergesellschaft nach § 37 Abs. 1 GmbHG zur Datenherausgabe damit unbeachtlich für die deutsche Tochtergesellschaft. Würde – so die VK Bund – die Annahme vorherrschen, dass Daten, insbesondere grundrechtlich besonders schützenswerte Sozialdaten, bei Auftragsdatenverarbeitung durch ein europäisches Tochterunternehmen eines amerikanischen Konzerns aufgrund der amerikanischen Rechtslage nicht sicher sein, so bedürfte es der Schaffung einer gesonderten Rechtsgrundlage für einen Ausschluss dieser Unternehmen vom für alle Unternehmen ungeachtet ihrer Nationalität offenen und durch den Wettbewerbsgrundsatz geprägten Vergabewettbewerb, etwa in Gestalt einer EU-Verordnung. Etwa vergleichbar der EU-Verordnung 2022/576 vom 8. April 2022, mit der – aus völlig anderen Gründen – russische Unternehmen vom Vergabewettbewerb ausgeschlossen werden. Die von der Antragstellerin behauptete Gefährdungslage werde seitens der EU jedoch ganz offenbar völlig anders eingeschätzt, denn es ist ein neuer Angemessenheitsbeschluss in Bezug auf die Vergleichbarkeit der Datenschutzniveaus in den USA in Vorbereitung, dessen Inkrafttreten in Kürze erwartet wird. Die Thematik wird sich mit Inkrafttreten eines solchen Beschlusses ohnehin erledigen.

Einen Verstoß gegen § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV wegen Abweichens ihres Angebots von den Vergabeunterlagen lehnte die VK Bund ab. Zwar müsse ein Bieter auch für Defizite eines von ihm eingeschalteten Unterauftragnehmers einstehen und sich zurechnen lassen, wenn etwa der Unterauftragnehmer mit seinem Leistungsteil Vorgaben der Vergabeunterlagen nicht einhält, denn dieser Leistungsteil ist Bestandteil des Angebots des Bieters. Die Stellung der Unterauftragnehmerin als deutsches Tochterunternehmen einer US-amerikanischen Muttergesellschaft genügt diesen Anforderungen jedoch nicht:

Die Vergabeunterlagen verlangten als Bedingung für die Ausführung des Auftrags an mehreren Stellen die Einhaltung bestimmter Datenschutzvorgaben nebst Abgabe von darauf bezogenen Erklärungen. Diese Erklärungen wurden – nach Ansicht der VK Bund – eingereicht. Es wurde mithin eine vollständige Leistungserbringung im Inland zugesichert. Soweit die Antragstellerin argumentiere, dass die besondere Sensibilität der Sozialdaten, die gespeichert werden sollen, eine besondere Grundrechtsrelevanz haben, habe sie die eindeutig formulierten Tatbestandsmerkmale von § 80 Abs. 2 SGB X und von Art. 44 DSGVO missverstanden und wolle diese auf nicht erfasste Fallgestaltungen anwenden. Dies kreiere neue Tatbestände, die der Gesetzgeber nicht vorgesehen hat. Diese Erweiterung des Anwendungsbereichs der Vorschriften auf latente Zugriffsrisiken sei nach Ansicht der VK Bund nicht erforderlich. Stattdessen erfordere nach Ansicht der VK Bund die Grundrechtsrelevanz das Vorliegen eines Angemessenheitsbeschlusses nur bei Drittlandverarbeitung.

Nach Ansicht der VK Bund kann eine direkte, zwangsweise Durchsetzung von Datenherausgabeverlangen seitens US-amerikanischer Behörden gegenüber einer deutschen Unterauftragnehmerin nicht durchgesetzt werden, da die Unterauftragnehmerin als juristische Person nach deutschem Recht nicht US-amerikanischem Recht unterworfen sei und US-amerikanischen Behörden keine Staatsgewalt in Deutschland zukäme. Es gäbe kein spezifisches, im Vergleich zu Unternehmen ohne US-amerikanische Muttergesellschaft erhöhtes Zugriffsrisiko auf Sozialdaten. Wenn man auf US-geheimdienstliche Rechtsgrundlagen abstellen würde, müsse die Auftragsdatenverarbeitung von Sozialdaten gänzlich unterbleiben, um einen Zugriff auf Basis dieser Rechtsgrundlagen vollkommen auszuschließen.

Die VK Bund erkennt zwar die theoretische Möglichkeit an, dass US-Behörden aufgrund des US-Cloud Acts die Herausgabe von Daten verlangen kann und die US-Muttergesellschaft theoretisch eine Weisung an die Geschäftsführung der deutschen Unterauftragnehmerin zur Datenherausgabe erteilen könnte. Allerdings habe sich im konkreten Fall die Unterauftragnehmerin bereits mit der Abgabe aller geforderten Datenschutzerklärungen verbindlich dazu verpflichtet, entsprechenden Weisungen nicht Folge zu leisten. Der theoretische Zielkonflikt bestehe somit nicht. Auch gesellschaftsrechtlich gäbe es keinen Zwang für die Unterauftragnehmerin, einer solchen Weisung zu folgen. Eine Weisung, die Daten herauszugeben, wäre mangels Angemessenheitsbeschluss rechtswidrig und unbeachtlich. Auch § 80 Abs. 2 SGB X erlaube die Auftragsverarbeitung von Sozialdaten unter bestimmten Alternativen: so (1) im Inland, (2) in der EU (3) im EWR, (4) in einem Drittland, für das ein Angemessenheitsbeschluss vorliegt. Da die Unterauftragnehmerin vorliegend eine Verarbeitung im Inland und damit Variante (1) vorsieht, ist irrelevant, dass kein Angemessenheitsbeschluss in Bezug auf die USA vorliege; da Variante (1) bereits griffe, müsse nicht noch zusätzlich Variante (4) vorliegen.

Dennoch bestehe nach der VK Bund stets ein generelles Restrisiko, wonach ein Aufragnehmer seine Verpflichtungen nicht einhält. Der pauschale Ausschluss aller Unternehmen mit US-amerikanischen Muttergesellschaften wäre nach Ansicht der VK Bund ein schwerwiegender und diskriminierender Eingriff in ihre Rechte, da die Unternehmen keine Verantwortung für die Rechtslage in den USA tragen und keinen Einfluss darauf haben. Das vorhandene Vergaberecht erlaube keinen Ausschluss aufgrund dieser Sachlage. Es existiere keine gesonderte Rechtsgrundlage für einen Ausschluss, und grundrechtliche Schutzpflichten können sie nicht ersetzen.

