Es war spannend zu sehen, wie die Vergabekammern mit der Forderung des EuGH umgehen werden, wonach vergaberechtliche Ausschlussfristen „hinreichend genau, klar und vorhersehbar“ sein müssen. Zumal der EuGH mit dieser Forderung eine britische Norm für europarechtswidrig erklärt hatte, nach der die Einleitung eines (Nachprüfungs-) Verfahrens nur dann zulässig ist, wenn „das Verfahren unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von drei Monaten … eingeleitet wird“ (EuGH, Urteil vom 28.10.2010 – Rs. C-406/08). Immerhin ist die Entscheidung auf eine Schlüsselvorschrift des deutschen Vergaberechts übertragbar – und zwar auf § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB, der eine „unverzügliche“ Rüge verlangt.
Das sieht die Vergabekammer des Bundes (VK Bund, Beschluss v. 5.3.2010 – VK 1-16/10) in einer aktuellen Entscheidung jedoch gründlich anders.
Nach § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB ist ein Nachprüfungsantrag nur dann zulässig, wenn der Antragsteller den Verstoß „unverzüglich“ nach Kenntniserlangung gerügt hat. Das Spektrum der Entscheidungen zum Tatbestandsmerkmal der Unverzüglichkeit reicht dabei von 1 bis 14 Tagen.
§ 107 GWB
[…]
(3) Der Antrag ist unzulässig, soweit
1. der Antragsteller den gerügten Verstoß gegen Vergabevorschriften im Vergabeverfahren erkannt und gegenüber dem Auftraggeber nicht unverzüglich gerügt hat,
[…]
Im Hinblick darauf ist eine hinreichend genaue, klare und vorhersehbare Bestimmung der Rügefrist für die Bieter allerdings nicht möglich. Vielmehr wird die Bewertung der „Unverzüglichkeit“ in das Ermessen der Vergabekammern und Vergabesenate gestellt. Dies ist mit der vom EuGH geforderten Rechtssicherheit jedoch nicht in Einklang zu bringen.
Dies sieht die VK Bund anders: Danach widerspräche § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB nicht dem europäischen Gemeinschaftsrecht. Anders als die britische Regelung würde § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB nicht die Ausschlussfrist für das Nachprüfungsverfahren regeln, sondern nur die Anforderungen an die Rügeobliegenheit als Zulässigkeitsvoraussetzung für einen Nachprüfungsantrag. Im Übrigen sei der Begriff der Unverzüglichkeit im deutschen Recht durch die Definition in § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB („ohne schuldhaftes Zögern“) und aufgrund einer ausgeprägten Rechtsprechung weitergehend konkretisiert worden.
Fazit für die Vergaberechtspraxis: Es wäre im Interesse der Vergabestellen und der Bieter, wenn im Rahmen der Vergaberechtsreform 2.0 der unbestimmte Rechtsbegriff der „unverzüglichen“ Rüge endlich konkretisiert würde. In Anlehnung an die Fristenregelung des § 101 a Abs. 1, Satz 4 GWB wäre zum Beispiel eine Rügefrist von 10 Kalendertagen denkbar. Damit würden auch diejenigen Fälle erfasst, in denen die Abfassung der Rüge durch eine schwierige Sach- und Rechtslage erschwert wird.
Solange der Gesetzgeber nicht aktiv geworden ist, sollten die Bieter jedoch weiterhin von einer Rügefrist von maximal drei Tagen ausgehen. Von Ausnahmen abgesehen sind die Bieter damit auf der sicheren Seite. Andererseits ist den Vergabestellen vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH zu empfehlen, in der Vergabebekanntmachung eine angemessene, konkret bestimmte Rügefrist aufzunehmen.
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Dr. Christian-David Wagner ist Rechtsanwalt in Leipzig und Berlin. Er betreut national und international agierende TK-Unternehmen, IT-Dienstleister, aber auch Bauunternehmen sowie öffentliche Auftraggeber.
Es ist zwar noch nicht offiziell, aber der Vergabesenat des OLG München hat im Rahmen einer mündlichen Verhandlung am 12.4.2010, wo ich den Beschwerdegegner vertrat, bekundet, dass er der Auffassung zuneige, dass die Rügefrist eine Art Vorlauf des Nachprüfungsverfahrens sei und deshalb die Rspr. des EuGH auch auf das deutsche GWB zu übertragen sei. Dem ist zuzustimmen, die Entscheidung VK Bund ist bislang Mindermeinung und wird es wohl auch bleiben.