Vortrag nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung verletzt grundsätzlich die allgemeine Verfahrensförderungspflicht und ist deshalb in der Regel nicht mehr zu berücksichtigen. Das OLG Düsseldorf führt mit seiner aktuellen Entscheidung seine frühere Rechtsprechung (Beschluss vom 19. November 2003 – Verg 22/03) fort, wonach das Vorbringen eines Beteiligten auch ohne Fristsetzung der Vergabekammer gemäß § 113 Abs. 2 GWB jedenfalls dann grds. nicht zu berücksichtigen ist, wenn der Beteiligte erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung neue Argumente vorträgt, obwohl ihm die Umstände bereits vor Schluss der mündlichen Verhandlung bekannt waren.
§ 113 Abs. 1 und 2 GWB, §§ 120 Abs. 2, 69 Abs. 1 GWB, § 112 Abs. 1 Satz 1 GWB, § 156 ZPO
Sachverhalt
Die Antragsgegnerin, eine gesetzliche Krankenkasse, schrieb durch Auftragsbekanntmachung den Abschluss von Rahmenrabattvereinbarungen nach § 130a Abs. 8 SGB V für 46 wirkstoffbezogene Fachlose im offenen Verfahren unionsweit aus. Ein Los betraf einen Wirkstoff, der hinsichtlich einzelner Indikationen durch ein Anwendungspatent geschützt war.
Die Antragstellerin beanstandete unter anderem eine Verletzung ihrer patentgeschützten Wettbewerbsposition durch Generika-Anbieter bei der Anwendung des Wirkstoffs für eine bestimmte Indikation. Die Antragstellerin beruft sich aufgrund des Anwendungspatents auf einen Eignungsmangel der Generika-Anbieter. Die Antragstellerin war mit ihrem Nachprüfungsantrag vor der Vergabekammer erfolgreich (2. Vergabekammer des Bundes, Beschluss vom 16. März 2015 – VK 2-7/15). Dagegen erhob die Antragsgegnerin sofortige Beschwerde.
Nachdem die zunächst vorgetragenen Argumente der Antragsgegnerin nicht durchgriffen, trug sie erst in einem nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 16. Oktober 2015 zu einem Urteil des High Court of Justice vor, wonach bestimmte Rechtsansprüche des angelsächsischen Teils eines Europäischen Patents, das auch im vorliegenden Fall den Ausgangspunkt der Streitigkeit bildete, nicht rechtsbeständig seien.
Die Entscheidung
Das OLG Düsseldorf hat die sofortige Beschwerde zurückgewiesen und die Entscheidung der Vergabekammer im Ergebnis vollumfänglich bestätigt. Allgemein vergaberechtlich interessant ist, dass der gesamte neue Vortrag der Vergabestelle, selbst wenn er erheblich wäre, nach dem OLG Düsseldorf bei der Entscheidungsfindung außer Betracht zu bleiben hätte, was aus § 156 ZPO sowie aus § 113 Abs. 2 Satz 1, § 120 Abs. 2 GWB folgte.
§ 113 Abs. 2 GWB (wortgleich in § 167 Abs. 2 GWB n.F.) lautet:
Nach § 113 Abs. 2 Satz 1 GWB haben die Verfahrensbeteiligten an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken, wie es einem auf Förderung und raschen Abschluss des Verfahrens bedachten Vorgehen entspricht. Den Beteiligten können Fristen gesetzt werden, nach deren Ablauf weiterer Vortrag unbeachtet bleiben kann.
§ 113 Abs. 2 S. 2 GWB normiere “die Pflicht aller Verfahrensbeteiligten, von sich aus – und nicht erst auf Aufforderung der Vergabekammer oder des Beschwerdegerichts – sämtliche Angriffs- und Verteidigungsmittel so rasch wie möglich im Prozess vorzubringen.“ Kommt ein Beteiligter dieser Förderungspflicht nicht nach, folgt daraus zwar nicht ohne Weiteres die Präklusion des betreffenden Angriffs- oder Verteidigungsmittels, da in § 113 Abs. 2 Satz 2 GWB ausdrücklich die Präklusion nur für den Fall geregelt ist, dass die Vergabekammer dem Beteiligten für einen Vortrag eine angemessene Frist gesetzt hat und diese fruchtlos verstrichen ist. Das OLG Düsseldorf hatte aber bereits mit Beschluss vom 19. November 2003 (Verg 22/03) entschieden, dass ein Vorbringen bei der Entscheidung unabhängig von § 113 Abs. 2 S. 1 GWB unberücksichtigt bleibe,
wenn ein Beteiligter es unter Missachtung der Verfahrensförderungspflicht derart spät anbringt, dass den gegnerischen Verfahrensbeteiligten bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung, auf den die Entscheidung ergeht (vgl. § 112 Abs. 1 Satz 1 GWB, §§ 120 Abs. 2, 69 Abs. 1 GWB), eine Erwiderung unter zumutbaren Bedingungen nicht mehr möglich ist.