Auch ein Ausschluss der Beigeladenen als Unternehmen nach § 128 Abs. 1 GWB komme nicht in Betracht, solange sie die geltenden rechtlichen Bestimmungen einhalte und nicht bereits vor Auftragserteilung feststeht, dass sie gegen Datenschutzbestimmungen verstoßen werden (vergleichbar etwa Art. 5 k der EU-VO 2022/576 zu russischen Unternehmen). Die vorbereitende Executive Order der US-Regierung und der Entwurf eines neuen Angemessenheitsbeschlusses der EU-Kommission, die Bedenken aus dem Schrems II-Urteil des EuGH begegnen, führt nicht zu einer Andersbeurteilung. Es verbliebe daher dabei, dass das Risiko des Datenabflusses als nicht relevant eingestuft würde..

Fazit

Auch die VK Bund erkennt einmal mehr die Souveränität der Europäischen Union an. Europäische Tochterunternehmen unterliegen nicht per se US-amerikanischen Recht nur, weil sie in einen US-amerikanischen Konzernverbund verflochten zu sein scheinen.

Das Risiko des Abfließens von Daten in die USA ist natürlich abstrakt gegeben. Im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens spielt es jedoch nur dann eine Rolle, wenn konkrete Normen des Vergabeverfahrens betroffen sind. Wie dieser Fall eindringlich zeigt, kann mittels konkreter Ausgestaltung der Leistungsbeschreibung und der Vergabeunterlagen das ins Feld geführte „latente Risiko“ eines Datenabflusses verhindert und unterbunden werden. Die VK Bund stellt eindringlich klar, dass abgegebene Leistungsversprechen und Garantien der Bieter rein theoretisch bestehende Möglichkeiten des Datenabflusses nicht zum Ausschluss führen können. Zwar erkennt die VK Bund die Möglichkeit an, dass US-Behörden gemäß dem US-Cloud Act die Herausgabe von Daten verlangen können, jedoch hat die deutsche Unterauftragnehmerin bereits verbindlich erklärt, solchen Weisungen nicht nachzukommen. Richtig ist außerdem, dass kein gesetzlicher Zwang besteht, daten heruaszugeben. Deutlich stellt die VK Bund heraus, dass eine Weisung zur Datenherausgabe daher rechtswidrig und unbeachtlich ist, da keine Angemessenheitsbeschlüsse für die USA vorliegen. Die VK Bund sucht damit nahtlos den Anschluss an die Entscheidung des OLG Karlsruhe (Beschl. v. 07.09.2022 – 15 Verg 8/22), welches bereits letztes Jahr betonte, dass ein latentes Risiko des Abflusses von Daten nicht als für einen Ausschluss ausreichend erachtete.

Eingehend beschäftigt sich die VK Bund auch mit dem Thema, wann welches Datenschutzniveau bei Sozialdaten bei den verschiedenen Varianten des § 80 Abs. 2 SGB X gegeben sein muss. Die VK Bund macht deutlich, dass ein Angemessenheitsbeschluss dann nicht notwendig ist, wenn die Verarbeitung im Inland (1. Variante) bereits zugesagt wurde. Diese Einschätzung basiert auf der konkreten Norm, die Abstufungen hinsichtlich des Datensicherungsniveaus anhand des Verarbeitungsortes der Daten vornimmt. Soweit solche Normen außerhalb des SGB existieren (bspw. für die Verarbeitung von Gesundheitsdaten im Krankenhausbereich) ist der Auftraggeber gut beraten, auch solche zu analysieren und die Vergabeunterlagen inkl. Verträgen entsprechend diesen auszugestalten.

Die VK Bund betont, dass der Auftraggeber konkrete Maßnahmen ergreifen kann, um den Datenzugriff US-amerikanischer Muttergesellschaften ausschließen zu können. So bspw. die Zusicherung des EU-Tochterunternehmen, dass Daten auf Servern im Inland gespeichert und verarbeitet werden und die gesamte Leistungserbringung im Inland erfolgt. Weiter die Garantie, des EU-Tochterunternehmens, Daten nicht an Dritte, wie beispielsweise ausländische Sicherheits- oder Geheimdienstbehörden, herauszugeben. Auch die Verpflichtung des Bieters, Weisungen der Muttergesellschaft zur Datenweitergabe nicht zu befolgen, führt zu einer Absicherung. Im konkreten Fall wurde dies außerdem durch Regelungen zu Vertragsstrafen für den Fall schuldhafter Verletzungen der datenschutzrechtlichen Vorgaben abgesichert. Einem Ausschluss kann so vorgebeugt werden.

Anzumerken ist noch, dass die beim OLG Düsseldorf zunächst eingelegte sofortige Beschwerde nicht weiter verfolgt wurde.




DVNW Wochenrückblick

Diese Themen haben die DVNW-Mitglieder diese Woche unter anderem diskutiert:

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Regionalgruppe Hannover: Sitzung am 20. Juni

Am 20.06.23 findet die 2. Sitzung der Regionalgruppe Hannover des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW) vor Ort in Hannover statt, zu der wir Sie recht herzlich einladen.

Unter der Leitung der Vorsitzenden Dr. Franziska Klaß-Dingeldey, Fachanwältin für Vergaberecht bei der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, kommt die Regionalgruppe Hannover zusammen, um sich über verschiedene Aspekte der Beschaffung auszutauschen und zu netzwerken.

Neben Diskussionen und Austausch mit anderen Einkäufern und Einkäuferinnen erwarten Sie zwei praxisnahe Vorträge. Sabine Hillmer von der IHK Hannover spricht über die Vorteile durch Präqualifizierung bei der Führung von Eignungsnachweisen. Außerdem gibt Dipl. Sozialwirtin Monika Missalla-Steinmann einen Überblick über die aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen bei nachhaltiger Beschaffung.

Kommen Sie vorbei, tauschen Sie sich aus und lernen Sie die VergabepraktikerInnen aus der Region Hannover kennen.

Die Teilnahme ist wie immer kostenlos, eine Anmeldemöglichkeit und weitere Informationen zur Sitzung finden Sie unter folgendem Link im Mitgliederbereich des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW). Noch kein Mitglied im DVNW? Dann geht es hier zur Mitgliedschaft.




Staatsdefizit von 4,25 Prozent erwartet

Der Stabilitätsrat erwartet für das Jahr 2023 ein gesamtstaatliches Defizit von 4,25 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Das gesamtstaatliche Defizit sei in hohem Maße auf die temporären Maßnahmen zur Krisenbewältigung zurückzuführen, heißt es in dem von der Bundesregierung als Unterrichtung (20/6950) vorgelegten Bericht des Stabilitätsrates gemäß Paragraf 9 des Stabilitätsratsgesetzes.

