Vielen öffentlichen Auftraggebern ist der Begriff der Binnenmarktrelevanz bzw. des grenzüberschreitenden Interesses zumindest bekannt. Unklar ist vielen jedoch, wie die Handhabung der Binnenmarktrelevanz bzw. des grenzüberschreitenden Interesses in der Vergabepraxis erfolgt und welche Folgen die Nichtbeachtung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge nach sich ziehen kann.
Binnenmarktrelevanz bedeutet, dass die Erteilung eines öffentlichen Auftrags für Mitgliedstaaten aus dem EU-Binnenmarkt interessant sein kann. Grundsätzlich werden Aufträge mit geschätzten Auftragswerten unterhalb der EU-Schwellenwerte unterschwellig, das heißt nach nationalem Vergaberecht, vergeben. Öffentliche Aufträge, die die EU-Schwellenwerte überschreiten, müssen oberschwellig, das heißt europaweit vergeben werden. Das Kriterium der Binnenmarktrelevanz erhöht die vergaberechtlichen Anforderungen an Auftragsvergaben für den unterschwelligen Bereich; sozusagen in Richtung oberschwelligen Bereich.
Kommt ein Aufraggeber zu dem Ergebnis, dass der nach nationalem Recht zu vergebenden Auftrag in anderen EU-Mitgliedsstaaten ein Interesse an der Teilnahme am Wettbewerb hervorrufen kann (Feststellung der Binnenmarktrelevanz), ist die Folge, dass die Vorgaben des europäischen Primärrechts einzuhalten sind. Sollte der öffentliche Auftraggeber im Rahmen seiner Beschaffungstätigkeit einen Auftrag, der grenzüberschreitendes Interesse aufweist, nicht entsprechend der europäischen Vorgaben vergeben, so handelt er vergabewidrig.
In einem Zuwendungsrechts-Verhältnis, in dem der Zuwendungsempfänger durch die Auflage zur Einhaltung des Vergaberechts verpflichtet wird, kann die Vergabewidrigkeit zur Folge haben, das ein Auflagenverstoß vorliegt, der zu einer Rückforderung der Zuwendung führt.
Aber auch außerhalb von zuwendungsrechtlichen Verhältnissen kann ein solcher Verstoß dazu führen, dass einem öffentlichen Auftraggeber die wirtschaftliche Verwendung der Haushaltsmittel abgesprochen wird oder er seitens der am Vergabeverfahren beteiligten Bieter mit Unterlassungs- und Schadenersatzansprüchen konfrontiert wird.
Weil sich öffentliche Auftraggeber und Zuwendungsempfänger der Risiken oftmals nicht bewusst sind, gilt es umso mehr die europäischen Vorgaben zu Aufträgen mit Binnenmarktrelevanz bzw. grenzüberschreitendem Interesse umzusetzen und Risiken zu vermeiden.
I. Kriterien für das Vorliegen von Binnenmarktrelevanz
Wann ein grenzüberscheitendes Interesse vorliegt, ist gesetzlich nicht geregelt. Es findet sich keine Legaldefinition, unter welchen Voraussetzungen ein öffentlicher Auftrag grenzüberschreitenden Charakter aufweist. Entwickelt wurden die Grundsätze zur Binnenmarktrelevanz durch die Rechtsprechung, darüber hinaus existieren Mitteilungen der europäischen Kommission, die sich mit der Binnenmarktrelevanz öffentlicher Auftragsvergaben im unterschwelligen Bereich befasst haben.
1. Rechtsprechung
In der Rechtsprechung ist zu erkennen, dass das Vorliegen des grenzüberschreitenden Interesses jeweils im konkreten Einzelfall zu prüfen ist und keine allgemein gültigen Kriterien aufgestellt werden können. Es ist daher auf den konkret zu vergebenden öffentlichen Auftrag abzustellen. Hier haben sich aber bereits unterschiedliche Kriterien herauskristallisiert, die jedoch keinesfalls als abschließend anzusehen sind.
Ein wichtiges Indiz für die Binnenmarktrelevanz eines Auftrags ist die örtliche Nähe zu anderen EU-Mitgliedstaaten. Je näher der Standort, an dem die zu erbringende Leistung vergeben wird, am anderen Mitgliedstaat gelegen ist, desto mehr spricht für ein grenzüberschreitendes Interesse.
