Die Vergabepraxis der deutschen Städte und Kommunen von Rettungsdienstleitungen ist ein heiß diskutiertes Thema, politisch und juristisch (siehe auch Beitrag des Autors vom 29.11.2009). Noch in diesem Jahr sind zwei Urteile des EuGH zu diesem Thema zu erwarten. Seit dem 11. Februar 2010 liegen nun die Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak in einem Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland vor (Rs. C-160/08). Der Autor hat die Schlussanträge für Vergabeblog näher betrachtet. Mit einer Entscheidung des EuGH ist in den nächsten sechs Monaten zu rechnen.
Die Ausgangssituation – nicht ausgeschriebene Rettungsdienste
Wir erinnern uns: Die Kommission beanstandete die Vergabe von Dienstleistungsaufträgen im Bereich des öffentlichen Rettungsdienstes in den Bundesländern Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, in denen durchgehend das Submissionsmodell angewendet wird. Die Kommission rügte insbesondere, dass in diesen Bundesländern den Vergaberichtlinien unterfallende Aufträge im Bereich des öffentlichen Rettungsdienstes in der Regel nicht ausgeschrieben und nicht transparent vergeben worden seien.
Die Generalanwältin empfiehlt dem EuGH festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen die (nachträgliche) Mitteilungspflicht verstoßen hat. Ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot und das Transparenzgebot bejaht die Generalanwältin allerdings nicht, so dass aus ihrer Sicht die Klage der Kommission nur teilweise begründet ist.
Die Rettungsdienstverbände dürfen allerdings nicht durchatmen. Denn das Ergebnis der Generalanwältin folgt einer komplizierten rechtlichen Würdigung, welche den Leser in die Tiefen des Prozessrechts der Vertragsverletzungsklage führt: Die Generalanwältin gelangte zu ihrem Ergebnis nicht etwa, da sie der Überzeugung war, dass die Aufträge nicht hätten ausgeschrieben werden müssen – mit dieser Frage befasste sie sich gar nicht –, sondern aus rein rechtsdogmatischen und beweisrechtlichen Bedenken.
Die Schlussanträge – juristische Achterbahn
Nachfolgend sei der Versuch gewagt, den prozessualen Hintergrund der ungewöhnlich langen und komplexen Schlussanträge (kurz!) eingängig zu machen: Rettungsdienstleistungen umfassen in der Regel sowohl Verkehrsdienstleistungen als auch die medizinische Versorgung. Ersteres sind sog. nachrangige Leistungen, letzteres sog. vorrangige Leistungen. Die Unterscheidung ist wichtig, da nur vorrangige Leistungen vollständig unter die Vergaberichtlinien fallen.
Die Kommission hatte in ihrer mit „Gründen versehenen Stellungnahme“ (das entspricht in etwa der Abmahnung vor der eigentlichen Klage) dargelegt, dass der Schwerpunkt der streitgegenständlichen Aufträge auf einer vorrangigen Leistung liege, so dass gegen die Vergaberichtlinie verstoßen worden sei. In ihrer Klage änderte die Kommission dann ihre Argumentation dahin, dass es dahingestellt bleiben könne, wo der Schwerpunkt des Auftrags liege, da auf jeden Fall entweder gegen die Vergaberichtlinien oder gegen den primärrechtlichen Grundsatz der Nichtdiskriminierung und Transparenz verstoßen worden sei. Anders gewendet: Die Aufträge hätten – so oder so – auf jeden Fall europaweit ausgeschrieben werden müssen.
Die Generalanwältin sah hierin eine unzulässige Klageänderung: „Wie ich bereits im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung erörtert habe, ist die vorliegende Klage als unzulässig abzuweisen, soweit mit ihr die Feststellung beantragt wird, dass bei der Vergabe von Aufträgen über die Erbringung von Rettungsdienstleistungen, die schwerpunktmäßig den Personentransport betreffen, gegen das Diskriminierungsverbot und das Transparenzgebot, die sich aus der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit ergeben, verstoßen worden ist.“ (Tz. 91)
Aber selbst wenn, so die Generalanwältin, der EuGH die Zulässigkeit bejahen sollte, wäre die Klage jedenfalls teilweise unbegründet. An dieser Stelle führt uns die Generalanwältin in rechtsdogmatische Tiefen, die sich mit dem Verhältnis von Vollharmonisierung zum Primärrecht beschäftigen (und deren Wiedergabe den Leser nur erschöpfen würde). Letztlich geht es darum, dass die Kommission genau darzulegen hat, wogegen die Bundesrepublik verstoßen haben soll, damit diese auch genau weiß, wie sie den Fehler beheben kann. Die Kommission hatte es jedoch offen gelassen, ob ein Verstoß gegen die Vergaberichtlinien oder das Primärrecht vorliege. Dies reiche nicht aus, um eine Vertragsverletzung zu begründen, so die Generalanwältin, da das Vertragsverletzungsverfahren keinen bloßen Strafcharakter habe (Tz. 113). Gerade bei den nachrangigen Dienstleistungen hätte die Kommission ein grenzüberschreitendes Interesse nachweisen müssen, dies habe sie aber nicht (Tz. 119, 121).