Darin wird für das laufende Jahr mit einem Finanzierungsdefizit des Öffentlichen Gesamthaushalts (Kernhaushalte von Bund, Ländern, Gemeinden sowie deren jeweilige Extrahaushalte) von 268 Milliarden Euro gerechnet. Damit würde das Defizit um rund 136 Milliarden Euro höher ausfallen als im Jahr 2022. Es wird allerdings auch angenommen, dass das Ergebnis für die öffentlichen Haushalte je nach Entwicklung der Energiepreise deutlich günstiger ausfallen könnte. Nach Ansicht des Stabilitätsrates muss die Finanzpolitik nach der notwendigen Stabilisierung wieder verstärkt die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte in den Blick nehmen. Hierzu gehöre auch die Rückführung hoher Schuldenstandsquoten.

Der strukturelle Finanzierungssaldo soll in diesem Jahr bei -3,25 Prozent liegen. Beim strukturellen Finanzierungssaldo wird der gesamtstaatliche Finanzierungssaldo um konjunkturelle und bestimmte Einmaleffekte bereinigt. Laut Projektion soll der strukturelle Finanzierungssaldo bis zum Jahr 2026 auf rund -0,75 Prozent des BIP zurückgehen. Deutschland halte damit die Vorgabe des geltenden Regelwerks der europäischen Haushaltsüberwachung ein, das strukturelle Defizit als Richtwert um 0,5 Prozentpunkte pro Jahr abzubauen, heißt es in dem Bericht. Gleichzeitig soll die Schuldenstandsquote bis zum Jahr 2026 auf 65,5 Prozent des BIP zurückgeführt werden.

Der Bericht enthält außerdem Angaben zur Finanzentwicklung auf den einzelnen staatlichen Ebenen.

Quelle: Bundestag




DVNW Akademie: Aktuelle (Online-)Seminare

Seminar

Hier finden Sie die aktuellen Online- und Präsenzseminare zu Vergaberecht und öffentlicher Beschaffung. Im Online-Seminar „Fehlende Unterlagen im Angebot – können diese nachgefordert werden?“ erfahren Sie, welche Möglichkeiten Sie bei der Nachforderung haben und welche Grenzen Sie beachten müssen.

Die Online- und Präsenzseminare der DVNW Akademie eignen sich als Fortbildungsnachweis gem. § 15 FAO für RechtsanwältInnen, die den Fachanwaltstitel für Vergaberecht tragen bzw. erwerben wollen. In jedem Fall erhalten alle Teilnehmenden ein Zertifikat.


06.06.2023 | Online
Rechtsschutz im Vergabeverfahren
Der sichere Umgang mit Rügen und Nachprüfungsanträgen
ReferentInnen: Aline Fritz, Fachanwältin für Vergaberecht, FPS Fritze Wicke Seelig Partnerschaftsgesellschaft von Rechtsanwälten mbB;
Tim Kuhn, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Vergaberecht, FPS Fritze Wicke Seelig Partnerschaftsgesellschaft von Rechtsanwälten mbB
>> Informationen und Anmeldung


07.06.2023 | Online
Grundkurs Vergaberecht für Auftraggeber
Für Neu- und Wiedereinsteiger
Referent: Hermann Summa, Stellvertretender Vorsitzender, Vergabesenat, Oberlandesgericht Koblenz a.D.
>> Informationen und Anmeldung


09.06.2023 | Online
Die UVgO – Die Vergabe von Liefer- und Dienstleistungen sowie freiberuflichen Leistungen unterhalb der Schwellenwerte
Rechtssichere und erfolgreiche VergabeDr. Oskar Maria Geitel, Partner, Fachanwalt für Vergaberecht, Bau- und Architektenrecht, Kapellmann und Partner Rechtsanwälte mbBJan Morgenstern, Rechtsanwalt und Fachanwalt für IT-Recht, Datenschutzbeauftragter (IHK), MORGENSTERN Rechtsanwaltsgesellschaft mbH;
Leif-Holden Dimitriadis, Abteilungsleiter Zentraler Einkauf, WBM Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte mbH
>> Informationen und Anmeldung



12.06.2023 | Online
Beschaffungskompetenz stärken – Der Einstieg in den öffentlichen Einkauf
Grundlagenwissen für neue Mitarbeitende
Referentinnen: Karina Herzog, Consultant Public Management, Syncwork AG;
Nora Carlotta Gräwe, Consultant Public Management, Syncwork AG
>> Informationen und Anmeldung


13.06.2023 | Online
Losweise Vergabe vs. Gesamtausschreibung?
Grenzen und Möglichkeiten für öffentliche Auftraggeber
Referent: Dr. Moritz Philipp Koch, Regierungsdirektor und Leiter „Sourcing“, Landesbetrieb Information und Technik Nordrhein-Westfalen (IT.NRW)
>> Informationen und Anmeldung


13.06.2023 | Online
VSVgV – Vergabe von verteidigungs- und sicherheitsspezifischen Aufträgen
Grundzüge und Besonderheiten
Referenten: Uwe-Carsten Völlink, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Vergaberecht, Partner, HEUSSEN Rechtsanwaltsgesellschaft mbH;
Mark Münch LL.M., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Informationstechnologierecht, Partner, HEUSSEN Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
>> Informationen und Anmeldung


13.06.2023 | Online
Die Vergabe von Architekten- und Ingenieurleistungen
Vergabe- und vertragsrechtliche Besonderheiten
ReferentInnen: Dr. Rut Herten-Koch, M.A., Fachanwältin für Verwaltungsrecht und Vergaberecht, Partnerin, Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH;
Stephan Finck, Rechtsanwalt, Partner, Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
>> Informationen und Anmeldung


14.06.2023 | Online
Vor dem Vergabeverfahren die richtigen Weichen stellen, aber wie?
Was Auftraggeber im Vorfeld einer Beschaffung beachten sollten – Verfahrensvorbereitung und Markterkundung
Referent: Dr. Alexander Csaki, Fachanwalt für Vergaberecht, Partner, Bird & Bird LLP
>> Informationen und Anmeldung


14.06.2023 | Berlin
EVB-IT verstehen und anwenden
Einblick in die Systematik und Hinweise zur praktischen Ausgestaltung für die erfolgreiche IT-Beschaffung
ReferentInnen:Thomas H. Fischer, Rechtsanwalt, ARNECKE SIBETH DABELSTEIN Rechtsanwälte Steuerberater Partnerschaftsgesellschaft mbB
>> Informationen und Anmeldung


15.06.2023 | Online
Ausnahmsweise ohne Vergaberecht?
Rechtssichere Anwendung der Fallgruppen und Dokumentation
Referentin: Sonja Scharnhorst, Referatsleiterin des Referats Vergabe im Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen
>> Informationen und Anmeldung


15.06.2023 | Online
Aufhebung und Rückversetzung im Vergabeverfahren
Möglichkeiten und Grenzen
Referentin: Martina Boltz, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Vergaberecht, HEUSSEN Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
>> Informationen und Anmeldung


Details und die Online-Buchung finden Sie auf der jeweiligen Seminarseite. Für Ihre Anreise mit der Bahn empfehlen wir die Buchung über unser Kooperationsangebot mit der Deutschen Bahn. Einen Link für die Buchung erhalten Sie mit der Seminaranmeldung.

