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Bauleistungen

Gesamtvergabe? Auftraggeber hat vorhabenspezifische Abwägung durchzuführen und umfangreich zu dokumentieren! (OLG Rostock, Beschl. v. 18.07.2024 – 17 Verg 1/24)

EntscheidungEine Gesamtvergabe kommt nur dann in Betracht, wenn sich der Auftraggeber im Einzelnen mit dem grundsätzlichen Gebot der Fachlosvergabe einerseits und den im konkreten Fall dagegensprechenden Gründen auseinandersetzt und sodann eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Belange trifft, als deren Ergebnis die für eine zusammenfassende Vergabe sprechenden technischen und wirtschaftlichen Gründe überwiegen müssen. Objektiv zwingender Gründe für die zusammenfassende Vergabe bedarf es demgegenüber nicht. Bei der Prognose der Vor- und Nachteile der Losvergabe, deren Gewichtung und der Abwägung steht dem Auftraggeber ein Beurteilungsspielraum zu. Bei der Abwägung der für und gegen die Losaufteilung sprechenden Gründe sind die typischen Vor- und Nachteile mit der vom Gesetzgeber vorgegebenen Gewichtung zu berücksichtigen und um die im Einzelfall bestehenden Besonderheiten zu ergänzen.

§ 97 Abs. 4 GWB; § 5 EU Abs. 2 VOB/A

Sachverhalt

Das Verfahren betrifft eine Bauleistungsvergabe, welche die Errichtung einer Zügelgurtbrücke in Stahlverbundbauweise mit einer Gesamtlänge von 1.465 m mit zugehörigen Teilbauwerken BW 10 Lärmschutzwand, BW 11 Kollisions- und Irritationsschutzwand, BW 12 Uferwand beinhaltet. Die Brücke setzt sich aus zwei Vorlandbrücken mit 347 m bzw. 616 m und der Strombrücke mit 502 m Länge zusammen.

Der Auftraggeber möchte die Gesamtleistung an einen Generalunternehmen (GU) vergeben und sieht daher von einer Losaufteilung der einzelnen Gewerke ab. Zur Begründung führt der Auftraggeber diverse Gründe auf. Insbesondere bestehe zwischen den Schutzwänden und den Über- und Unterbauten eine enge technische Verzahnung.

Die Antragstellerin ist ein mittelständisches, auf die Errichtung von Schutzwänden spezialisiertes Bauunternehmen. Sie möchte sich für die Errichtung der Teilbauwerke BW 10 und 11 bewerben und beanstandet nach erfolgloser Rüge mit Nachprüfungsantrag vom 25.04.2024, dass für die Schutzwandarbeiten kein gesondertes Fachlos gebildet wurde. Mit Beschluss vom 23.05.2024 Az.: 1 VK 01/24 hat die Vergabekammer den Nachprüfungsantrag abgewiesen. Gegen den Beschluss wendet sich die Antragstellerin mit der sofortigen Beschwerde.

Die Entscheidung

Im Ergebnis ist die Beschwerde zulässig und begründet. Das OLG entschied, dass das Vergabeverfahren in den Stand vor der Ausschreibung zurückversetzt wird und gab dem Auftraggeber auf, im Fall fortbestehender Beschaffungsabsicht unter Berücksichtigung der Auffassung des Senats zunächst die Prüfung zu wiederholen, ob die BW 10 und 11 zusammen in einem gesonderten Fachlos auszuschreiben sind. Gleichsam teilt das OLG Rostock allerdings die erstinstanzlichen grundlegenden rechtlichen Erwägungen der Vergabekammer Mecklenburg-Vorpommern.

Nach § 97 Abs. 4 S. 1 bis 3 GWB dessen Inhalt von § 5 Abs. 2 Nr. 1 S. 1 bis 3 EU VOB/A wiederholt wird sind Leistungen in Losen zu vergeben und kann hiervon nur dann abgesehen werden, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies erfordern. Unter technischen und wirtschaftlichen Gründen im Sinne des § 97 Abs. 4 S. 3 GWB sind solche zu verstehen, die eine Integration aller Leistungsschritte in einer Hand zur Erreichung des vom Auftraggeber angestrebten Qualitätsniveaus notwendig machen. Dabei sind technische Gründe alle Aspekte, die zu einem vom Auftraggeber vorgegebenen Leistungsprofil in einem unauflöslichen Zusammenhang stehen. Wirtschaftliche Gründe können auch darin liegen, dass es sich um ein eilbedürftiges Vorhaben wie die Fertigstellung eines Bauabschnitts einer vielbefahrenen Autobahn handelt.

