Brexit: Wie viel Brexit steckt im Brexit-Abkommen für das Vergaberecht?
Der Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union und das Stichwort Brexit sind in den letzten Jahren an niemandem vorbei gekommen. Für das Vergaberecht bedeutete dies eine enorme Ungewissheit, inwiefern britische Ausschreibungen für deutsche Unternehmen zugänglich sein werden und wie deutsche Auftraggeber britische Bieter in Zukunft behandeln müssen. Zu den vielen denkbaren Szenarien, wie das Austrittsabkommen gestaltet werden kann, wurde in dieser Zeit vom „No-Deal-Brexit“ bis zum „Exit vom Brexit“ alles diskutiert. Auch vergaberechtlich waren viele Konstellationen denkbar. Mit dem Austrittsabkommen vom 31.12.2020 ((EU) L 444/14) gibt es nun Gewissheit. Im Folgenden soll der Inhalt des Abkommens hinsichtlich des öffentlichen Auftragswesens dargestellt und eingeordnet werden.
Welche Bedeutung hat das GPA für das Austrittsabkommen?
Das Austrittsabkommen lehnt sich im Bereich der öffentlichen Beschaffung an das Agreement on Government Procurement (GPA) der Welthandelsorganisation an. Diesem gehört die Europäische Union seit in Kraft treten 1996 an. Das Vereinigte Königreich ist im Zuge des Austrittes aus der Europäischen Union zum 01.01.2021 als eigenständiges Mitglied beigetreten. Dementsprechend gelten die Regeln aus dem GPA hierdurch bereits zwischen den Mitgliedstaaten. Mitunter ist der Verweis darauf im Austrittsabkommen lediglich deklarativer Natur. Entscheidend sind eher die über das GPA hinaus gehenden besonderen Regelungen.
Der Anwendungsbereich des GPA ist für die jeweiligen Vertragsstaaten speziell in den Anlagen 1-7 zu Anhang 1 festgelegt. Die Anlagen 1-3 nennen jeweils im Rahmen von Positivlisten die verpflichteten Beschaffungsstellen, getrennt nach Ebenen [Zentralregierungen: z.B. EU Kommission bzw. Bundesrechnungshof; Lokale- und regionale Auftraggeber: z.B. Hochschulen und Bundesanstalten; andere Einheiten: bestimmte Sektorenauftraggeber – nur solche, die feste Netze betreiben oder Häfen/Flughäfen/Bahnhöfe; ausführliche Aufzählung unter: WTO ¦ Government procurement – The plurilateral Agreement on Government Procurement (GPA)]. Die Schwellenwerte sind genauso wie im europäischen System, sowohl an den Beschaffungsgegenstand, als auch die Beschaffungsstelle gebunden. Die Anhänge für die Europäische Union und das Vereinigte Königreich decken sich insofern. Die Anhänge 4-7 decken den Gegenstand der Beschaffung getrennt nach Waren, Dienstleistungen und Bauleistungen. Anhang 7 nennt explizite Ausnahmen für Hilfsprogramm im Agrarsektor bzw. Lebensmittel und Rundfunk.
Für diese Bereiche eröffnet das GPA den Marktzugang zum Beschaffungsmarkt für Unternehmen aus den Signatarstaaten. Die durch das Austrittsabkommen in Bezug genommenen Artikel des GPA beinhalten Regelungen zu:
– den einschlägigen Definitionen in Art. 1 GPA
– der Reichweite, dem Anwendungsbereich und der Wertermittlung nach Art. 2 GPA
– generelle und sicherheitsrelevante Ausnahmen nach Art. 3 GPA
– die Nichtdiskriminierung von inländischen Produkten, Dienstleistungen und Bietern nach Art. 4 Abs. 1 lit a) GPA
– die Inländergleichbehandlung nach Art. 4 Abs. 2 GPA
– die e-Vergabe nach Art. 4 Abs. 3 GPA
– transparentem und nichtdiskriminierendem Verhalten nach Art. 4 Abs. 4 GPA
– Import-, Ausgleichs- und sonstige Regelungen nach Art. 4 Abs. 5-7 GPA
– sowie Informationsanforderungen nach Art. 6 bis Art. 15 GPA.
Welche Aufträge sind vom Austrittsabkommen erfasst?
