VK Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20.04.2010 – VK 2-7/10;
VK Hamburg, Beschluss vom 07.04.2010 – VK BSU 2/10
Einige Vergabekammern der Länder widersprechen der VK Bund (Beschl. v. 05.03.2010, VK 1-16/10), die jüngst entschieden hatte, dass die Anforderung an die Bieter, Rügen „unverzüglich“ zu erheben, mit dem Europarecht vereinbar ist (siehe auch den Beitrag dazu im Vergabeblog). Sie sind der Auffassung, dass die deutsche Bestimmung des § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB unangewendet bleiben müsse, und berufen sich dabei auf die EuGH-Rechtsprechung vom Januar diesen Jahres (Rs. C-406/08 und C-456/08). Dabei wird die mangelnde Übertragbarkeit dieser Entscheidungen auf die deutschen Rechtsverhältnisse übersehen. Sowohl die englischen und irischen Umsetzungsvorschriften als auch die Rechtssysteme (Einzelfall-Recht dort, System des geschriebenen Rechts hier) sind völlig unterschiedlich. Deshalb handelt es sich um einen Trugschluss.
Die Unterschiede beginnen bereits bei dem System der Vorabinformation über den Zuschlag. In England bzw. Irland, und damit in den entschiedenen Fällen, ist ein gestuftes Vorabinformation vorgesehen, bei dem der Bieter ggf. weitere Informationen erst anfordern muss (worüber er zu belehren ist). Wann bei einer solchen Rechtslage die dortige 3-Monats-Frist für die Erhebung der Klage vor dem High Court beginnen soll, ist unklar, und daher mit Recht vom EuGH beanstandet worden. Diese Beanstandung ist im Ergebnis wenig überraschend, und schon gar nicht spektakulär. In dem irischen Fall, der eine Schadensersatz-Konstellation (!) betraf, war der betreffende Bieter nie über die abschließende Zuschlagserteilung informiert worden. Wie schon diese beiden Ausgangssituationen mit der deutschen Rechtslage vergleichbar sein sollen, ist nicht nachvollziehbar.
Mehr noch: sowohl die englische als auch die irische Regelung knüpfen für den Beginn der 3-Monats-Frist, binnen derer Klage vor dem High Court zu erheben ist, an die objektive Tatsachenlage, nämlich an das objektive Entstehen des Grundes für die Klage, an. Im europarechtlichen Vergabe- und Nachprüfungswesen geht es jedoch um subjektive Bieterrechte, die auf subjektiver Kenntnis und subjektiver Beschwer beruhen. Das darf nicht miteinander verwechselt werden.
Die vom Gerichtshof monierte englische Regelung sieht die Einleitung eines Gerichtsverfahrens „unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von drei Monaten nach dem erstmaligen Eintreten eines Grundes für die Einleitung des Verfahrens“ vor (Regulation 47(7)(b) der zur Umsetzung der Richtlinie 89/665 in innerstaatliches Recht erlassenen Verordnung über die öffentlichen Aufträge von 2006 – Public Contracts Regulations 2006). Das Abstellen auf das objektive Eintreten des Grundes kollidiert bei der englischen Vorschriftenlage mit der subjektiven Kenntniserlangung und dem subjektiven Rechtsschutz des Bieters.
Geht es also dem EuGH darum, die Unklarheiten der englischen (und parallel auch der irischen) Regelung, welche die Frist für die Einreichung des Nachprüfungsantrages nicht eindeutig bestimmen, als europarechtswidrig anzuprangern, so unterscheidet sich dies maßgeblich von der Frage der unverzüglichen Rügepflicht, deren Erfüllung als Vorstufe für ein Nachprüfungsverfahren erforderlich ist. Eine Sichtweise, die eine direkte Gleichstellung vornimmt
– zwischen Fristen der Klageeinreichung
– und der Rüge in einem Vorverfahren, das in zentralen Bieter-Obliegenheitspflichten wurzelt, und das dem öffentlichen Auftraggeber im Sinne einer Befriedungsfunktion die vielzitierte „letzte“ Chance zur Abhilfe und Klagevermeidung geben soll,
ist in ersichtlichem Maße nicht sachgerecht. Weder bei formaler Betrachtung, noch von ihrer Funktion her können Rügeverfahren bzw. -fristen einerseits und Nachprüfungsverfahren bzw. Klagefristen andererseits gleichgesetzt werden. Es stehen sich die Formalität der Klageerhebung und die Befriedungsfunktion der Rüge gegenüber. Das ist nicht miteinander zu vergleichen, und wird vom EuGH auch gar nicht in dieser Weise thematisiert (so zutreffend auch Jasper/Neven-Daroussis, Unverzüglich auf britisch und irisch, Behörden Spiegel, März 2010, S. 20).