Ein weiteres Indiz kann die Art der zu vergebenden Leistung sein. Wenn die Leistung international ausgelegt, das heißt, nicht nationalen Gepflogenheiten folgt, beispielswiese nicht die deutsche Sprache essentiell voraussetzt oder Kenntnisse im deutschen Recht gefordert sind, dann wird einiges für ein grenzüberschreitendes Interesse sprechen. Regelmäßig wird daher bei IT-Leistungen eine Binnenmarktrelevanz anzunehmen sein, weil diese in den seltensten Fällen national ausgerichtet sind, sondern problemlos von anderen europäischen Unternehmern erbracht werden können.
Darüber hinaus kann der geschätzte Auftragswert einen wichtigen Aspekt in der Beurteilung einer Auftragsvergabe als binnenmarktrelevant darstellen. Zwar können natürlich keine fixen Grenzen festgesetzt werden. Das verbietet die Zweiteilung in unterschwelliges und oberschwelliges Vergaberecht durch die entsprechenden EU-Schwellenwerte. Jedoch wird man sagen können, je höher der geschätzte Auftragswert ausfällt, desto eher wird ein Auftrag das Interesse anderer EU-Mitgliedsstaaten wecken. Denn Zeit- und Kostenaufwand werden sich mit steigenden Auftragswerten amortisieren.
2. Mitteilung der Europäischen Kommission zu Auslegungsfragen in Bezug auf Gemeinschaftsrecht, das für die Vergabe öffentlicher Aufträge gilt, die nicht unter die Vergaberichtlinien fallen (2006/C 179/02).
Die genannte Mitteilung der Europäischen Kommission greift die Rechtsprechung auf, zeigt ihr Verständnis und Verfahren auf, um den Binnenmarkt im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergaben insbesondere im unterschwelligen Bereich bestmöglich zu beteiligen.
In diesem Zuge wird in der Mitteilung ausgeführt, welche Anforderung an die Bekanntmachung, die Auftragsvergabe und den Rechtsschutz zu stellen sind. Jedoch wird teilweise offen gelassen, wie Vergabeverfahren mit Binnenmarktrelevanz konkret in der nationalen Praxis ausgestaltet sein müssen.
Hinsichtlich der Binnenmarktrelevanz sind auch nach der Mitteilung abhängig vom konkreten Einzelfall unterschiedliche Kriterien zur Bewertung heranzuziehen. Hier werden Auftragsgegenstand, geschätzter Auftragswert, Besonderheiten der betroffenen Branche, Größe und Struktur des konkreten Marktes sowie wirtschaftliche Gepflogenheiten genannt.
II. Folgen des Vorliegens von Binnenmarktrelevanz
Wenn die Prüfung eines Auftraggebers anhand der Kriterien ergibt, dass ein öffentlicher Auftrag grenzüberschreitendes Interesse hat, dann stellt sich die Frage, welche Vorgaben vergaberechtlich zu beachten sind.
Auf der einen Seite darf wegen des Unterschreitens der EU-Schwellenwerte ein nationales Vergabeverfahren durchgeführt werden. Auf der anderen Seite müssen wegen der Binnenmarktrelevanz erhöhte europäische Vorgaben eingehalten werden.
Der EuGH sowie die Europäische Kommission gehen davon aus, dass zwar wegen der Unterschreitung der EU-Schwellenwerte keine der Vergaberichtlinien Anwendung findet, jedoch für öffentliche Auftraggeber dennoch das europäische Primärrecht gilt. Da hierunter auch die EU-Grundfreiheiten und die EU-Grundsätze fallen, sind diese zu beachten und einzuhalten. Umfasst sind der freie Warenverkehr, die Niederlassungsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit und die Grundsätze der Nichtdiskriminierung, Gleichbehandlung, Transparenz, Verhältnismäßigkeit und der gegenseitigen Anerkennung.
Aus diesen Grundsätzen und Grundfreiheiten folgen für unterschwellige Auftragsvergaben im Verhältnis zum nationalen Vergabeverfahren Abweichungen für die Bekanntmachung, die Auftragsvergabe sowie den Rechtsschutz.
Hinsichtlich der Bekanntmachung bedeutet dies, dass andere EU-Mitgliedstaaten die Möglichkeit erhalten müssen, Kenntnis vom öffentlichen Auftrag zu erlangen, damit sie am Wettbewerb teilnehmen können.
Auch die Auftragsvergabe muss gleichberechtigt, nichtdiskriminierend und transparent sein. Das bedeutet insbesondere, dass Produktneutralität, gleiche, angemessene Fristen sowie durchgängig transparente Bedingungen für alle Teilnehmer herrschen müssen. Auf diese Weise erhalten auch die Interessenten aus anderen EU-Mitgliedstaaten eine gleichberechtigte Chance, am Wettbewerb teilzunehmen.