Das gesamte und fortlaufend aktualisierte Seminarangebot der DVNW Akademie finden Sie immer unter

www.dvnw-akademie.de




Speedvergabe im Höchsttempo: Wie kann die öffentliche Beschaffung in Krisenzeiten auf Überholspur gehen?

Vergabeverfahren sind oft langwierig und werden immer komplexer“: Mit diesem Vorurteil wird regelmäßig der öffentliche Einkauf konfrontiert (s. Bundesregierung will Beschaffung für Bundeswehr beschleunigen (handelsblatt.com) ebenso: Peiting setzt bei Vergaben auf externe Hilfe durch Zweckverband Kommunale Dienste Oberland (merkur.de), ebenso: Griesheim erprobt neues Vergabeverfahren für Kita (faz.net). Dabei sind es oft nicht die gesetzlichen Verfahrensfristen, die ein Vergabeverfahren langwierig erscheinen lassen, sondern eher der Aufwand für die Vorbereitung und Durchführung eines Vergabeverfahrens.

In der Tat verfügt das bestehende Vergaberecht über diverse Instrumente, um Vergabeverfahren tatsächlich und in der Praxis schneller und effektiver zu gestalten; maßgeblich ist die richtige Anwendung dieser.

Eine funktionierende Umsetzung von Beschleunigungsgedanken gewinnt besonders an Bedeutung in Krisensituationen. Die jüngsten Krisen haben gezeigt, welche Bedeutung dem Staat und dem öffentlichen Sektor in Krisenzeiten zukommt. Doch Staat und öffentlicher Sektor bewältigen Krisen nicht allein. Vielmehr erfordern Krisen auch enorme Kraftanstrengungen der Gesellschaft und der privaten Wirtschaft. Krisensituationen stellen den öffentlichen Einkauf als eine entscheidende Schnittstelle, an der Staat und private Wirtschaft und Märkte zusammenwirken und in Krisensituationen „funktionieren“ müssen.

Seien es:

  • die Maßnahmen des Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz – BwBBG (betreffend die Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr) anlässlich des Ukraine-Kriegs,
  • weitere Maßnahmen anlässlich des Ukraine-Kriegs zur beschleunigten Beschaffung von neuem Bundeswehr-Gerät („Pistorius-Turbo“, Bundeswehr: Kommt der Pistorius-Turbo bei der Beschaffung? – ZDFheute)
  • die Maßnahmen des LNG-Beschleunigungsgesetzes – LNGG (betreffend notwendige Infrastruktur für Einsatz von Flüssigerdgas) in der Energie-Krise,
  • die Impfstoff- und Masken-Beschaffung in der Corona-Krise,
  • oder der Erlass von Stoffpreisgleitklauseln im Bereich Bauen und Infrastruktur aufgrund volatiler Preis- und Lieferkettenentwicklungen.

Der folgende Beitrag skizziert – ausgehend von einem definierten „Krisen“-Begriff im Vergaberecht (A.) – wesentliche Ansprüche und Anforderungen an die öffentliche Beschaffung in Krisensituationen, insbesondere anhand von Erfahrungen aus der Corona-Pandemie, (B.), zeigt im Anschluss anhand von Beispielen den Umgang von Gesetzgebung und Praxis der öffentlichen Beschaffung mit Krisensituationen (insbesondere anhand der Beispiels LNGG und BwBBG, (C.) und fasst besonders in Krisensituationen relevante vergaberechtliche Instrumente zusammen (D.).

A. Krise und vergaberechtlicher „Krisen“-Begriff

Um sich den Ansprüchen und Anforderungen an die öffentliche Beschaffung in Krisensituationen zu nähern, bedarf es einer Einordnung des „Krisen“-Begriffs.

Im Kontext der öffentlichen Beschaffung existiert sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene bereits seit 2009 ein definierter „Krisen“-Begriff. So ist „Krise“ nach Art. 1 Nr. 10 der Richtlinie 2009/81/EG vom 13.  Juli 2009 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe bestimmter Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit (Richtlinie 2009/81/EG) im Kontext des Sondervergaberechts für die Bereiche Verteidigung und Sicherheit (vgl. auch § 4 Abs. 1 VSVgV):

„jede Situation in einem Mitgliedstaat oder einem Drittland, in der ein Schadensereignis eingetreten ist, welches deutlich über die Ausmaße von Schadensereignissen des täglichen Lebens hinausgeht und dabei Leben und Gesundheit zahlreicher Menschen erheblich gefährdet oder einschränkt, eine erhebliche Auswirkung auf Sachwerte hat oder lebensnotwendige Versorgungsmaßnahmen für die Bevölkerung erforderlich macht; eine Krise liegt auch vor, wenn das Eintreten eines solchen Schadensereignisses als unmittelbar bevorstehend angesehen wird; bewaffnete Konflikte und Kriege sind Krisen im Sinne dieser Richtlinie.“

Die im vorstehenden Zitat hervorgehobenen Merkmale einer Krise lassen sich zwar (zumindest teilweise) auch auf Bereiche außerhalb von Verteidigung und Sicherheit übertragen, außerhalb des Sondervergaberechts für die beiden vorgenannten Bereiche existieren jedoch keine konkreten Vergabevorschriften mit „Krisen“-Begriff.

Bereits an dieser Stelle ist allerdings festzuhalten, dass selbstverständlich auch außerhalb des Sondervergaberechts für Verteidigung und Sicherheit vergaberechtlichen Vorschriften und vor allem praktische Instrumente und Methoden bestehen, die in Krisensituationen eine besondere Bedeutung erlangen und besonderer Aufmerksamkeit in der praktischen Anwendung bedürfen. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass Krisen regelmäßig dadurch gekennzeichnet sind, dass sie schnelle und wirksame Reaktionen erfordern. Schnelligkeit und Wirksamkeit von Reaktionen des Staates und der öffentlichen Hand hängen dabei maßgeblich auch von der öffentlichen Beschaffung von Waren, Liefer-, Dienst- und Bauleistungen und den dort angewandten Instrumenten und Methoden ab. Beispielsweise kann die Wahl eines ungeeigneten, beispielsweise zu langsamen Vergabe- oder Beschaffungsprozesses gerade in Krisensituationen dazu beitragen, dass Schäden der oben definierten Art nicht (ausreichend) vermieden bzw. reduziert werden.