Von dem Gebot der Losvergabe soll nur in begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden können. Dieses klare Regel-/ Ausnahmeverhältnis bedeutet allerdings entgegen einer teilweise in der Literatur vertretenen, von der Antragstellerin zitierten Auffassung nicht, dass eine Gesamtvergabe überhaupt nur bei Vorliegen eines objektiv zwingenden Grundes erfolgen darf. Auch aus § 3 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 1 des Gesetzes zur Beschleunigung von Beschaffungsmaßnahmen für die Bundeswehr (BwBBG) folgt insofern nichts anderes.

§ 97 Abs. 4 GWB ist im Kontext der primären Ziele des Vergaberechts auszulegen, zu denen insbesondere auch die Wirtschaftlichkeit der Beschaffung gehört. Dabei sind auch die weiteren Grundsätze des Vergaberechts sowie die vom Gesetzgeber in § 97 Abs. 3 GWB normierten strategischen Ziele im Blick zu behalten.

Aus der klaren Wertung des Gesetzgebers ergibt sich, dass es nicht ausreicht, wenn der Auftraggeber anerkennenswerte Gründe für die Gesamtvergabe vorbringen kann. Auch vermag die Entlastung des Auftraggebers von typischerweise mit einer losweisen Vergabe verbundenen Koordinierungsaufgaben oder sonstigem organisatorischem Mehraufwand für sich allein ein Absehen von einer Losvergabe nicht zu rechtfertigen. Erforderlich ist vielmehr, dass sich der Auftraggeber im Einzelnen mit dem grundsätzlichen Gebot der Fachlosvergabe einerseits und den im konkreten Fall dagegensprechenden Gründen auseinandersetzt und sodann eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Belange trifft, als deren Ergebnis die für eine zusammenfassende Vergabe sprechenden technischen und wirtschaftlichen Gründe überwiegen müssen. Dies hatte der Auftraggeber vorliegend missachtet.

Jedenfalls bei konkreten und erheblichen Risiken der Fachlosvergabe kann der Auftraggeber nicht gezwungen sein, sehenden Auges diesen Weg zu beschreiten. Andererseits ist der Antragstellerin zuzugeben, dass die Gesamtvergabe nicht mit jeglichen, ggf. fernliegenden Risiken begründet werden kann („sicherster Weg“). Das Gewicht des einzelnen Risikos ist nach Eintrittswahrscheinlichkeit und Ausmaß nach den oben dargestellten Grundsätzen im Einzelfall zu bestimmen.

Bei der Prognose der Vor- und Nachteile der Losvergabe, deren Gewichtung und der Abwägung steht dem Auftraggeber ein Beurteilungsspielraum zu. Die Entscheidung des Auftraggebers über die Gesamtvergabe ist deshalb von den Nachprüfungs-instanzen nur darauf zu überprüfen, ob sie auf vollständiger und zutreffender Sachverhaltsermittlung und nicht auf einer Fehlbeurteilung, namentlich auf Willkür, beruht. Den Nachprüfungsinstanzen ist es im Umkehrschluss verwehrt, die Entscheidung des Auftraggebers durch eine eigene Beurteilung zu ersetzen, solange sie nicht auf eine einzige Entscheidungsmöglichkeit verdichtet ist. Dem Kammergericht (Beschluss vom 26.03.2019 Az.: Verg 16/16), welches in einem obiter dictum entschieden hatte, dass anders als bei Teillosen bei Fachlosen kein Beurteilungsspielraum bestehe, folgt das OLG Rostock nicht. Zur Begründung führt das OLG aus, dass Gründe für die Unterscheidung zwischen Teil- und Fachlosen zu diesen Punkt nicht zu erkennen seien.

Im Ergebnis hat der Auftraggeber vorliegend der Abwägung nicht den zutreffenden und vollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt. Überdies genügt die Dokumentation nicht, eine willkürfreie, an Sachgründen orientierte wenn auch nicht notwendig vom Senat geteilte Abwägung festzustellen. Der Beschwerde war daher stattzugeben.

Rechtliche Würdigung

Das OLG Rostock hatte sich mit der praxisrelevanten Frage der Abwägung des Auftraggebers hinsichtlich der Vergabe in Teil- bzw. Fachlosen und als Gesamtvergabe zu befassen.

Zunächst leitete das Gericht nachvollziehbar das Regel-/ Ausnahme Verhältnis hinsichtlich der Gesamtvergabe bzw. der Vergabe in Losen her. Mit guter Begründung am Maßstab der Grundsätze des Vergaberechts und der gesetzlichen Wertung folgt das OLG Rostock dabei nicht der teilweise in der Literatur vertretenen Meinung, eine Gesamtvergabe erfordere einen objektiv zwingenden Grund. Die Entscheidung gegen die Mindermeinung der Literatur ist im Sinne der Praxistauglichkeit des Vergaberechts zu befürworten.