Der Anwendungsbereich des Austrittsabkommens wird über die vom GPA erfassten Aufträge hinaus durch die in Anhang PPROC-1 Abschnitt B umfassten Beschaffungsstellen und Beschaffungsgegenstände erweitert. Das Abkommen soll auch weitere Sektorenauftraggeber und Beschaffungsstellen in Privatbesitz ab einem bestimmten Schwellenwert binden. Die Schwellenwerte decken sich mit den aktuellen EU-Schwellenwerten, die dem GPA entstammen. Die Beschaffungsgegenstände werden um folgende Leistungen erweitert:
– Dienstleistungen des Gastgewerbes (CPC 641)
– Dienstleistungen von Speisen (CPC 642);
– Getränkedienstleistungen (CPC 643);
– Telekommunikationsdienstleistungen (CPC 754);
– Dienstleistungen von Immobilien auf Honorar- oder Vertragsbasis (CPC 8220);
– Sonstige unternehmensbezogene Dienstleistungen (CPC 87901, 87903, 87905-87907);
– Bildungsdienstleistungen (CPC 92)
Ausdrücklich nicht erfasst sollen bestimmte Dienstleistungen im Gesundheitsbereich (CPC 931, 91122 und 8706, 8709) sein. Abschnitt B.1 bezieht sich dabei auf die Europäische Union und wird in Abschnitt B.2 für das Vereinigte Königreich gespiegelt.
Welche Sonderregeln wurden vereinbart?
Darüber hinaus trifft das Austrittsabkommen weitere Vorgaben für den Beschaffungsvorgang. In Kapitel 2 von Titel VI werden zusätzliche Bestimmungen für erfasste Beschaffungen normiert.
– Kapitel 2
Artikel PPROC 3 schreibt über Art. 4 Abs. 3 GPA hinaus die einzelnen Schritte einer elektronische Beschaffungsabwicklung vor. Die Bekanntmachung, Versand der Vergabeunterlagen, Teilnahmeanträge und Aufforderungen zur Angebotsabgaben müssen demnach elektronisch erfolgen. Hierdurch dürfe das Beschaffungsverfahren nicht beschränkt werden.
Die Mitgliedstaaten müssen sicher stellen, dass unterstützende Nachweise nach Art. PPROC. 5. nicht bereits mit Einreichung der Teilnahmeanträge bzw. Angebote verlangt werden. Ebenso soll nach Art. PPROC 6 sicher gestellt werden, dass Referenzen auch Erfahrungen im jeweils anderen Gebiet nachweisen dürfen. Die Registrierung zu Registrierungs- und Qualifikationssystemen muss allen interessierten Anbieter offen stehen, vgl. Art. PPROC 7.
Nach Art. PPROC 8 müssen bei einer beschränkten Ausschreibung – entsprechend der bestehenden Regelung – ausreichend Bieter aufgefordert werden, um Wettbewerb zu gewährleisten. Ergänzend zum GPA sollen ungewöhnlich niedrige Preise auf Subventionen überprüft werden dürfen, vgl. Art. PPROC 9. Soziale, ökologische und arbeitsbezogene Erwägungen dürfen bei der Beschaffung nach Maßgabe des Art. PPROC 10 berücksichtigt werden.
Art. PPROC 11 stellt Anforderungen an Vergabenachprüfungsverfahren.
– Kapitel 3
Kapitel 3 und dort insbesondere Art. PPROC 13 soll die Inländerbehandlung von Beschaffungen außerhalb erfasster Beschaffungen normieren. Da hinsichtlich des Beschaffungsgegenstands das Austrittsabkommen gemeinsam mit dem GPA fast alles erfasst, können damit nur Beschaffungen gemeint sein, die aus anderen Gründen nicht den sonstigen Regelungen unterfallen, weil sie z.B. unterhalb der Schwellenwerte liegen. So erklärt es zumindest die EU-Kommission: Deren Q&A Seite verweist darauf, dass Kapitel 3 eine Nichtdiskriminierung von EU-Unternehmen mit Sitz im Vereinigten Königreich (bzw. umgekehrt) bei Aufträgen unter den jeweiligen Schwellenwerten vorsehe (https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/qanda_20_2532).
Dabei liefert Art. PPROC 12 die nötigen Begriffsbestimmungen für die Auslegung von Art. PPROC 13. Art. 13 PPROC bestimmt, dass „eine Maßnahme einer Vertragspartei nicht dazu führen [dürfe], dass Anbieter der jeweils anderen Vertragspartei, die aufgrund der Gründung, des Erwerbs oder der Fortführung einer juristischen Person in ihrem Gebiet ansässig sind, eine weniger günstige Behandlung erfahren, als diese Vertragspartei ihren eigenen gleichartigen Anbietern gewährt“.