B. Ansprüche und Anforderungen an die öffentliche Beschaffung in Krisensituationen

Ansprüche und Anforderungen an die öffentliche Beschaffung steigen aktuell bereits grundsätzlich, aber in Krisensituationen im Besonderen.

In der Corona-Krise wurde deutlich, dass es sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene das Bedürfnis, wenn nicht sogar die Notwendigkeit gab, die öffentliche Beschaffung auf das geltende Vergaberecht und die danach zur Verfügung stehenden Instrumente und Methoden besonders aufmerksam zu machen.

In den „Leitlinien der Europäischen Kommission zur Nutzung des Rahmens für die Vergabe öffentlicher Aufträge in der durch die COVID-19-Krise verursachten Notsituation“ (Mitteilung der Kommission (2020/C 108 I/01) vom 01.04.2020) heißt es beispielsweise:

„Öffentlichen Auftraggebern stehen mehrere Möglichkeiten offen:

    • Erstens können sie im Fall von Dringlichkeit von der Möglichkeit Gebrauch machen, die Fristen für die Beschleunigung offener oder nichtoffener Verfahren erheblich zu verkürzen.
    • Sollte diese Flexibilität nicht ausreichen, kann ein Verhandlungsverfahren ohne Veröffentlichung in Betracht gezogen werden. Schließlich könnte sogar eine Direktvergabe an einen vorab ausgewählten Wirtschaftsteilnehmer zulässig sein, sofern dieser als einziger in der Lage ist, die erforderlichen Lieferungen innerhalb der durch die äußerste Dringlichkeit bedingten technischen und zeitlichen Zwänge durchzuführen.
    • Darüber hinaus sollten öffentliche Auftraggeber auch in Erwägung ziehen, alternative Lösungen zu prüfen und sich am Markt zu beteiligen.“

Die besondere Bedeutung der Interaktion zwischen Staat und öffentlicher Hand einerseits und den Märkten der privaten Wirtschaft andererseits wird in den Leitlinien besonders hervorgehoben:

„Öffentliche Auftraggeber sind nach dem EU-Rechtsrahmen voll und ganz befugt, sich auf dem Markt zu betätigen und Vermittlungsaktivitäten zu übernehmen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit dem Markt zu interagieren, um das Angebot zu stimulieren, wobei sich beim mittelfristigen Bedarf die Anwendung von Eilverfahren als verlässlicheres Mittel erweisen könnte, ein besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis und einen breiteren Zugang zu verfügbaren Bezugsquellen zu erzielen. Überdies bestehen folgende Möglichkeiten:

    • Öffentliche Auftraggeber können innovative digitale Instrumente nutzen, um breites Interesse bei den Wirtschaftsakteuren zu wecken, die alternative Lösungen anbieten können. So könnten sie beispielsweise Hackathons für neue Konzepte durchführen, die die Wiederverwendung von Schutzmasken nach der Reinigung ermöglichen, oder für Ideen für einen wirksamen Schutz des medizinischen Personals oder aber für Möglichkeiten zum Aufspüren des Virus in der Umgebung usw.
    • Öffentliche Auftraggeber können auch enger mit Innovationsökosystemen oder Unternehmernetzwerken zusammenarbeiten, die Lösungen anbieten könnten.“

Auch auf nationaler Ebene reagierte die öffentliche Hand auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene mit Rundschreiben und Erlassen, die Hinweise zur praktischen Anwendung und Nutzung bereits bestehender vergaberechtlicher Vorschriften sowie Instrumente und Methoden enthielten. Im Rundschreiben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie „Rundschreiben zur Anwendung des Vergaberechts im Zusammenhang mit der Beschaffung von Leistungen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2“ vom 19.03.2020 hieß es zur Ausweitung bestehender Verträge beispielsweise:

  • „Nach § 132 Abs. 2 GWB besteht zudem die Möglichkeit, bereits bestehende Verträge im Einvernehmen der Vertragsparteien zu verlängern und wertmäßig auszuweiten, ohne dass hierfür ein neues Vergabeverfahren durchgeführt werden muss.
  • Zur Bewältigung kurzfristiger Beschaffungsbedarfe kommt insbesondere eine Vertragsänderung, -verlängerung und/oder -ausweitung nach § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB in Betracht. Über § 47 Abs. 1 UVgO gilt diese Vorschrift auch für die Vergabe von Liefer- und Dienstleistungen unterhalb der EU-Schwellenwerte.“

Praktisch zeigte sich insbesondere in der Corona-Pandemie, worauf es ad-hoc seitens der öffentlichen Beschaffung in der Krisensituation im Besonderen ankam:

  • Identifizierung und Priorisierung von Bedarfen, insbesondere unmittelbare krisenbedingte Bedarfe (z.B. medizinische Ausstattung und Ausrüstung), Lagerhaltung, Logistik
  • Intelligente Bedarfsdeckung: Was wird wann wo und wie gebraucht? Strategische Beschaffung, z.B. Bündelungsstrategien, Nutzung bestehender (Rahmen-)Verträge, Anpassung/Änderung bestehender (Rahmen-)Verträge.
  • Anbietermärkte: Welchen Einfluss hat die Krise auf den Anbietermarkt? Nachhaltige Leistungsfähigkeit und Sensibilität im Umgang mit der Krisensituation (sowohl auf Auftraggeber- als auch auf Bieterseite)
  • Beschleunigung von Beschaffungs- und Vergabeprozessen: vereinfachte Vergabeverfahrensarten und Fristenverkürzungen
  • Beschaffung remote“ und eVergabe: Gewährleistung von ausreichender und sicherer IT- und eVergabe-Infrastruktur, um operative Handlungsfähigkeit sicherzustellen

Teilweise gab es erhebliche Kritik am praktischen Vorgehen der öffentlichen Hand bei besonders relevanten Beschaffungsvorgängen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, erklärte am 10.02.2021 in ihrer Rede vor dem Plenum des Europäischen Parlaments zum aktuellen Stand der COVID-19-Impfstrategie der EU (Pressemeldung) u.a.:

„Und dennoch ist es eine Tatsache, dass wir heute beim Kampf gegen das Virus noch nicht da sind, wo wir sein wollen. Wir waren spät dran bei der Zulassung. Wir waren zu optimistisch bei der Massenproduktion. Und vielleicht waren wir uns auch zu sicher, dass das Bestellte tatsächlich pünktlich geliefert wird. Wir müssen uns fragen, warum das so ist und welche Lehren wir daraus ziehen können.“

In Medien vielfältig diskutiert wurde auch das in der Bundesrepublik Deutschland gewählte sog. Open-House-Verfahren zur Beschaffung von FFP2-Masken (bspw. Tagesschau.de).