Nachgewiesen habe die Kommission jedoch hinreichend, dass die jeweiligen Städte und Gemeinden ihrer Meldepflicht nicht nachgekommen seien. Hier bestand deshalb kein Zulässigkeitsproblem, da die entsprechenden Vorschriften der Vergaberichtlinien gleichermaßen auf vorrangige und nachrangige Dienstleistungen Anwendung finden (Tz. 90).
Wie wird der EuGH entscheiden?
Man weiß es nicht. Ob sich der EuGH auf die Dogmatik der Generalanwältin einläßt, erscheint diesmal allerdings fraglich (in ca. 80 % der Fälle folgt der EuGH den Schlussanträgen). Das Urteil darf daher durchaus mit Spannung erwartet werden. Dies gilt auch hinsichtlich der Ausführungen der Generalanwältin zu Art. 45 Abs. 1 EG: Nach Art. 45 Abs. 1 EG gilt der EG-Vertrag (und damit die Vergaberichtlinien und das Vergaberecht) nicht, wenn mit der Auftragsvergabe dem Auftragnehmer die „Ausübung öffentlicher Gewalt“ übertragen wird. Der Rettungsdienst sei, so die Generalanwältin, nicht mit der „Ausübung öffentlicher Gewalt“ verbunden, dies folge aus der engen Auslegung dieses Begriffs durch den EuGH.
Vor einem Jahr hätte ich dem noch zugestimmt. Allerdings sind in der jüngsten Rechtsprechung des EuGH Tendenzen erkennbar, den Anwendungsbereich des Vergaberechts wieder etwas zurück zu fahren (etwa Rs. C-480/06 – Interkommunale Zusammenarbeit). Im Sinne dieser neuen Linie könnte der EuGH auch Art. 45 Abs. 1 EG großzügiger lesen als zuvor. Freilich wäre die Konsequenz für deutsche Auftraggeber zunächst gering, da der BGH unlängst entschieden hat, dass es für eine wirksame Ausnahme von Rettungsdienstleistungen einer ausdrücklichen Umsetzung in § 100 Abs. 2 GWB bedurft hätte (Beschluss vom 1. Dezember 2008 – X ZB 31/08).
Was bedeuten die Schlussanträge für die Praxis?
Wenig. Die Schlussanträge mögen für den eingefleischten Europarechtler prozessual durchaus interessant sein, in der Sache bringen sie jedoch kaum Licht in den Diskussionsnebel.
Allerdings sei eine interessante Anmerkung der Kommission hervorzuheben: Die Kommission wies die Bundesrepublik als vergaberechtskonforme Alternative darauf hin, dass die Möglichkeit einer Ausschreibung gegeben wäre, bei der die Verfügbarkeit vor Ort als Auswahlkriterium berücksichtigt würde. Die Verfügbarkeit vor Ort als Zuschlagskriterium macht auch aus meiner Sicht im Rettungsdienstbereich absolut Sinn. Die Generalanwältin hat hierzu aber nichts gesagt und auch der EuGH wird sich daher hierzu nicht äußern. Insofern sei auch an dieser Stelle vor schnellen (Fehl-) Schüssen gewarnt, wie es etwa in der Pressemitteilung der SPD-Regionsfraktion Hannover vom 26.02.2010 „Rettungsdienst: Bewährte Strukturen erhalten!“ geschah.
Die Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak im Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland (Rs. C-160/08) finden Sie hier.
Roderic Ortner ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Vergaberecht sowie Fachanwalt für IT-Recht. Er ist Partner in der Sozietät BHO Legal in Köln und München. Roderic Ortner ist spezialisiert auf das Vergabe-, IT und Beihilferecht und berät hierin die Auftraggeber- und Bieterseite. Er ist Autor zahlreicher Fachbeiträge zum Vergabe- und IT-Recht und hat bereits eine Vielzahl von Schulungen durchgeführt.
Lieber Hr Dr. Ortner,
könnten Sie mir bitte die Quelle folgenden Auszugs aus Ihrem Kommentars zum Thema „Rettungsdienste“ nennen:
„Die Kommission wies die Bundesrepublik als vergaberechtskonforme Alternative darauf hin, dass die Möglichkeit einer Ausschreibung gegeben wäre, bei der die Verfügbarkeit vor Ort als Auswahlkriterium berücksichtigt würde.“
Vielen Dank,
Fr. Dahns
Gerne: Dies finden Sie etwas „versteckt“ in Randnummer 83 der Schlussanträge der GA Trstenjak vom 11.02.2010. Siehe
http://curia.europa.eu/jurisp/cgi-bin/form.pl?lang=de&newform=newform&Submit=Suchen&alljur=alljur&jurcdj=jurcdj&jurtpi=jurtpi&jurtfp=jurtfp&alldocrec=alldocrec&docj=docj&docor=docor&docop=docop&docav=docav&docsom=docsom&docinf=docinf&alldocnorec=alldocnorec&docnoj=docnoj&docnoor=docnoor&radtypeord=on&typeord=ALL&docnodecision=docnodecision&allcommjo=allcommjo&affint=affint&affclose=affclose&numaff=C-160%2F08&ddatefs=&mdatefs=&ydatefs=&ddatefe=&mdatefe=&ydatefe=&nomusuel=&domaine=&mots=&resmax=100
Gruß
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