Damit diese erhöhten Vorgaben bei Auftragsvergaben mit Binnenmarktrelevanz nicht leer laufen, müssen konsequenterweise entsprechende Rechtsschutzmöglichkeiten für die Bieter vorhanden sein, die ihre Rechte geltend machen wollen. Die Möglichkeit eines Nachprüfungsverfahrens besteht jedoch nur für Auftragsvergaben, die unter die Vergaberichtlinien fallen, da hier die EU-Schwellenwerte überschritten werden. Eine Übertragung dieser Rechtsschutzmöglichkeiten scheidet daher nicht zuletzt wegen fehlender Analogiemöglichkeit mangels planwidriger Regelungslücken aus.
Dennoch muss ein effektiver gerichtlicher Schutz der sich aus der Gemeinschaftsordnung ergebenden Rechte möglich sein. Die Mitteilung der Europäischen Kommission legt jedoch nicht konkret fest, wie der Rechtsschutz ausgestaltet sein muss, sondern überlässt dies augenscheinlich den Mitgliedstaaten.
III. Praktische Umsetzung
In der Theorie lesen sich diese Grundsätze verständlich. Die Frage ist jedoch, wie diese Grundsätze beispielsweise bei einem nationalen Vergabeverfahren wie der Beschränkten Ausschreibung oder Freihändigen Vergabe praktisch anzuwenden sind, wenn der öffentliche Auftrag grenzüberschreitendes Interesse hat.
1. Grundsätzlich dürfte ein Auftraggeber bei der Freihändigen Vergabe und der Beschränkten Ausschreibung drei geeignete Unternehmen zur Abgabe von Vergleichsangeboten auffordern, mit ihnen bei ersterer sogar verhandeln, um dann das wirtschaftlichste Angebot zu bezuschlagen.
Da aus den EU-Grundfreiheiten und europäischen Grundsätzen jedoch zwecks Transparenz eine Pflicht zur Schaffung von Wettbewerb im EU-Binnenmarkt besteht, wird man bereits an dieser Stelle sagen müssen, dass sowohl bei einer Freihändigen Vergabe als auch einer Beschränkten Ausschreibung eine öffentliche Bekanntmachung des Auftrags erforderlich sein wird. Das bedeutet, beiden Vergabearten müsste zumindest ein öffentlicher Wettbewerb vorausgehen. Insoweit wäre es nach Ansicht des Verfassers unzulässig, nur eine begrenzte Anzahl von Unternehmen zur Angebotsabgabe aufzufordern, wie es für das nationale Recht genügt. Die mit der Möglichkeit der Verhandlung einhergehende Flexibilität bei der Freihändigen Vergabe wird zumindest teilweise wieder eingeschränkt.
An dieser Stelle ist in der Mitteilung aufgeführt, dass angemessene und gängige Veröffentlichungsmedien zum Beispiel das Internet, nationale Amts- und Ausschreibungsblätter, Zeitungen, Publikationen sowie lokale Medien sind. Demgegenüber wird darauf hingewiesen, dass eine Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union bzw. der TED-Datenbank nicht verpflichtend ist. An dieser Stelle wird durch einen Auftraggeber folglich nichts falsch gemacht, wenn er eine Bekanntmachung entsprechend den nationalen Erfordernissen der VOL/A bzw. VOB/A veröffentlicht.
Wenn infolge der Bekanntmachung eine Vielzahl von Teilnehmern ihr Interesse am Auftrag bekundet, dann wird der Auftraggeber, soweit er anhand der bekanntgemachten Eignungskriterien keine Vorauswahl ermöglicht hat, sämtliche interessierten Teilnehmer zur Abgabe eines Angebots auffordern müssen. Nach Ansicht der Europäischen Kommission ist das Kontaktieren einer bestimmten Anzahl potentieller Bieter nicht ausreichend, selbst wenn der Auftraggeber auch Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten zur Angebotsabgabe auffordert.
2. In Bezug auf die Wertung der Angebote und den Zuschlag ergeben sich nach Ansicht des Verfassers keine wesentlichen Abweichungen im Vergleich zu einem nationalen Vergabeverfahren. Wenn die Vorgaben des nationalen Vergaberechts zur Prüfung und Wertung der Angebote eingehalten werden, dürfte ein Auftraggeber auf der sicheren Seite sein. Denn diese dürften um einiges konkreter sein als die Grundsätze, die aus den EU-Verträgen und EU-Grundfreiheiten abgeleitet werden.