Die für die Nachprüfung von öffentlichen Beschaffungsvorgängen zuständigen Vergabenachprüfungsinstanzen hatten sich im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie mit unterschiedlichen pandemiebedingten Beschaffungsgegenständen zu befassen:

  • Das Land Mecklenburg-Vorpommern nahm im Wege einer Direktvergabe (ohne Wettbewerb) eine Beschaffung der sog. „Luca-App“ vor. Nach einer Entscheidung des OLG Rostock aus November 2021 war dieses Vorgehen vergaberechtswidrig und der geschlossene Vertrag daher unwirksam:

Auch in den Fällen der so genannten Notvergabe gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV hat der öffentliche Auftraggeber so viel Wettbewerb wie jeweils möglich sicherzustellen; er muss daher regelmäßig mehrere Angebote einholen und so mindestens „Wettbewerb light“ initiieren. Tut er dies nicht, liegt ein Ermessensfehler vor. Der solchermaßen ermessensfehlerhaft ohne jeden Wettbewerb dem einzig angesprochenen Bieter erteilte Direktauftrag ist gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB unwirksam.“
(OLG Rostock, Beschl. v. 11.11.2021 – 17 Verg 4/21)

  • Den Abschluss eines Vertrages über Unterstützungsleistungen bei der Durchführung der Verträge über die Beschaffung von Schutzausrüstung auf Bundesebene im Wege einer solchen Direktvergabe hielt die VK Bund im August 2020 für vergaberechtskonform:

Der am 15. Mai 2020 … geschlossene Betreibervertrag ist nicht nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB für unwirksam zu erklären, da es aufgrund Gesetzes gestattet war, den Auftrag ohne vorherige Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union zu vergeben. Die Voraussetzungen von § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV lagen vor, so dass die Ag die Leistungen zur Abwicklung der Verträge zwecks Beschaffung von Schutzausrüstung, insbesondere von Schutzmasken, im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben durfte.
(VK Bund, 28.08.2020 – VK 2-57/20)

Die vorstehend skizzierten Erfahrungen aus der Corona-Krise zeigen, dass öffentliche Beschaffung diversen Ansprüchen und Anforderungen ausgesetzt ist. Dies gilt besonders in Krisensituationen. Im zusammengefassten Überblick lassen sich Ansprüche und Anforderungen an die öffentliche Beschaffung heute grundsätzlich, aber insbesondere auch in Krisenzeiten in vier wesentliche Dimensionen bzw. Fokusbereiche einteilen:

C. Umgang von Gesetzgebung und Praxis der öffentlichen Beschaffung mit Krisensituationen

1. Anhebung von Wertgrenzen für Beschränkte Ausschreibungen, Verhandlungsvergaben und Freihändige Vergaben

Blickt man über die letzten fast 15 Jahre zurück, zeigt sich, dass für den Bereich der öffentlichen Beschaffung eine Maßnahme auf gesetzgeberischer bzw. regulatorischer Ebene wiederholt in Krisensituationen angewendet wird: Die Anhebung der sog. „Wertgrenzen“ für Beschränkte Ausschreibungen, Verhandlungsvergaben und Freihändige Vergaben im sog. „Unterschwellenbereich“, d.h. in dem Bereich, in dem es um Beschaffungsvorgänge und Auftragsvergaben unterhalb der jeweils geltenden EU-Schwellenwerte geht, ab denen eine Pflicht zur europaweiten Ausschreibung besteht.

Im Januar 2009 wurde mit dem sog. „Konjunkturpaket II“ (sog. „Pakt für Beschäftigung und Stabilität in Deutschland zur Sicherung der Arbeitsplätze, Stärkung der Wachstumskräfte und Modernisierung des Landes) ein Konjunkturprogramm in Deutschland beschlossen, um die Auswirkungen der internationalen Finanzkrise auf die Wirtschaft zu mildern und die Rezession im Winterhalbjahr 2008/09 zu überwinden. Das Konjunkturpaket II enthielt u.a. einen Beschluss zur „Beschleunigung von Investitionen durch Vereinfachung des Vergaberechts“, mit dem vor allem eine Anhebung der Wertgrenzen (Bei Bauleistungen: Beschränkte Ausschreibung bis EUR 1 Mio., Freihändige Vergabe bis EUR 100.000,00. Bei Liefer- und Dienstleistungen: Beschränkte Ausschreibung und Freihändige Vergabe bis EUR 100.000,00) verbunden war, bis zu denen – in Abweichung vom Grundsatz der Öffentlichen Ausschreibung – als vereinfachte und vermeintlich schnellere Vergabeverfahrensarten Beschränkte Ausschreibungen und Freihändigen Vergaben bei der Vergabe von Liefer-, Dienst- und Bauleistungen zulässig waren.

Der Bundesrechnungshof hat in seinem „Bericht über die Auswirkungen der Vergaberechtslockerungen im Rahmen des Konjunkturpakets II auf die Beschaffung von Lieferungen und Leistungen durch die Bundesverwaltung“ vom 11.08.2011 u.a. festgestellt:

„Die Vergaberechtslockerungen haben zu Einschränkungen des Wettbewerbs und der Transparenz geführt, die in keinem angemessenen Verhältnis zu ihren wenigen Vorteilen stehen. Dabei haben fehlende Vergleichszahlen einen konkreten Vorher-Nachher-Vergleich erschwert.“

Ungeachtet dessen wird das Instrument der Anhebung von Wertgrenzen wiederholt bemüht, um für die öffentliche Beschaffung auf Krisensituationen zu reagieren. So wurde dieses Instrument auch in der Corona-Pandemie oder in den von Flutkatastrophen betroffenen Ländern ebenfalls eingesetzt.

Kurios ist bei diesem Instrument, dass sich die konkreten Wertgrenzenanhebungen vielfach von Bundesland zu Bundesland, teilweise sogar zwischen Landes- und kommunaler Ebene, teilweise zwischen verschiedenen Selbstverwaltungskörperschaften auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. jedenfalls nach Auftragsarten (Bauauftrag oder Liefer-/Dienstleistungsauftrag) unterscheiden. Für die Anbieter, die sich an öffentlichen Ausschreibungen beteiligen, entsteht dadurch ein – auch durch die verschiedenen „krisenbedingten“ Wertgrenzenanhebungen der letzten fast 15 Jahre – „Flickenteppich“ der Wertgrenzen.