Gleichsam stellt das OLG Rostock klar, dass es einer umfassenden Abwägung des Auftraggebers bedarf, als deren Ergebnis die für eine zusammenfassende Vergabe sprechenden technischen und wirtschaftlichen Gründe überwiegen müssen. Damit teilt das OLG Rostock die herrschende Auffassung in der Rechtsprechung (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 14.05.2018 Az.: 11 Verg 4/18; OLG München, Beschluss vom 25.03.2019 Az.: Verg 10/18; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13.03.2020 Az.: Verg 10/20 u. Beschluss vom 25.05.2022 Az.: Verg 33/21; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29.04.2022 Az.: 15 Verg 2/22).

Richtigerweise kann der Auftraggeber nicht gezwungen sein, bei konkreten und erheblichen Risiken sehenden Auges den Weg einer an Gewerken orientierten Fachlosvergabe zu beschreiten. Das OLG Rostock gewährt dem Auftraggeber dabei einen Entscheidungs- und Beurteilungsspielraum, welcher es den Nachprüfungsinstanzen regelmäßig untersagt die Entscheidung des Auftraggebers durch eine eigene Beurteilung zu ersetzen und weicht insofern zutreffend von der Entscheidung des Kammergerichts ab.

Praxistipp

Möchte der Auftraggeber einen Auftrag ausnahmsweise nicht losweise vergeben, so hat der Auftraggeber unterschiedliche Aspekte zu beachten. Insbesondere muss das Regel-/ Ausnahme Verhältnis zwischen Los- und Gesamtvergabe berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn auf eine Fachlosvergabe verzichtet werden soll, obgleich wie in der vorliegenden Entscheidung es für Teilleistungen einen eigenen Markt gibt, eine Losaufteilung sich mithin geradezu aufdrängt.

Sollte der Auftraggeber ausnahmsweise eine Gesamtvergabe durchführen wollen, hat dieser dringend eine gewissenhafte und ordentliche Abwägung der widerstreitenden Interessen durchzuführen und zu dokumentieren. Insbesondere muss die Abwägung dergestalt erfolgen, dass der Vorwurf einer willkürlichen Entscheidung jeglicher Substanz entbehrt. Entscheidend ist, in welchem Umfang vorhabenspezifische Vor- und Nachteile hinzutreten, deren Gewichtung im Einzelfall vorzunehmen ist. Daher hat der Auftraggeber eine vollständige und zutreffende Sachverhaltsermittlung durchzuführen und auf dieser Grundlage seine Entscheidung zu begründen. Die rechtlichen Maßstäbe hierfür können der Entscheidung des OLG Rostock anschaulich entnommen werden.

Darüber hinaus gilt (was erstaunlicherweise von Auftraggebern immer noch häufig übersehen wird): Kommt es zu einer Rüge und/oder einem Nachprüfungsverfahren steht es dem Auftraggeber frei, seine Entscheidung und Begründung für eine Gesamtvergabe einer kritischen (erneuten) Prüfung (ggf. unter Hinzuziehung eines Dritten) zu unterziehen und bei Bedarf umgehend, jedenfalls noch frühzeitig während eines laufenden Nachprüfungsverfahren, zu ergänzen und zu präzisieren. Dann kann eine Heilung des Dokumentationsdefizits noch im laufenden Verfahren gelingen. Dem Auftraggeber ist es unbenommen, Dokumentationsdefizite während des laufenden Vergabe- bzw. Nachprüfungsverfahrens abzustellen und dadurch die Niederlage im Nachprüfungsverfahren noch abzuwenden.

Kontribution

Der Beitrag wurde gemeinsam mit Herrn Malte Hennig, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Wirtschaftskanzlei LEXTON Rechtsanwälte in Berlin, verfasst.

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Über Peter Michael Probst, M.B.L.-HSG

Der Autor Peter Michael Probst, M.B.L.-HSG, ist Fachanwalt für Vergaberecht, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner der Wirtschaftskanzlei LEXTON Rechtsanwälte in Berlin. Er berät seit über 20 Jahren öffentliche Auftraggeber und Bieterunternehmen umfassend bei allen vergabe-, zuwendungs-, haushalts- und preisrechtlichen Fragestellungen. Neben seiner anwaltlichen Tätigkeit veröffentlicht er regelmäßig Fachaufsätze und führt laufend Seminare und Workshops im Vergaberecht durch.

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