Die Entscheidung des EuGH ist auch deshalb nicht auf die Rechtslage in Deutschland übertragbar, weil der Begriff der Unverzüglichkeit im deutschen Recht – anders als im englischen – legaldefiniert ist. Hier entscheidet eben nicht das freie Einzelfallermessen des Richters, wie es im Case-Law-System der Fall ist.
Die Beschlüsse der Vergabekammern dokumentieren eine nicht gänzlich neue Überinterpretation der EuGH-Rechtsprechung, wie sie beispielsweise im Zusammenhang mit den Grundstücksverkäufen (sog. „Ahlhorn-Rechtsprechung“ und EuGH-Rechtsprechung „Teatro Biacocca“) vorgekommen ist und jüngst zu Recht korrigiert wurde. Hat man in den 1990er Jahren EuGH-Urteile – etwa in damaliger Vermeidung der Anerkennung subjektiver Bieterrechte – unterinterpretiert, so neigt man in neuerer Zeit dazu, sie überzuinterpretieren, also über das Ziel hinauszuschießen.
Fazit an dieser Stelle: Vorsicht vor einem Trugschluss!
Gibt es überhaupt Alternativen?
Was ist mit dem vielzitierten „Ruf nach dem Gesetzgeber“?
Die Einführung einer starren Obergrenze von z.B. 14 Kalendertagen für die (noch) unverzügliche Rüge ist jedenfalls keine Lösung. Eine große Zahl von völlig ungleichen Fällen (ersichtliche und weniger ersichtliche Fehler, rechtliche Kenntnisse des Bieters, Organisationsstruktur des Bieters, Einschaltung eines Rechtsanwaltes usw.) würde gleich behandelt, was per se fraglich ist. Des Weiteren würde jedoch, was noch gravierender ist, massiv gegen das Beschleunigungsprinzip sowohl des GWB als auch der Rechtsmittelrichtlinie verstoßen.
Beispiel: Könnte sich der Bieter auch mit einfachsten Rügesachverhalten ganze 14 Tage Zeit lassen, so wäre dem öffentlichen Auftraggeber zunächst eine Reaktionszeit zuzubilligen. Geht man angesichts notwendiger Abstimmungsprozesse oder infolge von Wochenenden und Feiertagen einmal von 6 Tagen aus, so wären in der Summe bereits 20 Tage verstrichen. Dann würde die Versendung des Nichtabhilfebescheides erfolgen, mit der Konsequenz, dass nochmals bis zu 15 Kalendertage nach dem Tag der Absendung verstreichen könnten, bis der Bieter sich entschließen müsste, die Vergabekammer anzurufen, um seine Rechte nicht zu verlieren. Das macht in der Summe bereits 35 Tage aus. Dies wäre dann kurioserweise auch derjenige Zeitraum, in dem nach den Vorschriften des GWB das gesamte Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer schon abgeschlossen sein müsste (nämlich fünf Wochen)!
Daher stellen gesetzgeberische Maßnahmen im Sinne einer Höchstgrenze von 14 Kalendertagen für die Rüge keine gangbare Alternative dar.
Mehr Informationen über den Autor Dr. Rainer Noch finden Sie im Autorenverzeichnis.
Dr. Rainer Noch
Der Autor, Dr. Rainer Noch, ist Rechtsanwalt bei Böck Oppler Hering, München. Er berät und vertritt insbesondere öffentliche Auftraggeber, aber auch Bieter und Verbände, in allen Fragen des Ausschreibungsrechts, speziell auch im Dienstleistungsbereich. Mehr Informationen finden Sie in unserem Autorenverzeichnis.
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