Zu beachten ist bei Wertgrenzenregelungen jedenfalls stets, dass diese „nur“ ein Grund sind um zu begründen, warum – abweichend vom Grundsatz der Öffentlichen Ausschreibung oder der Beschränkten Ausschreibung mit Teilnahmewettbewerb – zugunsten einer Beschränkten Ausschreibung, Verhandlungsvergabe oder Freihändigen Vergabe als Vergabeverfahrensart entschieden wird. Die geltenden Vergabevorschriften im Unterschwellenbereich (§ 3a VOB/A Abschnitt 1 für Bauleistungen, § 8 UVgO für Liefer- und Dienstleistungen) lassen die Beschränkte Ausschreibung, Verhandlungsvergabe oder Freihändige Vergabe als Vergabeverfahrensart auch aus anderen Gründen (teilweise sogar bei Überschreitung der jeweils geltenden Wertgrenzen) zu. Will ein öffentlicher Auftraggeber auf diese Möglichkeit – z.B. auch aufgrund einer Krisensituation – zurückgreifen, muss er hierzu jeweils die einschlägigen Tatbestände der Vorschriften prüfen und bewerten.

2. „Beschleunigungsgesetze“ LNGG und BwBBG

Die Energie-Krise und der Ukraine-Krieg haben krisenbedingt sogar zu Anpassungen des geltenden Vergaberechts auf gesetzlicher Ebene geführt:

  • das LNG-Beschleunigungsgesetz – LNGG (betreffend notwendige Infrastruktur für Einsatz von Flüssigerdgas) in der Energie-Krise
  • und das Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz – BwBBG (betreffend die Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr) anlässlich des Ukraine-Kriegs.

In jeweils abschließend und eng definierten Anwendungsbereichen schaffen die beiden Gesetze Ausnahmen oder Konkretisierungen zu bis zu ihrem Inkrafttreten geltenden vergaberechtlichen Vorschriften. Das LNGG ist gemäß § 2 Abs. 2 LNGG auf die in der Anlage zum Gesetz bezeichneten Vorhaben sowie für Vorhaben nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 und 5 LNGG beschränkt und dient der Sicherung der nationalen Energieversorgung durch die zügige Einbindung verflüssigten Erdgases in das bestehende Fernleitungsnetz (§ 1 Abs. 1 LNGG). Das BwBBG dient dem zeitnahen Erreichen eines breiten, modernen und innovationsorientierten Fähigkeitsspektrums der Bundeswehr und damit der Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit (§ 1 Abs. 1 BwBBG) und ist in § 2 BwBBG auch hinsichtlich seines sachlichen Anwendungsbereichs beschränkt.

Ungeachtet ihrer jeweils speziellen krisenbedingten Zwecke und ihres jeweils beschränkten Anwendungsbereichs enthalten beide Beschleunigungsgesetze interessante Ansätze, die beschleunigend für Beschaffungs- und Vergabeprozesse wirken sollen. Im zusammengefassten Überblick betreffen diese Ansätze Folgendes:

D. Besonders in Krisensituationen relevante vergaberechtliche Instrumente

Wie aufgezeigt, gab es in Krisensituationen durchaus gesetzgeberisches (LNGG, BwBBG) oder sonst regulatorisches (Wertgrenzenanhebungen) Einwirken oder Einlenken auf die öffentliche Beschaffung. Für Spezialbereiche wie Flüssigerdgas-Infrastruktur und Bundeswehrbeschaffung mögen solche „Spezialeingriffe“ auch grundsätzlich sinnvoll und geboten sein. In der Breite der öffentlichen Beschaffung kann jedoch mit den heute bereits bestehenden vergaberechtlichen Instrumenten und Methoden ein Funktionieren der öffentlichen Beschaffung auch in Krisensituationen gelingen und sichergestellt werden.

Besonders in Krisensituationen relevante vergaberechtliche Instrumente und Methoden sind dabei (eine Auswahl):

  • Markterkundung, Marktdialog, Kommunikation in Vergabeverfahren: Die EU-Kommission hatte in ihren Leitlinien zur öffentlichen Auftragsvergabe in der COVID-19-Krise (s.o.) bereits die besondere Bedeutung der Kommunikation und Interaktion öffentlicher Auftraggeber mit Marktteilnehmern betont. Das geltende Vergaberecht lässt hier schon heute Vieles zu, was jedoch leider nach wie vor nicht in seinem vollen Potential genutzt wird: So sind z.B. verschiedene Markterkundungs- und Marktdialog-Formate zur Vorbereitung von Beschaffungs- und Vergabevorgänge ausdrücklich zulässig (vgl. § 20 UVgO, § 28 VgV, § 26 SektVO, § 2 EU Abs. 7 Satz 1 VOB/A). Auch im Vergabeverfahren wenden öffentliche Auftraggeber bereits heute vielfach Kommunikationsformate vor Angebotsabgabe an (z.B. sog. Bieterkolloquien), die bei entsprechender Gestaltung erfahrungsgemäß erheblich zur Beseitigung von Unklarheiten und Missverständnissen und damit zur Qualität der Angebote und des Wettbewerbsergebnisses beitragen können.

 

  • Wahl der Vergabeverfahrensart und Fristenverkürzungsmöglichkeiten: Die Erfahrungen aus den letzten Krisensituationen zeigen, dass die bestehenden Fristenverkürzungsmöglichkeiten von der Praxis teilweise erheblich unterschätzt oder gar über sehen werden. So wurde teilweise erhebliche (insbesondere zeitraubender) Aufwand betrieben, eine besondere Dringlichkeit für Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb zu rechtfertigen, obwohl in derselben oder eine noch viel kürzeren Zeit ein offenes Verfahren wegen Dringlichkeit mit einer Angebotsfrist von nur 15 Tagen hätte durchgeführt werden können (vgl. § 15 Abs. 3 VgV).

 

  • „Dringlichkeitsvergaben“: Besondere Aufmerksamkeit und Sensibilität erfordern stets jegliche Formen von Dringlichkeitsvergaben. Dies gilt insbesondere für Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb aufgrund äußerster Dringlichkeit (vgl. z.B. § 14 Abs 4 Nr. 3 VgV). Wenn die Tatbestandsvoraussetzungen dieser äußersten Dringlichkeit vorliegen, kann sogar eine „Direktvergabe“ (ohne Wettbewerb) nach Verhandlung mit nur einem Unternehmen zulässig sein (vgl. zum Ganzen Vergabeblog.de vom 22/02/2021, Nr. 46434; Vergabeblog.de vom 26/09/2022, Nr. 50932). Auftraggeber sollten solche Wege indes vorab sorgfältig prüfen; dies schon allein aufgrund der insoweit sehr diversen Rechtsprechung (vgl. KG, Beschl. v. 10.05.2022 – Verg 1/22; OLG Rostock, Beschl. v. 09.12.2020 – 17 Verg 4/20).