In Fortführung dieser Rechtsprechung hat das OLG Düsseldorf nun entschieden, dass ein Vortrag, der – wie in dem vorliegenden Fall – überhaupt erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung erfolgt, grundsätzlich nicht zu berücksichtigen ist. Dies ist nur anders, wenn das Gericht die Wiedereröffnung der Verhandlung anordnet (§ 156 Abs. 1 ZPO), was in seinem Ermessen steht.
Das OLG Düsseldorf hat die Wiedereröffnung nach § 156 Abs. 1 ZPO vorliegend abgelehnt, weil die Antragsgegnerin erheblich gegen die ihr obliegende Prozessförderungspflicht verstoßen habe. Die Erheblichkeit ergab sich daraus, dass die Antragstellerin schon vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung von den für den neuen Vortrag relevanten Umständen wussten. Aus welchen Gründen der Vortrag vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung nicht möglich gewesen sein sollte, ist nicht vorgetragen worden.
Rechtliche Würdigung
Das OLG Düsseldorf hat in seiner Entscheidung seine bisherige Linie fortgeführt. Insbesondere bei Umständen, die einem Beteiligten bereits vor Schluss der mündlichen Verhandlung bekannt sind, droht eine Präklusion, da damit zu rechnen ist, dass dann eine Wiedereröffnung nach § 156 ZPO vom Gericht abgelehnt wird.
Die Entscheidung verliert auch nach In-Kraft-Treten des neuen GWB nicht ihre Relevanz, da § 113 Abs. 1 und 2 GWB wortgleich in § 169 Abs. 1 und 2 GWB neue Fassung, § 112 Abs. 2 GWB wortgleich in § 166 Abs. 2 GWB n.F. und § 120 Abs. 2 wortgleich in § 175 Abs. 2 beibehalten wurde.
Praxistipp
Die Entscheidung dient der Verfahrensbeschleunigung und ist daher grundsätzlich zu begrüßen. Angesichts der manchmal kurzen Zeiträume bis zur mündlichen Verhandlung in Nachprüfungsverfahren oder einstweiligen Beschwerden werden damit die Anforderungen an das Parteivorbringen jedoch weiter erhöht. Die Entscheidung zeigt einmal mehr, dass trotz der kurzen Zeiträume eine genaue und umfassende Darlegung der relevanten Umstände rechtzeitig vor Schluss der mündlichen Verhandlung unerlässlich ist. Dies gilt auch nach In-Kraft-Treten des neuen GWB, da die relevanten Vorschriften unverändert beibehalten wurden.
Dr. Lotte Herwig ist Rechtsanwältin und Partnerin der Kanzlei Jakoby Rechtsanwälte in Berlin. Sie berät seit vielen Jahren Auftraggeber und Bieter im Vergaberech insbesondere bei ITK-Beschaffungen. Neben dem Vergaberecht gehört das Immobilienrecht zu ihren Tätigkeitsschwerpunkten. Sie hält Vorträge und Schulungsveranstaltungen im Vergaberecht.
Das kann aber ja wohl nur für „Vortrag“ bzw. – in Entsprechung zu § 296a ZPO – „Angriffs- und Verteidigungsmittel“ gelten, nicht hingegen für allgemeine Rechtsausführungen („iura novit curia“). Im Hinblick auf diesen Problemkreis empfinde ich die Entscheidung des Senats als ziemlich dünn.
Vielen Dank für den ergänzenden Hinweis, dem kann ich mich nur anschließen. In der Entscheidung des Senats ging es – soweit ich das sehe – nur um das verspätete Vorbringen von „Angriffs- und Verteidigungsmitteln“. Zum Nachtraglich allgemeiner Rechtsausführungen konnte ich der Begründung nichts entnehmen.