3. Sollte im Übrigen national eine öffentliche Ausschreibung oder eine Beschränkte Ausschreibung mit öffentlichem Teilnahmewettbewerb als Vergabeart zulässig sein, so dürften sich bei Vorliegen eines grenzüberschreitenden Interesses keine Abweichungen ergeben, soweit das Vergabeverfahren entsprechend dem nationalen Recht ordnungsgemäß durchgeführt wurde. Denn der wesentlichste Unterschied, nämlich die Bekanntmachung, erfolgt bei diesen Vergabearten ohnehin. Außerdem werden durch die Einhaltung des nationalen Vergaberechts gleichzeitig die Vorgaben des europäischen Primärrechts in den übrigen Stufen des Vergabeverfahrens wie Prüfung und Wertung der Angebote sowie Zuschlagsentscheidung beachtet.
IV. Rechtliche Beurteilung
Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass bei Vorliegen eines grenzüberschreitenden Interesses im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe entsprechend der Rechtsprechung und Mitteilung der Europäischen Kommission zumindest bei einfachen Beschränkten Ausschreibung und Freihändigen Vergabe eine abgewandelte Form der Vergabeverfahren, sozusagen eine Vergabeart sui generis, durchzuführen sein wird, die insbesondere eine erhöhte Transparenz beinhalten muss.
Zweifelhaft bleibt nach Ansicht des Verfassers, ob die europäischen Vorgaben zu öffentlichen Auftragsvergaben mit Binnenmarktrelevanz im unterschwelligen Bereich konsequent sind.
Denn wenn sie so weit gehen und festlegen, dass Auftragsvergaben bei grenzüberschreitendem Interesse in einem Umfang bekannt zu machen sind, dass Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten transparent Kenntnis von den beabsichtigen Auftragsvergaben erlangen müssen, weil europäisches Primärrecht unabhängig von der Anwendbarkeit der Vergaberichtlinien gilt, dann wird zumindest eine Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union gefordert werden müssen. Man darf bezweifeln, dass ein Bieter aus dem angrenzenden EU-Mitgliedstaat Bekanntmachungen auf nationaler bzw. sogar kommunaler Ebene zur Kenntnis nimmt, weil diese für „EU-binnenmarktrelevante“ Aufträge nicht die üblichen und gewöhnlichen Medien bzw. Informationsquellen darstellen.
Darüber hinaus macht es sich die Kommission nach Ansicht des Verfassers zu einfach damit, dass sie den Rechtsschutz bei Aufträgen mit grenzüberschreitendem Charakter den Mitgliedstaaten überlässt und dies damit begründet, dass diese effektiven Rechtsschutz für die Geltendmachung von Rechten aus der Gemeinschaftsordnung gewährleisten müssen. Auch an dieser Stelle müsste folgerichtig ein Rechtsschutz gewährt werden, der dem Rechtsschutz im oberschwelligen Bereich zumindest nahe kommt. Wenn wegen der Binnenmarktrelevanz erhöhte Anforderungen an die Vergabeverfahren in Form der Vorgaben des europäischen Primärrechts gesetzt werden, dann muss in ähnlicher Weise Rechtsschutz gewährt werden. Daher wäre es nicht abwegig, auch für diese Fälle die auf Vergaberecht spezialisierten Instanzen der Vergabekammern sowie der Oberlandesgerichte mit ihren Vergabesenaten als zweite Instanz zuzulassen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass Beschlüsse der Nachprüfungsinstanzen ordentliche Gerichte in Schadenersatzprozessen binden, die mit Vergaberecht wenig in Berührung kommen und dadurch kaum Entscheidungen auf diesem speziellen Gebiet treffen müssen.
Michael Pilarski
Der Autor Michael Pilarski ist als Volljurist bei der Investitions- und Förderbank des Landes Niedersachsen – NBank – in Hannover tätig. Als Prüfer, insbesondere der Vergaberechtsstelle, lag sein Schwerpunkt mehrere Jahre in den Bereichen Zuwendungs- und Vergaberecht. Er hat die Einhaltung des Zuwendungs- und Vergaberechts durch private und öffentliche Auftraggeber, die Förderungen aus öffentlichen Mitteln erhalten, geprüft und Zuwendungsempfänger bei zuwendungs- und vergaberechtlichen Fragestellungen begleitet. Nunmehr ist er in der Rechtsabteilung der NBank in den Bereichen Vergabe-, Vertrags- sowie Auslagerungsmanagement beschäftigt. Darüber hinaus sitzt er der Vergabekammer Niedersachsen beim Niedersächsischen Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr in Lüneburg bei, ist zugelassener Rechtsanwalt und übernimmt Referententätigkeiten sowie Schulungen im Zuwendungs- und Vergaberecht.
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