 

  • Vereinfachte Bewertungsystematiken sowohl für Teilnahmeanträge als auch Angebote: In der Praxis vielfach unterschätzt wird der Aufwand und die Zeit für die Aufstellung und Anwendung (zu) komplizierter Bewertungssystematik für die Auswahl von Teilnahmeanträgen und Angeboten. Wenn und soweit möglich, kann daher Vereinfachung und Beschleunigung durch beispielsweise binäre Bewertungssystematiken erreicht werden (z.B. Abfrage der Erfüllung von Anforderungen durch Ja/Nein-Fragen).

 

  • Zeiteinsparungsmöglichkeiten bei Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb: Mit der Verwendung von vereinfachten Bewertungssystematiken im vorstehenden Sinne, kombiniert mit der Möglichkeit, sich als Auftraggeber die Zuschlagserteilung auf das Erstangebot vorzubehalten (§ 17 Abs. 11 VgV) und eine kurze Angebotsfrist im gegenseitigen Einvernehmen mit den Bietern festzulegen (§ 17 Abs. 7 VgV), lässt sich sogar die Durchführung eines Verhandlungsverfahrens mit Teilnahmewettbewerb erheblich beschleunigen.

 

  • Hebel der „Beschleunigungsgesetze“: Beschleunigungspotential für die öffentliche Beschaffung, insbesondere in Krisensituationen, bergen auch die Hebel der oben vorgestellten „Beschleunigungsgesetze“, wie insbesondere die auf eine zügige und zielgerichtete gerichtete Entscheidung über den Loszuschnitt bei Beschaffungen (Bündelung von Bedarfen zur Reduzierung von Koordinierungsaufwand und zum Zwecke eines vereinfachten Handlings der Bedarfsdeckung) oder die Nutzung von Eilantragsmöglichkeiten im Falle von Nachprüfungs- und Beschwerdeverfahren.

 

  • Strategische Beschaffungsinstrumente: Schließlich trägt insbesondere eine auch strategisch aufgestellte und ausgerichtete öffentliche Beschaffung zur bestmöglichen Krisenbewältigung bei. Instrumente wie Rahmenvereinbarungen, dynamische Beschaffungssysteme, Open-House-Modelle (richtig angewendet) und Qualifizierungssysteme (im Bereich des Sektorenvergaberechts) bieten erhebliche Potential zur Bündelung von Bedarfen, rechtzeitigen Findung und Bindung von Anbietern und Vereinfachung von Einzelbeschaffungen und -aufträgen, auch bei unvorhergesehenen oder ad-hoc-Bedarfen.

E. Zusammenfassung und Fazit

Fast 15 Jahre „Krisenerfahrung“ in der öffentlichen Beschaffung zeigen zwar einerseits, welche Komplexität auch in der öffentlichen Beschaffung in der Krise steckt, andererseits aber, dass es unter den bestehenden und geltenden (insbesondere vergaberechtlichen) Rahmenbedingungen Instrumente und Methoden gibt, um den Ansprüchen und Anforderungen an eine funktionierende öffentliche Beschaffung in Krisensituationen und darüber hinaus gerecht zu werden.

Die öffentliche Beschaffungspraxis hat häufig noch nicht das volle Potential der bestehenden und geltenden (insbesondere vergaberechtlichen) Rahmenbedingungen ausgeschöpft, das zur Verfügung steht. Eine stärkere Fokussierung auf ein strategisches Vorgehen in der öffentlichen Beschaffung kann hier zu einer zielgerichteten Weiterentwicklung beitragen. Dies gilt nicht nur für die Krisenbeschaffung. Vielmehr können die Erfahrungen dazu beitragen, auch außerhalb von Krisenzeiten öffentliche Projekte schnell und effektiv voranzutreiben. In Krisenzeiten bewährte Instrumente sind dabei jedoch nur Teil eines umfangreichen Instrumentariums, um Vergabeverfahren beschleunigt zu denken. Dieser Beitrag soll Auftakt einer Serie sein, um weitere Aspekte und Instrumente beschleunigter Beschaffung vorzustellen.  

Kontribution

Der Beitrag wurde gemeinsam mit Herrn Maximilian Ketterer, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Public Sector, verfasst.




Spezialist/in Vergabemanagement für Bauprojekte (m/w/div) in Berlin gesucht

Die Deutsche Rentenversicherung Bund sucht eine/n Spezialist/in Vergabemanagement für Bauprojekte (m/w/div). Nähere Einzelheiten zu der Stelle und den Bewerbungsmodalitäten finden Sie im DVNW Stellenmarkt.




Neuer Co-Vorsitzender der DVNW Regionalgruppe Hamburg

Wir freuen uns bekannt geben zu können, dass die DVNW Regionalgruppe Hamburg ab sofort einen weiteren Vorsitzenden bekommt. Mit diesem zusätzlichen, starken Partner wollen wir den fachlichen Austausch in der Region weiter vorantreiben.

 

 

Dr. Jan Peter MüllerDr. Dietrich Drömann, Fachanwalt für Vergaberecht und Leiter der überörtlichen Praxisgruppe Öffentliches Recht bei der Wirtschaftskanzlei GvW Graf von Westphalen, verstärkt den Vorsitz der Regionalgruppe Hamburg. Er ist ab sofort neben Dr. Martin Schellenberg von Heuking Kühn Lüer Wojtek Co-Vorsitzender der Regionalgruppe Hamburg.

Dr. Drömann hat langjährige Erfahrung bei der Beratung öffentlicher Auftraggeber, unter anderem wenn es um die die Vorbereitung oder Durchführung von Beschaffungs-, Finanzierungs- oder Privatisierungsvorhaben geht. Seine Schwerpunkte sind Staatsorganisations-, Vergabe- und Zuwendungsrecht sowie das Recht der Infrastrukturfinanzierung.

Diese Expertise wird er auch in den Austausch mit den Mitgliedern einbringen und sagt: „Das Vergaberecht ist längst zum Mitgestalter der Transformation von Staat und Wirtschaft hin zu Nachhaltigkeit und Digitalisierung geworden. Lassen Sie uns gemeinsam beobachten, was das für die tägliche Beschaffungspraxis bedeutet.“

Der Termin der ersten Sitzung mit Dr. Drömann steht bereits fest. Die Sitzung findet am 14. Juni 2023 vor Ort in Hamburg statt.

Treten Sie der Regionalgruppe Hamburg bei, damit Sie in Zukunft automatisch über alle Sitzungen informiert werden. Die Regionalgruppen stehen allen Mitgliedern des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW) offen. Sie können über die Regionalgruppenseite im Mitgliederbereich des DVNW beitreten.

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