Der Sinn und Zweck dieser Regelung ist nicht ganz klar. Eine durch ein UK-Unternehmen in einem Mitgliedsstaat gegründete oder erworbene juristische Person würde als juristische Person dieses Mitgliedsstaats dem in diesem Mitgliedstaat geltenden Vergaberecht unterfallen und bedürfte keines besonderen Schutzes durch das Austrittsabkommen. Die Vorschrift wäre nach dieser systematischen Auslegung redundant. Eine andere Interpretation ergibt sich, sofern man annimmt, dass alle Bieter aus dem Vereinigten Königreich, die eine Niederlassung oder ein Tochterunternehmen in der EU haben, genauso behandelt werden müssten wie ein inländischer Bieter und umgekehrt. Diese Auslegung erscheint aber kaum praxistauglich. Damit würden diese UK-Unternehmen gegenüber Unternehmen aus anderen EU-Mitgliedsstaaten, die sich an Vergabeverfahren unterhalb der Schwellenwerte beteiligen wollen, sogar bevorzugt. Denn Unternehmen aus anderen EU-Mitgliedsstaaten können sich auf eine Inländerbehandlung grundsätzlich erst ab einer Binnenmarktrelevanz oder mit Erreichen der Schwellenwerte berufen.
– Kapitel 4
Kapitel 4 normiert sonstige Bestimmungen, die das Verfahren für Änderungen bzw. Berichtigungen des Titels, die Streitbeilegung über Änderungen und die Zusammenarbeit betreffen. Sie sind für die Vergabepraxis nicht von Relevanz.
Wie ist das Abkommen einzuordnen
Das Kapitel zu öffentlichen Beschaffungen stellt am ehesten eine GPA+ Lösung dar (Arrowsmith, The Law of Public and Utilities Procurement Vol.2, Rn. 23-45ff.). Dabei wird überwiegend auf den Bestimmungen des GPA aufgebaut. Die britischen Anhänge zum GPA decken sich dabei überwiegend mit denen der EU. Insofern können die öffentlichen Auftraggeber auf ihrer Erfahrung mit Bietern aus anderen GPA-Staaten aufbauen.
Die Erweiterungen des Anwendungsbereichs sind für einige Beschaffungsvorgänge relevant, insbesondere für den Bereich der Gastronomie und im Sektorenbereich. Die über das GPA hinausgehenden Vorschriften sind in Sprache und Inhalt klar an dem gemeinsamen europäischen Vergaberegime angelehnt. Dies verwundert kaum, ist doch auch das britische Vergaberecht bisher eine Umsetzung der europäischen Richtlinien gewesen. Die Neufassung des britischen Vergaberechts ist allerdings in der Planung (Transforming Public Procurement (publishing.service.gov.uk); Public procurement in post-Brexit UK (pinsentmasons.com)). Europäische Bieter können sich also nicht darauf verlassen, dass auch auf der Insel alles beim Alten bleibt. Insbesondere sollten Bieter im Hinterkopf behalten, dass die Bekanntmachungen aus dem Vereinigten Königreich nunmehr nicht mehr auf ted.eu veröffentlicht werden, sondern unter Find a Tender (find-tender.service.gov.uk).
Europäische Auftraggeber sind vorerst gut beraten, Bieter aus dem Vereinigten Königreich genauso zu behandeln wie Bieter aus anderen EU-Mitgliedsstaaten. Etwas anderes ergibt sich lediglich für Beschaffungen, die nicht von dem Abkommen umfasst sind. Erwähnenswert ist an dieser Stelle der Bereich der Sicherheit und Verteidigung, der von dem Abkommen gänzlich unberührt bleibt. Auftraggeber solcher Beschaffungsvorgänge müssen britische Unternehmen mitunter nicht beteiligen, allerdings müssen sie die allgemeinen Themen im bezüglich des Ausschlusses von Bietern aus Drittstaaten beachten (vgl. ). Dies gilt auch für die nicht erfassten Beschaffungen im Sektorenbereich. Abzuwarten bleibt, wie mit der Vorschrift zur Inländerbehandlung bei der Vergabe unterhalb der Schwellenwerte in der Praxis umgegangen wird.
Die Umsetzung der zusätzlichen Bestimmung wird für die europäischen Auftraggeber in der Praxis kaum Aufwand erfordern, sind diese doch durch die europäische Vergaberichtlinie bereits in den nationalen Beschaffungsvorgängen verankert.
Kontribution
Der Beitrag wurde gemeinsam mit Frau stud. jur. Neele Schauer, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Kanzlei FPS Fritze Wicke Seelig, Frankfurt am Main / Berlin, verfasst.
Anmerkung der Redaktion
Im ersten Absatz wurde nachträglich die Abkürzung „WHO“ ersetzt: Welthandelsorganisation.
Neele Schauer
Neele Schauer ist seit 2018 als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei FPS Fritze Wicke Seelig, Frankfurt am Main im Bereich des Vergaberechts tätig. Zusammen mit Dr. Annette Rosenkötter, Aline Fritz und Tim Kuhn hat sie bereits zahlreiche Veröffentlichungen, insbesondere zur Sektorenverordnung und im Bereich der Verteidigung und Sicherheit, publiziert.